Als wir zu fünft das Hostel verlassen, ist es halb drei Uhr in der früh. Noch sind die drei Chinesinnen und wir beiden Kulturweit-Freiwilligen fit und munter, etwas aufgedreht vielleicht, weil es so seltsam war, kurz nach Mitternacht die Wanderschuhe zu schnüren. Dem schnellen Schritt der Chinesinnen hinterher stürmen wir aus dem Hostel durch die Pilgerstadt Tai’an im Eiltempo. In der Hand die große LED-Taschenlampe, auf dem Rücken das langsam erfrierende Frühstückspicknick.
Doch nach den ersten paar tausend Treppenstufen kommen die ersten Zweifel auf. Wie gemütlich wäre jetzt ein warmes Hostelbett, wie schön eine heiße Dusche und warum tue ich mir das an? Es gilt, die Zähne zusammenzubeißen, keinen Blick auf die weit entfernten Lichtflecken zu verlieren, die wohl am Ende der „Treppe mit den 18 Wendungen“ liegen müssen. Das frühe Aufstehen, die Anstrengung zur gewöhnlichen Zeit des Tiefschlafes, das ist der Körper nicht gewohnt. Doch die Zeit drängt.
Im Vollmondschein passieren wir zugefrorene Wasserfälle, Treppe um Treppe, und Verkäufer auf 1000m Höhe, die selbst zu dieser Uhrzeit vor ihren Zelten wachen, um uns ihre Souvenirs anzudrehen. Ich kann es nicht fassen. Das Wasser gefriert in unseren Rücksäcken – und Fruchteis aus den Mandarinen haben wir jetzt auch.
Es ist 6:30 Uhr, als wir unsere Schals noch einmal etwas enger vor Mund und Nase binden, bevor wir das Hochplateau besteigen. Unter uns leuchten die Straßenbeleuchtungen Tai’ans, wo wir im Dunkel unser gemütliches Hostel erahnen können. Dort ist es dunkel, die anderen Gäste schlafen wohl noch. Doch, bis zum Sonnenaufgangs-Gipfel kann es nicht mehr weit sein.
Auf dem Gipfel des Tai Shan nimmt uns ein eisiger Wind sofort in seine Klauen. Es ist bitterkalt. Lange halten wir es nicht aus, die Hände werden kalt, und weitere Treppenstufen zum warmwerden gibt es nicht mehr. Uns begegnet ein Gelbmützenmönch aus der Tempelanlage auf dem Berg auf seinem Morgenspaziergang.
Dann ist es soweit. Majestätisch schiebt sich die Sonne über den Dunst, der glühende Ball scheint sich einige Sekunden auf dem Wolken- und Dunstbett auszuruhen, ehe er sich endlich aufmacht die finstere Nacht zu verdrängen. Es bleibt nur kurz Zeit, um einige Gipfelfotos zu schießen, bis auch die Kameraakkus vor Kälte versagen. Freiwillig verzichten wir auf das bitterkalte Gipfelfrühstück und verlegen es auf den Abstieg. Dieser wird der schönste Teil unserer Wanderung – ja, Morgenstund hat Gold im Mund – und zum ersten Mal können wir den Berg in seiner ganzen Größe bestaunen. Eine halbe Stunde nachdem wir das Hochplateau wieder verlassen haben, kehrt endlich das Gefühl in unsere Glieder zurück.
Zur ersten Rast gibt’s heißen Milchtee aus der Thermoskanne, die halbwegs aufgetauten Mandarinen und Schokolade, zur Zweiten eine Tüte Kekse und heißen Tee aus der zweiten Thermoskanne.Wir genießen den Abstieg in vollen Zügen, und auch die verwunderten Blicke der anderen Wanderer, die uns munteren Westlern, bewappnet mit der großen Taschenlampe, entgegenkommen.