Wie ich mir beim Zahnpasta-Kaufen den Sozialismus wünschte…

Seit über einem Monat bin ich jetzt schon hier in Montenegro. Wahnsinn, wo ist die Zeit geblieben? Es ist doch noch nicht lange her, als ich das Herz voller Ungewissheiten aus dem Taxi stieg und mein neues Zuhause auf Zeit kennenlernte. Mittlerweile hat mich der Alltag zwar wieder, ich bin eine ganze Woche brav in die Schule gegangen, habe im Unterricht gesessen, unzählige Tests korrigiert und Fragen beantwortet, aber so richtig kann ich es irgendwie immer noch nicht fassen. Die Zeitspanne von einem Jahr ist schwer zu begreifen, obwohl ich weiß, dass jetzt ein Zwölftel schon vorbei ist. In einem Monat ist das Zwischenseminar, dann wieder einen Monat später Weihnachten, dann fahre ich nach Hause. Im Februar ist dann der Austausch im Schwarzwald, an Ostern wollen meine Eltern zu Besuch kommen und dann ist es ja schon wieder fast vorbei…
Dass ich jetzt mal eine Woche Alltag hatte, kam mir sehr gelegen, denn so konnte ich mich mal ein bisschen auf das selbstständige Leben konzentrieren. Das ist eine Sache, vor der ich, frisch aus der Schule entflohen, schon ein bisschen Angst hatte. Alles in allem kann man sagen, dass ich es überraschend gut auf die Reihe bekomme. Die Menüs, die ich mir zaubere, sind jetzt zwar nicht 5 Sterne wert, aber verhungern tue ich nicht! Ich bin auch noch nicht im Müll versunken, meine Bude ist ordentlicher als es mein Zimmer in Deutschland je war. Es sind andere Dinge, die mich herausfordern. So zum Beispiel der Zahnpasta-Kauf: So lange ich denken kann, teile ich mir die Zahnpasta mit meiner Mutter. Immer dieselbe Marke, immer dieselbe Sorte. Jetzt stehe ich hier im Supermarkt vor einem Zahnpasta-Regal mit bestimmt zehn Marken mit nochmal jeweils fünf Sorten. Classic, extra fresh, extra white und weitere Besonderheiten, die sich mir nicht erschlossen haben. Dieser Kapitalismus mit seiner Konsumvielfalt überfordert mich! Kann es nicht einfach eine Sorte Zahnpasta geben, die meine Zähne sauber macht? Ich hatte ein ähnliches Problem beim Ketschup kaufen, aber da lasse ich mir ja noch gefallen, dass es scharfen, süßen, mit Barbecue-Geschmack und so weiter gibt… Aber Zahnpasta???
Dieses Problem war nun wirklich nicht vorherzusehen. Ein weiteres Rätsel ergab sich zu Hause. Ich hatte mir saure Gurken gekauft und diese auch ratzeputz weggegessen. Dann war das Glas leer. Und mir fiel auf, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie Gurkenwasser weggekippt habe. Ich habe, solange ich denken kann, das Glas immer leer gegessen und dann irgendwo hingestellt. Wie von Geister-(oder von Mama-)Hand ist es dann verschwunden. Und so stand ich unschlüssig mit dem Glas in der Hand vorm Waschbecken und fragte mich einige Minuten, was man denn mit Gurkenwasser anfangen könnte, entschied dann, als mir nichts einfiel, dass ich eigentlich noch nicht lebensfähig bin, mich das Alleinsein etwas sonderbar macht und kippte todesmutig das Wasser weg. Aber immer noch im Zweifel, ob ich das auch alles richtig mache. Ich stellte fest, dass es Zeit wird, dass der Regen wieder aufhört, damit ich mal wieder Leute zu Gesicht bekomme und nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen muss.
Dann habe ich nämlich zu viel Zeit zum Nachdenken, was gerade so in Deutschland passiert, was meine Freunde so machen, was ich alles verpasse. Und dann schleicht sich das Heimweh ein bisschen ein. Ich weiß, in der Pfalz ist gerade Herbst, die schönste Zeit im Jahr, wenn die Äpfel reif und die Wälder bunt werden. Pilze und Esskastanien sammeln fällt dieses Jahr weg und ich kann meine Nase nicht schon leicht fröstelnd in die goldene Pfälzer Sonne stecken. Ich bin schon froh, dass es ein positives Heimweh ist. Kein Es-ist-so-schrecklich-ich-will-nach-Hause, sondern eher ein Es-ist-wundervoll-aber-zu-Hause-wäre-ich-auch-ganz-gerne. Immerhin habe ich hier eindeutig das bessere Panorama, um dem Himmel beim Gewittern zuzuschauen. Gewitter über dem Meer ist nämlich ein sehr beeindruckendes Phänomen, welches man noch mehr genießen könnte, wenn nicht am nächsten Morgen immer der Strom ausfallen würde. Und wenn man nicht wüsste, dass der Regen noch ein paar Monate anhalten wird.
Doch eben dieser Regen hat mir mal wieder eine tolle Begegnung beschert. Ich lief im Regen den Berg hinunter auf dem Weg zur Schule und das Wetter war wirklich widerlich. Ein Auto kam mir entgegen. Der Fahrer sah mich, wendete auf der viel zu schmalen und viel zu steilen Fahrbahn, fuhr mir hinterher, hielt neben mir und fragte mich, ob er mich irgendwo hin fahren könne, weil es ja regne und ich ja total nass werden würde. Ich lehnte ab, man sollte sich ja trotz allem ein gesundes Misstrauen bewahren, aber die Einstellung der Menschen, mit anderen mitzudenken und aufeinander Acht zu geben, hat mich schon nachhaltig beeindruckt.
Die letzten vier Tage waren wieder mega anstrengend, wir hatten nämlich wieder Gäste, diesmal aus Berane und Tirana, die sich gemeinsam mit den Schülern hier auf ihre DSD2-Prüfung vorbereiteten. Das hieß für mich, dass ich am Samstag arbeiten musste, um Armin bei den Vorbereitungen zu helfen, Sonntag die Schüler begrüßt habe und die letzten drei Tage wieder vollzeit-eingespannt war. Ein bisschen Vorarbeiten für die Zeit, wenn nicht mehr so viel zu tun ist.
