I’m flying home for christmas…
Ja, tatsächlich, es sind nur noch drei Tage, dann ist Freitag und ich mache mich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg zum Flughafen, um zum ersten Mal seit September meine Familie und meine Freunde wiederzusehen. Es ist immer noch ein total surreales Gefühl, dass ich schon so bald in Frankfurt aus dem Flugzeug steigen werde, meine allerbeste beste Freundin der Welt, die mich extra abholt, in die Arme schließen darf und dann nach Hause fahren werde. Meine geliebte Linsensuppe, die ich so vermisst habe, ist bestellt und wird fix und fertig auf dem Tisch stehen und ich schaffe es sogar noch pünktlich zu meiner alljährlichen Weihnachtstradition, jeden Freitag vor Weihnachten „Der kleine Lord“ im Fernsehen anzuschauen. Am Sonntag kann ich zur Weihnachtsfeier meines Musikvereins gehen und darf das erste Mal seit viel zu langer Zeit wieder in mein Saxophon pusten.
Die Vorfreude ist groß, wie ihr vielleicht gemerkt habt, und während ich hier sitze und die Zeit plötzlich viel zu langsam vergeht, habe ich ein bisschen Raum, um zurückzublicken, auf das, was so passiert ist. Ich habe mich fast ohne Schwierigkeiten in einem fremden Land eingelebt, angefangen, die Sprache zu lernen, Unterrichtsstunden gehalten und mich in meine Stadt verliebt. Ich habe gelernt, selbstständig zu leben und den Alltag zu organisieren. Ich bin ein bisschen im Land rumgekommen und habe zumindest versucht, die Menschen hier kennenzulernen. Ich habe kurze Abstecher nach Albanien und Serbien gemacht, mich an Grenzkontrollen gewöhnt und festgestellt, dass ich noch nirgendwo so zuverlässig Bus und Bahn gefahren bin wie auf dem Balkan. Ich habe viele Vorurteile verloren und ich trauere ihnen nicht nach. Ich habe von meinen Schülern Toleranz gelernt und Zuversicht und Zufriedenheit. Alles in allem ist also ganz schön viel passiert.
Die letzten Tage waren sehr ereignis- und auch arbeitsreich. Zur mündlichen DSD-Prüfung fuhr ich mit meinem Mentor in den Norden Montenegros, nach Berane. Wir fuhren hier bei 15°C los und kamen in Berane bei 0°C an. Warum bin ich nochmal mitgefahren? Von der Stadt kann man jetzt nicht wirklich sagen, dass sie sehenswert ist, zumindest das, was ich durch den dichten Nebel erkennen konnte. „Der Weg ist das Ziel“ hat wohl noch nie so gut gepasst wie für diese Autofahrt. Die Straße führte uns durch tiefe Schluchten und hohe Berge, durch verschneite Wälder und über wilde Flüsse und Bäche. Diese Landschaft ist eigentlich das Unglaublichste, was ich je gesehen habe. Dieses winzige Land Montenegro bietet auf so wenig Fläche eine wunderschöne Küste, eine breite Ebene um die Hauptstadt Podgorica herum und hohe Berge mit ungezähmten Landstrichen. Da ist für jeden was dabei und es ist nicht verwunderlich, dass Montenegro schon seit Längerem zu den Top-5 der am schnellsten wachsenden Länder in der Tourismusbranche gehört. Die Menschen lassen sich das Erlebnis, dieses Land bestaunen zu dürfen, eben nicht mehr durch haltlose Vorurteile, hier wäre ja überall Krieg, verderben. Denn Krieg ist auf dem ganzen Balkan nicht mehr, und in Montenegro gab es ihn auch nie. Als die ganze Region sich gegenseitig in Schutt und Asche legte, fanden auf montenegrinischem Boden nie Kampfhandlungen statt. Da das Land ja trotzdem ein Teil Jugoslawiens war und die Armee somit Teil der von Serbien geführten jugoslawischen Volksarmee, nahmen auch montenegrinische Soldaten am Krieg teil, das kroatische Dubrovnik wurde z.B. von Montenegro aus beschossen. Aber die Zivilbevölkerung lebte weiter nebeneinander her und die Montenegriner scheinen eine ganz eigene Erklärung für dieses Phänomen zu haben.
