Halbzeitwetter

ein angler fand dereinst nen wurm
bei fürchterlichem sturm.
der kroch vergnügt über die wiese,
erfreut über die brise.

Bald schon ist Halbzeit. Kinder, wie die Zeit vergeht! Da fehlen einem die Worte. Eine gute Halbzeit der Halbzeit nämlich ist es jetzt schon her, dass ich das letzte Mal etwas geschrieben habe. Mea culpa. Aber Dinge ändern sich. Und brauchen Zeit, manchmal auch mehr Zeit. Dann und wann sogar mehr Zeit, als ursprünglich veranschlagt. Wer hätte das gedacht, in Ägypten. Aber Spaß ist, wenn man trotzdem lacht. Obwohl es manchmal nur wenig zu lachen gibt. Subjektiv gesehen.

„Regen. Nichts als Regen.“ Mit diesem Satz begann ich vor etwas mehr als fünf Jahren meinen ersten Kriminalroman, der jedoch, wenig erfolgsversprechend, bereits auf Seite 2 endete. Mit diesem Satz könnte ich nun auch den Versuch beginnen, die Zeit zwischen dem 24. Dezember 2011 und dem 1. Februar 2012 zusammenfassend zu beschreiben. Mach ich aber nicht.

Während sich der Dezember insgesamt so präsentierte, wie man es von ihm in einem afrikanischen Land erwartet, beschloss der ägyptische Wetterdienst an Heiligabend, den nach Sonne und Wärme dürstenden Europäern einen Strich durch die Rechnung zu machen – ohne dabei in Betracht zu ziehen, dass Städte südlich des Mittelmeeres nicht für sintflutartige Regenfälle gewappnet und deren architektonische Meisterstücke nicht für nordskandinavische Sommertemperaturen ausgelegt sind. Nun wird der ein oder andere vielleicht sagen: „Was beschwert er sich denn, 18 bis 20 Grad und ab und an ein starker Regenfall sind doch, im Vergleich zum mitteleuropäischen Winter, ein absolutes Paradies, zumal er doch noch tönte, an Neujahr im Meer geschwommen zu sein“. So mag der unwissende Mitteleuropäer sprechen (wer will es ihm verdenken, ich gehörte ja selbst einmal dazu). Nun jedoch muss ich dem mit Vehemenz entgegnen, dass sich ebenjenes singuläre Schwimmerlebnis am Roten und nicht am Mittelmeer zutrug und sich lediglich auf einen Tag Urlaub beschränkte, die 18 bis 20 Grad eher die Ausnahme denn die Regel bildeten, sich 10 und auch 15 Grad in Ägypten anders, nämlich sehr viel kälter, anfühlen als in Deutschland und es sich ausschließlich dann auf zwei oder drei starke Regenfälle reduziert, wenn man mehrere aufeinanderfolgende Tage mit viel Regen zu einem zusammenrechnet. Aus all diesen Faktoren ergaben sich in besagtem Zeitraum die verschiedensten Resultate, die allerdings bei keinem der Beteiligten auf große Begeisterung stießen.

So standen beispielsweise diverse Straßen und Unterführungen dergestalt unter Wasser, dass an ein Passieren nicht oder nur mit dem nicht unerheblichen Risiko, seinem fahrbaren Untersatz erheblichen Schaden zuzufügen, zu denken war. Dass sich wiederum daraus ein zeitraubendes Gedränge auf den Straßen ergab, bedarf im Prinzip keiner weiteren Erwähnung. Besonders schlimm traf es dabei die Straße vor und zu meiner Schule. Ich habe mich bereits auf vielen Straßen in mehreren Ländern auf einigen Kontinenten dieser Erde herumfahren lassen. Doch nie grenzte es mehr an automobile Blutschuld, eine Wegstrecke von anderthalb Kilometern nicht mit dem Hubschrauber zurückzulegen. Bodenwellen, die man kaum den unerschrockensten Motocrossfahrern zumuten würde; Wasserflächen, die sich Fata-Morgana-ähnlich bis an den Horizont zu ziehen scheinen; Schlaglöcher, deren Ausmaße die Annahme nahelegen, sie seien aufgrund mittelgroßer Meteoriteneinschläge entstanden; ebenjene Schlaglöcher, bis zum Rand mit braunem Wasser gefüllt, sodass man sie und ihre gefahrbergenden Dimensionen nicht zu erkennen vermag; Schlammfelder, denen man, ist man einmal hineingeraten, ebenso wenig entrinnen kann wie eine arme verirrte Seele dem  Moor – all das ergibt eine für Kraftfahrzeuge todbringende Melange misslicher Widrigkeiten und nicht wenige Male musste ich beobachten, wie zumindest temporär einige der motorisierten Fortbewegungsmittel den Kampf aufgaben und ihre hilflos hupenden Fahrer sich selbst überließen.

Doch nicht nur auf das öffentliche Leben hatte der afrikanische (zugegebenermaßen der nordafrikanische) Winter, den ich vor einem halben Jahr in dieser Form weder so in Betracht gezogen noch bei „kulturweit“ so gebucht hatte, einen überaus starken Einfluss. Sowohl das Privatleben als auch der Arbeitsalltag konnten sich des Winters Strenge ebenfalls nicht widersetzen.

