Geschichtsstunde am Freitagnachmittag. Nicht jedermann kann daran Gefallen finden. Euch kann ich aber beruhigen. Ich werde hier keinen nächsten Wikipedia-Artikel schreiben, sondern vielmehr Beobachtungen aus meinem bolivianischen Alltag mit etwas Geschichtswissen erklären.
Was die Salteña mit der spanischen Eroberung zu tun hat
Die Salteña ist der beste Snack am Morgen, die Salteña schmeckt gut, die Salteña ist Kultur und die Salteña vereint. La Empanada boliviana ist eine mit Brühe, Kartoffeln, Chili und Rindfleisch gefüllte Teigtasche, die mittlerweile ganz oben in der bolivianischen Kulinarik steht. Und tatsächlich steckt bedeutend viel Geschichte in dem üblichen Frühstückssnack.
Über einen eindeutigen Ursprung streiten sich die Geister; und Bolivien und Argentinien. Obwohl die erste Aufzeichnung in dem Rezeptbuch der Doña Josepha de Escurrechea in der bolivianischen Stadt Potosí gefunden wurden, ist eine Namensverbindung mit der argentinischen Stadt Salta sehr wahrscheinlich. Eine Familie aus Salta soll bei der Übersiedlung nach Bolivien mit dem Verkauf von der neuen Empanada Art in Bolivien ihren Lebensunterhalt finanziert haben.
Die Empanada war jedoch bis zur spanischen Eroberung Südamerikas (1492) vollkommen unbekannt. Erst durch die Kolonisation hat sich die ursprünglich europäische Empanada auch in Südamerika verbreitet. Mit dem Ankommen der Spanier, stießen zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander und es begann die Phase des ersten Kontakts, auch Kulturberührung genannt. Durch die eindeutige Differenziertheit ist es eine Phase des Abtastens und des Gegenseitigen Austauschs z.B. von Geschenken und der Übermittlung eigener kultureller Gegenstände, wie auch die Empanada. Durch die militärisch-technischen Fortschritte, der Missionierung sowie rassistischen Gründen, entstand in der spanischen Bevölkerung ein Überlegenheitsgefühl, welches die Eroberung und Ausbeutung des Kontinents legitimieren sollte. Bis zu den Unabhängigkeitskriegen (Bolivien 1825) hat diese Phase des Kulturkonflikts angehalten.
Die spanischen Kolonien in der „neuen Welt“ haben allerdings auch wesentlich dazu geführt, dass sich die Kulturen miteinander vermischen, miteinander verflechten. Man spricht dann von Akkulturation. Vor allem Bolivien ist ein Land, in dem solche Mischelemente zum Alltag gehören: angefangen in der Zusammensetzung der Bevölkerung sind ca. 80% sogenannte Mestizen, ihre Vorfahren sind also sowohl Indigene als auch Spanier. Doch auch sehr auffällig sind die Kleidung der Cholitas, die Religion (Synkretismus) und eben auch die Salteña. Sie ist die Neuerfindung der spanischen Empanada mit andentypischen Zutaten.
Nach meiner Wahrnehmung sind Bolivianer vor allem auf die Dinge, die eben Elemente ihrer indigenen Kultur enthalten, besonders stolz. Trotz vieler spanischer Einflüsse ist es ein sehr kulturstarkes Land und spiegelt das gerne nach außen wider. Dazu gehören neben dem Essen auch ganz besonders die Tanzkultur und der Synkretismus. Und tatsächlich hat es mit dieser Ausgeprägtheit auf dem südamerikanischen Kontinent auch einen Alleinstellungsmerkmal.
Der Allrounder für jede Situation – Das Kokablatt
Maté de Coca, Coca machucada oder Cerveca de Coca. Das getrocknete, kleine, grüne Blatt ist fester Bestandteil eines bolivianischen Lebens und soll in allen Situationen helfen: Ob man ein Mittel gegen die Höhenkrankheit braucht, neue Konzentration beim Busfahren oder einfach etwas zum Kauen. Es lohnt sich die kleine Tüte immer mit dabei zu haben.
Die Tradition um die Cocapflanze reicht weit zurück in die Zeit indigener Stämme. Schon 3000 v.C. soll das Cocablatt etwas Heiliges gewesen sein, ein Geschenk der Göttin Pachamama (Mutter Erde). Verwendet wurde es vor allem von der höheren Gesellschaftsschicht während religiösen Zeremonien und als Arzenimittel. Zudem ist das Cocablatt extrem reich an Nährstoffen wie Vitaminen, Eisen und Proteinen.
Das Kauen von Coca verbeitete sich mit der Zeit in allen Gesellschaftsschichten. Vor allem im Proletariat spielte es im Alltag eine immer größere Rolle. So war (und ist) es üblich, dass die Minenarbeiter von Potosí nichts weiter als eine Tüte Coca mit in den Stollen nahmen. Um Glück in der Ausbeute und Gesundheit heraufzubeschwören, muss dem Minengott „Tío“ ebenfalls ein Beutel mitgebracht werden.
Und die Tradition hat sich stark gehalten, denn in ganz Bolivien ist es auch heutzutage üblich, Coca zu kauen. Ein übliches Bild auf der Straße ist die Cholita mit „bolsa“ (Beutel) und „bolito“ (so wird die Wangentasche voll mit Coca genannt). Doch genauso Bauarbeiter, Busfahrer, die sich wachhalten müssen, unsere Tourguides.. Der Wirkstoff verbessert nämlich nicht nur die sauerstoffaufnahme, sondern ist auch etwas sehr gesellschaftliches und soll ein gutes Miteinander fördern. Untereinander und natürlich auch zu Pachama.
