Selbstkonfrontationen im Überfluss

Vor meiner Ausreise, eigentlich schon seit ich meine Zusage bekommen habe, machte ich mir Sorgen. Viele Sorgen über alles Mögliche. Ganz banale Dinge wie „Wo wasche ich meine Wäsche?“ oder „Wo kriege ich eine montenegrinische SIM-Karte her?“, aber auch Grundlegendes. Was ist, wenn das Heimweh zu schlimm ist? Wenn ich mich nicht einleben kann, einsam bin oder mit meinen Aufgaben nicht klar komme?
Was soll ich sagen, kaum eine dieser Sorgen war berechtigt. Hier wird sich so gut um mich gekümmert, sowohl von meinen Vermietern als auch von den beiden deutschen Lehrern, dass mir mein neues Leben manchmal leichter zu fallen scheint, als das alte in Deutschland.
Wie konnte ich ahnen, dass hier ganz andere Ängste plötzlich wieder aktuell werden…
Seit früher Kindheit habe ich eine nicht erklärbare Phobie vor Ziegen mit Bart. Ohne Bart sind sie überhaupt kein Problem, aber schon als Winzling beim Tiere füttern, bekamen nur die ohne Bart etwas vom durch Kinderhände eigenhändig gerupften Gras ab, weil die anderen zu gefährlich wirkten. Jetzt erklimme ich auf einem Zick-Zack-Weg nichtsahnend einen Berg an der Bucht von Kotor, dem südlichsten Fjord Europas.
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Oben soll mit den Schülern aus Deutschland und Montenegro gemeinsam eine Festung und natürlich die mal wieder atemberaubende Aussicht besichtigt werden. Voll darauf konzentriert, nicht schlapp zu machen und auf der Schotterpiste nicht den Halt zu verlieren oder mir mitten im Hang die Bänder zu reißen (wobei das dann ein Fall für die legendäre Dr.Walter-Notfallnummer gewesen wäre… wer weiß, vielleicht wäre ich ja mit dem Hubschrauber aus dem Gelände gerettet worden, auch ganz reizvolle Vorstellung), naja, jedenfalls mit den Gedanken ganz woanders, gehe ich Schritt für Schritt und blicke auf den Boden. Keine gute Idee, denn dann erblickte ich ohne Vorwarnung DAS vor mir:
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Einmal den Blick gehoben, entdeckte ich eine ganze Ziegenherde, die scheinbar nur mir Spalier zu stehen schien und mit bedrohlich-bärtigem Blick mein unsicheres Treiben verfolgte.
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Als ob das nicht genügte, lag auch noch an jeder Wegbiegung eine Kuh, die gemütlich wiederkäute.
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Die Ziegen kreuzten immer wieder meinen Weg. Wäre ich jetzt Schülerin gewesen, hätte ich mich vermutlich kategorisch geweigert, auch nur einen Schritt weiter auf diesem Weg zu tun. Jetzt bin ich aber über Nacht zum Vorbild mutiert und musste mich zwingen, Fuß vor Fuß zu setzen. An dieser Stelle noch mal danke an meinen Homezone-Trainer Felix, deine Momo-Geschichte mit dem Straßenkehrer hat mir hier schon mal sehr geholfen! Was soll ich sagen, ich habe den Ausflug überlebt und mir ganz zufällig eine, wie ich finde, Mega-Überleitung zu meiner nächsten Prüfung gebaut.