In der Schule kam es beispielsweise vor, dass wir die ersten Unterrichtsstunden lediglich mithilfe des zu diesem Zeitpunkt äußerst spärlichen Tageslichtes bestreiten mussten, weil das Stromaggregat über Nacht mit Regenwasser vollgelaufen war. Dieses, von Wolken zusätzlich gestörte Schummerlicht konnte aber erst dann zur vollen Entfaltung kommen, wenn die für den Sommer verdunkelten Fenster geöffnet wurden, sodass man aufgrund des starken Windes ohne Schwierigkeiten Drachen verschiedenster Größe in den Klassenzimmern hätte steigen lassen können. Die meiste Zeit jedoch gab es genügend Strom für alle und die Fenster konnten geschlossen bleiben. Geschlossene Fenster bedeuteten indes nicht zwangsläufig ausreichend Schutz vor Wind und Wasser. Es zog nicht nur durch Spalten und Ritzen, sondern es lief auch durch sie hindurch. So musste man gelegentlich nicht nur auf den Straßen, sondern auch in Klassenräumen und Büros durch Wasser waten. Diese Dinge sind jedoch noch vergleichsweise auf die leichte Schulter zu nehmen, da es sich zwar um mehrfache, aber immerhin doch nur um unliebsame Zwischenfälle handelte. Die Kälte hingegen, die sich im gesamten Schulgebäude wie die Made im Speck festgesetzt hatte, war nur schwer auszuhalten. Wäre der Wind nicht so unangenehm frisch gewesen, die Fenster hätten tagsüber immer offen gestanden – draußen war es meist wärmer als drinnen. (An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Schilderungen bezüglich der Arbeitsbedingungen an meiner Einsatzstelle selbstverständlich maßlos übertrieben sind und literarisch vollständig ausgeschlachtet wurden. Eigentlich ist alles halb so schlimm. Es ist nur kalt, es regnet rein und es gab ab und an keinen Strom.)

Doch als ob all dies nicht schon schlimm genug wäre, so haben Marianne, Moritz und ich das große Pech, in einer riesigen Wohnung leben zu dürfen. Freilich bin ich weit davon entfernt, mich tatsächlich über diese Gegebenheit zu beschweren. Nur im Winter, speziell im nordafrikanischen, weist dieser Umstand durchaus einige Nachteile auf. Zuweilen trug es sich zu, dass auch bei uns die „Verdichtungen“ der Fenster ihre Bestimmung nicht in voller Gänze erfüllen konnten. In der Folge stand nicht nur Wasser im Wohn- und Badezimmer, sondern auch die Wände neben den Fenstern sahen mit der Zeit immer mehr nach einer Mischung aus aufgekratzten Windpocken und kleinen Eiterblasen aus. Zusätzlich zu dieser handwerklich-visuellen Misere mussten wir uns auch daheim in hohem Maße mit niedrigen Temperaturen herumschlagen, eine der Folgen undichter Fenster und großer, schwer beheizbarer Räume. In der Tat standen uns nämlich ein gasgefüllten Heizstrahler sowie eine manövrierbare Heizung als Kältebekämpfungsmittel zur Verfügung. Unglücklicherweise ging uns jedoch bereits Anfang Januar das Gas aus. Die Heizung wiederum strahlte nicht genügend Wärme ab, um das Wohnzimmer zu heizen, sodass man uns mitunter mit Winterjacke und in Decken gehüllt auf der Couch sitzen sehen konnte. Es war hart. Lippenlesen war in jener Zeit jedenfalls nicht möglich, zu sehr umhüllte dichter Atem unsere Münder (bei Zimmertemperaturen zwischen 10 und 15 Grad sowie einer Luftfeuchtigkeit zwischen 50 % und 70 % kein ungewöhnliches Phänomen, um ein wenig mit meinem chemikalischen Halbwissen zu protzen). Der einzige effektiv beheizbare Raum in der Wohnung ist das Badezimmer. Deshalb schwenkten wir um. Wenn man also morgens frierend aufstand, kam man immerhin in eine vergleichsweise heiße Örtlichkeit und mit ein wenig Geschick konnte man sich auch noch heißes Wasser aus dem Duschschlauch organisieren. Bald mussten wir jedoch feststellen, dass die Heizung so viel Strom zieht, dass sämtliche involvierte Steckdosen im Begriff waren, zu schmelzen und zu schmoren. Schlussendlich waren wir also gezwungen, auch unsere letzte Wärmequelle in eine dunkle Ecke zu stellen und uns in unser Schicksal zu fügen. In der Konsequenz bedeutete das, dass wir morgens in einem kalten Zimmer aufstanden, in einer kalten Wohnung frühstückten, Marianne und ich in eine kalte Schule fuhren, um nachmittags wieder in die kalte Wohnung zurückzukehren, den Nachmittag in einem zugig-kalten Wohnzimmer zu verbringen, uns später auf unser kaltes Nachtlager zu betten und an warme Dinge zu denken. In Ägypten. Wer hätte das gedacht.

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