Wie ich mit meinen Fußnägeln die Zeit messe
Zeit ist relativ, das ist allgemein bekannt. Manchmal vergeht sie schnell, manchmal sehr langsam und es ist immer verkehrt. Sitze ich in einer tollen, spannenden Unterrichtsstunde, gehen die 45 min viel zu schnell rum, man würde gerne noch bleiben und so viel besprechen. Sitze ich allerdings bei den schrecklichen Achtklässlern, denen pädagogisch nur mit Abschreiben beizukommen ist, so fließen die Minuten zähflüssig von der Uhr.
So geht es mir auch mit der Zeit insgesamt. Ich bin seit gut zwei Monaten hier. Das bedeutet zwei Mal Miete zahlen, zwei Mal Zwischenresümee ziehen. Man hangelt sich an diesen herkömmlichen Zeitmessungen entlang, die Zeit vergeht und man kann sie nicht fassen. In manchen Momenten denke ich: „Was, ich bin schon zwei Monaten hier, wo ist die Zeit geblieben?“. Es gibt aber auch Tage, an denen ich denke: „Erst zwei Monate rum? Ich bin doch schon ewig hier!“ Und ich habe ja auch tatsächlich schon wahnsinnig viel erlebt, das hätte auch für einen längeren Zeitraum gereicht.
Diese Ambivalenz, diese Unsicherheit, bringt meine Fußnägel ins Spiel. Die hatte ich mir an meinem ersten Tag hier rot lackiert. Das Wetter war hier noch gut, ich konnte in Flipflops rumlaufen, während ich in Deutschland schon länger nicht auf die Idee gekommen wäre, länger als zum Duschen unbedingt nötig, barfuß durch die Gegend zu stolzieren. Leider bin ich aber ein fauler Mensch und kümmerte mich im weiteren Verlauf meines Aufenthaltes nicht mehr darum. Bei aller Liebe, aber dafür ist in meinem Kopf wirklich kein Platz mehr.
Jetzt fügt es sich aber, dass das Wetter nach einer kurzen Regen- und Gewitterperiode seit mehreren Wochen so wunderschön ist, dass selbst die Ulcinjer ihre Nasen verwundert in die Sonne stecken, weil sie so etwas noch nicht erlebt haben. Und weil mir zugetragen wurde, dass es auch in Teilen Deutschlands noch ganz nett sein soll (O-Ton Mama: „Du wirst es nicht glauben aber auch wir liegen hier an der deutsch-franz. Grenze in der Sonne, Papa mit freiem Oberkörper und schwitzen. […]), musste ich natürlich noch einen draufsetzen und bin schwimmen gegangen. Kurt erzählte mir schon seit Wochen beinahe täglich, dass es gar nicht so kalt ist, aber ich wollte nicht so recht glauben. Als ich jedoch am Mittwoch mal wieder völlig verschwitzt den Berg hochgestampft kam, sagte ich mir, das ist der Moment, jetzt geht’s los. Und es ging los. Es war wirklich nicht kalt, wenn man sich im Wasser ein bisschen bewegt hat, hätte es auch noch August sein können. Der einzige Unterschied war, dass der Strand menschenleer war, die Umkleidekabinen schon abgebaut, was lustige Verrenkungen meinerseits beim Umziehen nach sich zog, und die Blicke der Leute, als ich mit nassen, verwuschelten Haaren den Heimweg antrat, eine Mischung aus Mitleid und Befremden beinhalteten. Doch selbst in diesem Moment, in dem ich im Traum nicht darauf kommen würde, mit meinem nassen Lautern-Trikot, meiner alten Hose und meinen abstehenden Haaren so auszusehen, dass man mich ansprechen würde, kam ich nicht um einen weiteren Handkuss und einer von mir ausgeschlagenen Einladung herum. Und diesmal war es wirklich hartnäckig. Er gab sich nicht mit meinen halbherzigen Ausreden zufrieden, ich wolle mittags um 2 keinen Traubenschnaps trinken. Das Problem ist, dass ich zu ehrlich bin, um zu behaupten, ich hätte keine Zeit und nicht ehrlich genug, um zu sagen, dass ich einfach nicht will. In diesem Fall gelang es mir aber, ihn zu vertrösten und zu versprechen, dass ich irgendwann mal wieder komme.
Zurück zu meinen Fußnägeln: Als ich nach dem Schwimmen noch ein bisschen in der Sonne vor mich hin trocknen wollte, besah ich meine Füße und stellte fest, dass der Nagellack, den ich seit meiner Ankunft nicht erneuert habe, in etwa zu einem Viertel rausgewachsen ist. Ich wusste nicht so recht, und weiß es eigentlich immer noch nicht, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen soll, aber sie beruhigt meine in Aufruhr geratene Seele, was die Dauer meines Aufenthalts betrifft. Ich weiß, dass noch viel Zeit vergehen wird, bis der Nagellack ganz weg ist. Diese Zeit lebe ich mal so vor mich hin und schaue, was noch so passiert.
Zum Beispiel nächste Woche, in der ich, weil Kurt in der Schweiz ist, ganz alleine den Unterricht übernehmen darf/soll/muss. Immerhin wurde ich von den Achtklässlern befreit, aber ich habe drei Stunden bei den Siebtklässlern, drei in der Neunten, zwei bei jeweils einer ersten Klasse und zwei Stunden in der Zweiten. Ich habe zumindest mal einen Masterplan, was ich ungefähr mit den Schülern anstellen werde, aber die genaue Planung wartet noch auf mich. Ich drücke mich irgendwie davor, weil ich Angst habe, festzustellen, dass es irgendwie doch nicht aufgeht, dass irgendwas schieflaufen wird und dass ich es einfach nicht hinkriege. Ich bin gespannt, wie ich mich so als Lehrerin mache, wenn es mal länger ist als nur eine Vertretungsstunde. Ich veranstalte ja keinen richtigen Unterricht, sondern beschränke mich auf Lieder, Filme und Spiele, aber das ist natürlich alles pädagogisch aufgearbeitet. Ich sehe es einfach mal als Chance, ins kalte Wasser geschmissen zu werden und zu sehen, ob es wirklich eine gute Idee ist, Lehrerin zu werden.
Und das Gute ist, dass ich, obwohl mir die kommende Woche ein bisschen Unbehagen bereitet, eine Art Ziel vor Augen habe. Wenn die Woche nämlich vorbei ist, werde ich zusammen mit Sarah, die wahrscheinlich schon am Freitag kommt, nach Serbien zum Zwischenseminar aufbrechen. Wieder was ganz Neues, wie ein Erlebnis, dass ich dann gerne mit euch teilen werde.