Ich hielt mich immer für eine tolerante Person. Auch wenn ich das Wort Toleranz nicht mag, weil ich mich nicht im Recht sehe, meine eigene Lebensweise als so normal anzusehen, dass ich in der Position bin, eine andere neben meiner lediglich zu „ertragen“, beschreibt es in diesem Fall mein Anliegen hoffentlich relativ treffend. Ich toleriere und respektiere andere Kulturen, Religionen im Allgemeinen (auch wenn ich selbst keine habe) und damit zusammenhängende Traditionen. Damit konfrontiert wurde ich in meinem gemütlichen Glashaus-Leben einer behüteten Abiturientin bisher allerdings eher selten. Jetzt kommen die Ziegen wieder ins Spiel. Gestern war die ganze Stadt plötzlich voller Tiere. Von überall ertönte ein Määäääh, immer wieder. Ich beobachtete zwei Männer, die ein Schaf aus ihrem Kofferraum luden, mitten in der Stadt!
Heute begann das muslimische Opferfest. Ich wusste das, mein von Eindrücken aber sowieso überfordertes Gehirn konnte diese Information allerdings nicht mit der vorhergehenden zu einer logischen Kausalkette verknüpfen. Und so traf mich das vom Balkon hängende tote Schaf, das gerade seiner Haut entledigt wurde, heute Morgen völlig unvorbereitet. Ich hatte Gott sei Dank sowieso nichts gefrühstückt, weil heute eine Bootstour auf dem Programm stand und ich, im Bewusstsein meiner Anfälligkeit für Seekrankheit, den eh schon etwas zugemüllten See nicht noch mit den Überresten meines halbverdauten Müslis verschönern wollte, denn sonst hätte es durchaus passieren können, dass ich zumindest einen Teil meines Mageninhalts nicht bis zum See hätte bei mir behalten können.
Ich bin vegetarisch erzogen worden, Fleisch, totes Tier, Schlachtungen und all diese Dinge sind mir fremd und für mich sehr unangenehm. An dieser Ablehnung ist meiner Meinung nach prinzipiell auch nichts Verwerfliches, aber es ist eben eine Tradition, die für Muslime, soweit ich das verstanden habe, sehr wichtig ist. Und so stecke ich in einem Dilemma zwischen Tierschutz und Toleranz. Es ist eine sehr schwere Frage, wie weit die Toleranz gehen sollte bzw. darf und welche Prinzipien man dahinter zurückstellen kann. Ich finde keine Antwort und wähle den feigen Weg, mich nicht zu entscheiden und für mich eben mal kein Urteil zu fällen.

Morgen reisen die deutschen Austauschschüler ab, ich dachte, dann beginnt der Alltag in der Schule (die ich mittlerweile zumindest einmal ganz kurz von innen gesehen habe), doch jetzt sind erst nochmal ein paar Tage Videoworkshop angesagt. Es kommen Schüler aus Berane und Podgorica, die gemeinsam mit Schülern aus Ulcinj einen Dokumentarfilm über die multikulturelle Stadt drehen sollen. Ich habe keine Ahnung vom Filmen, Bearbeiten, Schneiden und auch noch keine Vorstellung, worin meine Aufgabe bestehen wird, aber das lasse ich mal auf mich zukommen. Und Mitte der Woche beginnt dann (endlich) der „Innendienst“ in der Schule, wie es mein Kollege immer drohend nennt. Ich bin gespannt, weil ich dann sehen kann, was ich tatsächlich ein Jahr lang tun werde.

Weil im Moment vieles eben neu und aufregend ist, komme ich noch nicht richtig dazu, mich einzurichten. Der Koffer ist zwar schon lange ausgepackt und die Schränke eingeräumt, aber vieles scheint hier noch provisorisch und erlaubt mir noch nicht das Gefühl, wirklich ein ganzes Jahr hier zu sein. Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es eigentlich schön, diesen Eindruck zu bewahren, dann verliert dieser scheinbar so lange Zeitraum seinen Schrecken. Ja, auch mich hat das Heimweh dann doch mal erwischt, wenn es draußen stürmt und gewittert, man also in seiner Wohnung gefangen ist, dann kratzt die Einsamkeit doch zwischendurch mal an der Tür. Doch noch sind das flüchtige Momente, denn dann melden sich entweder die Katzen, die sich mittlerweile tatsächlich zumindest kurz streicheln lassen, oder mein Handy vibriert und ich finde zumindest digital den Weg zurück in die Heimat und merke, dass ich eben dank Facebook, Whatsapp und Skype nicht einsam bin, nur weil ich alleine bin. Diesen Unterschied zu erkennen ist ein großer Schritt auf dem Weg, sein Heimweh einzudämmen.

Eigentlich wollte ich früh schlafen gehen, weil ich ob der Reizüberflutung eigentlich dauermüde bin, doch weil ich so wenig Zeit zum Schreiben, weder für den Blog noch für mich selbst, finde, musste ich dringend mal ein bisschen was loswerden, bevor so viele wichtige Impressionen wieder in den Untiefen meines Hirns versickern. Immer wenn ich einen Eintrag zu Ende geschrieben habe, fallen mir noch tausend Sachen ein, die die große, weite Welt unbedingt wissen sollte, doch die werde ich an kalten Winterabenden komprimiert an euch weitergeben (Ja, das war eine Drohung 😀 ). Jetzt genieße ich die Ausläufer des Sommers (auch wenn das Wetter im Moment ziemlich bescheiden ist und die Straßen statt zu Fuß besser mit Kanus bewältigt werden sollten…) und versuche, mein neues Leben auf die Reihe zu kriegen. Und nicht mehr so vielen Ziegen zu begegnen!!!

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