Innerhalb der Balkan-Region gelten die Montenegriner als faul und ich habe es immer wieder erlebt, dass sie selbst mit diesem Vorurteil spielen. Ich bekomme zu wenig vom Alltagsleben mit, als dass ich das wirklich objektiv beurteilen könnte, aber ich denke, dass sie nicht mehr arbeiten als nötig. Die meisten Menschen hier, insbesondere die Frauen zu Hause, arbeiten unglaublich hart, weil es nötig ist, aber eben immer nur so viel wie man muss. Meiner Meinung nach ein äußerst sympathischer Wesenszug! Wenn man jetzt also die Montenegriner nach dem Grund für den ethnischen Frieden in weiten Teilen des Landes befragt, bekommt man nicht selten die Antwort, die Montenegriner seien eben zu faul für Hass. Klar, da muss man sich ja erst mal einen Grund aus den Fingern saugen, warum man den anderen nicht leiden kann, dann muss man den Hass am Leben halten und dann müsste man ja auch noch danach handeln. Viel zu anstrengend! Da sitzt man doch lieber mit dem Feind zusammen, raucht und trinkt Kaffee und schimpft über die Regierung und die schlechten Zeiten.
Ich bin froh, heute mit einem Augenzwinkern über diese Dinge schreiben zu können. Ich weiß natürlich um die Spannungen, die es in der ganzen Region und auch in Montenegro immer noch gibt, ich weiß um die Probleme der Bevölkerung mit den Politikern, weil sie eigentlich nur zwischen korrupten, in mafiöse Strukturen verflochtenen Altkadern und radikalen serbischen Nationalisten wählen kann. Aber trotzdem kann ich hier leben und eine tolle Zeit verbringen, ohne dass ich mir um mich persönlich große Sorgen machen muss.
Und trotzdem freue ich mich auf zu Hause, denn da ist es ja bekanntlich am schönsten…
An den verbleibenden Tagen werde ich mich, wie auch schon die gesamte letzte Woche, nochmal intensiv mit Noten eintragen und Tests korrigieren auseinandersetzen. Es ist jedes Mal eine mühsame Arbeit, die Noten sowohl ins Klassenbuch als auch online einzutragen. Besonders lustig wird es, wenn danach Schüler kommen und noch über die Noten diskutieren wollen. Dann muss ich alles nochmal ändern und ärgere mich die ganze Zeit, weil ich weiß, dass das in ca. drei Monaten wieder auf mich zukommt. Wenn dann auch noch ein Klassenlehrer kommt und uns sagt, wir sollen die Noten doch bitte eindeutig geben, also nicht schriftlich eine 3 und mündlich eine 4, damit man nicht zwischen zwei Noten steht, dann ist es mit meinem Verständnis ganz vorbei und ich schimpfe auf das montenegrinische Schulsystem.
Doch ich habe mittlerweile gelernt, das alles mit stoischer Gleichgültigkeit zu ertragen, weil ich ja weiß, dass ich bald Urlaub habe und ein bisschen Abstand gewinnen kann. Bis auf die paar Schüler, mit denen ich wegen Stipendien oder Ausbildungsplätzen in Kontakt stehe, habe ich dann mal zwei Wochen meine Ruhe und kann alle Verwandten und alle Freude abarbeiten und mein seit dem Zwischenseminar schon wieder sehr geleertes Kuschelkonto auffüllen. Also liebe Freunde in Deutschland, macht euch auf groß angelegte Umarmungsattacken meinerseits gefasst!
Bis demnächst 🙂