Die Vorbereitungen bestanden hauptsächlich im Arbeitsblätter-Sortieren und, Hilfe, Zusammentackern. Seit ich denken kann, hasse ich Tacker. In jedem Test, in jeder Kursarbeit, beschäftigte ich mich immer erst mal 10 Minuten damit, die Tackerklammer aus den Aufgabenblättern zu pulen. Sogar im Abitur nestelte ich daran herum, verletzte mich noch und schrieb fünf Stunden Deutschabitur mit blutendem Finger. Alles wegen meiner Tackerphobie. Doch jetzt bin ich Teil des Systems geworden. In tiefer Trauer habe ich meinen Idealismus begraben und folgte den Anweisungen. Warum kann man die Tacker nicht durch die viel sympathischeren Büroklammern ersetzen? Die machen auch nicht so hässliche Löcher ins Papier! Naja, man muss auch Opfer bringen…
Am Sonntag kamen die Schüler am Nachmittag an, wir begrüßten sie im Hotel und stellten uns vor. Eigentlich sollte schon ein bisschen was geschafft werden, zumindest ein Kennenlernspiel war geplant, aber die Schüler waren nicht zu überreden, ab 18 Uhr war nämlich Fußball angesagt. EM-Qualifikation, Albanien hatte die Chance, sich zum ersten Mal für eine EM-Endrunde zu qualifizieren. Also gaben wir nach und erstellten eine Tippliste, weil Thomas, der Lehrer aus Tirana, für den richtigen Tipp eine Tafel Schokolade versprach. Da ich zwar Fußball liebe, aber weder Kenntnis von der Stärke der albanischen noch der armenischen Mannschaft besitze, ließ ich mich beraten. 2:1 für Albanien wurde mir von einem der Schüler zugeflüstert. Derselbe Schüler, der sich noch lustig gemacht hatte, dass ich Fan von einem deutschen Zweitligaklub bin. Herzlichen Dank auch, der feine Herr Bayern-München-Fan hat mich mit seinem Katastrophentipp um meine Schokolade gebracht. Albanien gewann 3:0, die Laune der Schüler war gerettet und wir konnten spontane Autokorsos und Fanmärsche in den Straßen beobachten. Es ist für unsere verwöhnte deutsche Fußballseele nicht auszumachen, was diese Qualifikation für die Albaner bedeutet. Für meine Freunde zu Hause, es ist in etwa so als würde der FCK nochmal Deutscher Meister werden. Für alle anderen, erinnert euch an das 7:1 gegen Brasilien und verdreifacht dieses Gefühl!
An den drei Tagen wurde wirklich hart gearbeitet. Das übergeordnete Thema war Schule in Deutschland, wir beschäftigten uns mit allem Möglichen: G8/G9, Zentralabitur, Alternativschulen, Inklusion und vieles mehr. Die Schüler diskutierten und stritten viel, ich war beeindruckt, wie meinungsstark ein Großteil der Leute war. Da sie aus zwei verschiedenen Ländern mit zwei unterschiedlichen Sprachen kamen (nur die aus Ulcinj sprechen alle serbisch und albanisch), mussten sie in den Gruppen tatsächlich Deutsch sprechen. Da das jetzt schon Viertklässler (umgerechnet 13.Klässler) waren, also Schüler, die kurz vor ihrem DSD2-Examen stehen, klappte es auch wirklich gut. Für die Schüler waren es, alles in allem, glaube ich sehr bereichernde Tage, aber auch für mich, denn es ist immer erfrischend, Gäste hier zu haben. Das bedeutet, viele neue Begegnungen und interessante Gespräche. Ob mit den Schülern oder in diesem Fall besonders auch mit den betreuenden Lehrern aus Tirana, mit denen sich tolle Gespräche ergaben, die mich wirklich bereichert haben. Insbesondere Thomas, der einen unvergleichlichen Optimismus verbreitet hat, egal, um was es ging. Der mich am ersten Tag fragte, was ich denn mal werden wolle und auf meine Entgegnung, „Vielleicht Lehrerin“, mit einem unfassbar herzlichen „Willkommen im Team“ antwortete. Nicht dieses miesmachende „Mach das bloß nicht“, was ich sonst immer zu hören kriege.
Auch die flüchtigen Begegnungen auf der Straße reißen nicht ab. Doch flüchtig sind sie nur scheinbar, denn ich habe mir vorgenommen, sie mir im Herzen zu bewahren, für schlechte Zeiten. Als ich heute Morgen mit Armin vorm Hotel stand, um die Gäste zu verabschieden, kam ein wirklich sehr alter Mann vorbei. Er sprach Armin auf Serbisch an. Zu meiner Überraschung konnte ich ganz gut verstehen, um was es ging. Er fragte, ob wir Deutsche sind und was wir in Ulcinj machen, Armin erklärte, dass er Deutschlehrer am Gymnasium ist. Dann fragte er, ob ich Armins Tochter bin (kleiner Insider-Scherz am Rande, da mein Vater ebenfalls Armin heißt :D). Das passiert mir nicht zum ersten Mal, ich wurde auch schon einige Male für Kurts Tochter oder zumindest Verwandte gehalten. Trotz aller Aufgeschlossenheit ist Ulcinj noch sehr konservativ. Es ist für viele Menschen, insbesondere die Alten, schlicht nicht vorstellbar, dass ein Mädchen in meinem Alter alleine in ein fremdes Land geht, um dort zu arbeiten. Dahinter steckt in den meisten Fällen aber keine Herabwertung oder Diskriminierung, zumindest empfinde ich das nicht so, es kommt in ihrem Horizont einfach nicht vor. Wenn ich es dann aber erkläre, stoße ich oft auf Offenheit, manchmal sogar auf Begeisterung.
So, jetzt muss ich aber ab ins Bett. Morgen stehe ich zum ersten Mal alleine vor einer Klasse. Kurt ist mit einigen Schülern in Dubrovnik, auch für ein Vorbereitungscamp, diesmal für das DSD1-Examen. Ich vertrete ihn in der ersten (=zehnten) Klasse. Wir schauen einen Kurzfilm, „Schwarzfahrer“, und diskutieren dann ein bisschen über Rassismus in Deutschland. Das hoffe ich zumindest. Ich bin ziemlich aufgeregt und hoffe, dass alles gut geht. Aber davon werde ich, jetzt, wo der Blog endlich wieder geht (Juhu!!!), sicherlich bald berichten.