So kam es, da Coca auch überall frei erhältlich ist, dass ich selbst meine Erfahrungen damit gemacht habe. Man zieht dabei die getrocknete Blattfläche mit den Zähnen vom Stiel ab. Das wiederholt man dann bei jedem Blatt, bis die Wange voll wird (bolito) und man beginnt darauf leicht zu kauen. Ohne eine große Auswahl an Blättern probiert zu haben, würde ich behaupten, dass es sich geschmacklich nicht groß von den anderen abhebt. Allerdings ist je nach Menge und Zusatz (Backpulver oder Aktivkohle) ein Effekt spürbar, auch wenn ich denke, dass er nicht größer gemacht werden sollte, als er ist. Man fühlt sich etwas wacher, wie etwa nach einem Espresso und tatsächlich hilft es bei Atemschwierigkeiten in der Höhe und bei Anstrengungen. Für Wanderungen und Touren kommt bei mir deshalb auch immer eine bolsa mit in den Rucksack.
Und ein Hinweis zum Schluss. Die Droge Kokain wird aus dem enthaltenen Wirkstoff in dem Kokablatt synthetisch hergestellt. Die Konzentration in dem Blatt ist allerdings so gering, dass es ca. 150kg Kokablätter für 1kg Kokain benötigt. Eben deshalb ist das reine Blatt in Bolivien legal und eine toxische Wirkung oder Suchtgefahr ist nicht nachgewiesen. Trotzdem gilt Bolivien als Produzent und Exporteur von Kokablättern und Kokain und kurbelt so das illegale Geschäft an. Nordamerika und Europa sind die Hauptkonsumenten der Droge.
Die Sache mit dem Meer
Wer meinen Blog bisher verfolgt hat, der weiß, dass ich an der Unidad Educativa Naval „Heróes del Pacífico“ arbeite. Und wer sich jetzt auch noch mit Bolivien etwas auskennt, der weiß auch, dass Bolivien ein Binnenstaat ist, zu keiner Seite hat es also Zugang zu einem Meer. Woher stammt dann also der Name „Helden des Pazifiks“?
Das geht auf einen weitreichenden Konflikt zwischen Chile und Bolivien zurück. Mit der Unabhängigkeit der südamerikanischen Länder, galt es auch die Landesgrenzen zu definieren. Das Gebiet am Pazifik um Antofagasta war gering besiedelt und zu keinem Land explizit zugehörig. Die Steuerrechte hielt allerdings Bolivien und auch mit Hinblick auf die Kolonialzeit tendierte das Gebiet zu dem Andenstaat. Mit der Entdeckung von reichen Bodenschätzen baute aber vor allem Chile ihre Wirtschaft in der Atacama-Region aus und schlug bedeutenden Profit daraus. Diesen Vorteil wollte sich Bolivien nicht entgehen lassen und erhöhte die Steuern maßgeblich, später besetzte es die Minen mit eigenen Soldaten. Um sich dabei abzusichern, ging es ein Bündnis mit Peru ein. Als Chile von diesem Bündnis erfuhr, erklärte es 1879 beiden Staaten den Krieg. Und es sollte bekanntermaßen dazu kommen, dass Bolivien und Peru den Krieg verloren und beide Länder Gebiete an Chile abtreten mussten. Der Friedensvertrag von 1904 regelte schlussendlich die Grenzen und machte Bolivien zum Binnenstaat.
Seither kämpft Bolivien um einen erneuten Zugang zum Meer. Tatsächlich verlor es dadurch erheblich an wirtschaftlichen Potential und Identität. Evo Morales machte es sich zur Aufgabe, den “rechtmäßigen“ Anspruch auf das Meer bei internationalen Gerichtshof einzufordern. Ohne Erfolg. Dennoch vereint Bolivien die Mentalität, im Unrecht zu sein. Mit seiner Phantommarine auf dem Titicacasee, dem alljährigen Día del Mar (Tag des Meeres) und dem verbreiteten Hashtag #NuestroMar, hält es diesen Glauben aufrecht am Leben. Außerdem kriegt man bei diesem Thema gerne die Geschichte zu hören, dass die Chilenen, die tanzenden Bolivianer überfallen und abgeschlachtet haben, friedliche Bolivianer gegen kriegerische Chilenen. Dieses Feindbild hält bis heute an.
Es mag sein, dass Chile nicht gerade legal und auf aggressive Art das Gebiet um Antofagasta beansprucht hat. Zudem war es die kriegserklärende Nation. Doch auf einen über 140 Jahre alten Konflikt zu beharren, der in sich verwickelt, 1904 aber abgeschlossen wurde, ist in meinen Augen ein falscher Ehrgeiz. Es sollte eher darum gehen, alternative Lösungen zu finden, um den wirtschaftlichen Nachteil auszugleichen. Und dennoch vereint dieser Gedanke die ganze Nation. Es ist bemerkenswert, wie mittlerweile das nicht-Vorhandensein des Meereszugangs ein fester Bestandteil bolivianischer Identität geworden ist. Und das wird sicherlich über viele Generationen noch der Fall bleiben.