2 Kommentare

  1. Jan Doria · 16. Oktober 2015

    Lustig, wir hatten mit der Zahnpasta im Supermarktregal offensichtlich ähnliche Erfahrungen. Ich hatte neulich das gleiche Problem, wenn auch nicht mit Zahnpasta, sondern mit Shampoo/Duschgel: in Deutschland gibt es ja eines für den Kopf, eines für den Rest, und ein 2-in-1 für Faulenzer wie mich. Ich beging aber den Fehler, meinen Spanischkenntnissen zu viel zuzutrauen und mich ohne Wörterbuch vor das Supermarktregal zu wagen, mit dem Ergebnis, dass der Ankauf eines Reinigungsproduktes erst einmal verschoben werden musste. Tja…
    In puncto Gurkenwasser kann ich dich übrigens beruhigen. Ich habe wohl eine besondere Erziehung genossen, insofern, als dass es bei mir sehr wohl zu meinen Aufgaben gehörte, das Gurkenwasser wegzukippen. Das kommt tatsächlich einfach in den Abguss, aber nur dann, wenn der einen Sieb hat, um das ganze Gemüse (Zwiebeln, Senfkörner und was die sonst noch alles reintun, in Deutschland zumindest) aufzufangen und in den Restmüll zu schmeißen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass du den Abfluss verstopfst…

    • Jana Ballweber · 22. Oktober 2015

      Also als mein Bruder den Blogeintrag gelesen hat, hat er mir berichtet, dass er das Gurkenwasserdilemma nur zu gut kennt. Scheint ein Erziehungsfehler zu sein 😀

Zur Werkzeugleiste springen