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Zweimal Brasilien – Rückkehr in ein halbes Leben (Titel zu 100% nicht von ChatGPT)

Alles im Leben kommt zweimal. 2020,März, Pandemie, GRU Flughafen Sao Paulo. Ich ohne Führerschein, keinen Plan vom Leben, nur, dass ich Brasilien liebe und unterrichten will.

2025, August, GRU Flughafen Sao Paulo, mit Führerschein, immer noch wenig Plan vom Leben, aber Brasilien liebe ich immer noch, ich studiere jetzt Lehramt und bin fast (?) fertig.

8 Monate soll ich also in der Cidade Maravilhosa (dt. „wunderschöne Stadt“) verbringen. Immer noch begleiten mich dieselben Lieder: „Se“ von Djavan und „O linde lago do Amor“. Die sanften Bossa-Nova Töne wiegen mich in den Schlaf, ebenso wie das leicht ruckelnde Flugzeug über der Küste Sao Paulo – Rio sowie einige beruhigende Gedanken, wie z.B. dass mein Wohnungsschlüssel perfekt in der Ablage für meine Nachmieterin liegt. Oder dass das Kühlschrankfach blitzeblank geputzt ist. Mein Auto ist verkauft. Genug Geld auf dem Konto. Nur das Notwendigste eingepackt. Meinen VHS-Kurs erfolgreich beendet. Von meinen Freunden im schicken Faros verabschiedet. Den Tennisschläger bespannen lassen (warum auch immer das so wichtig war). Mit den wichtigen Leute Kaffee getrunken. Das Visum im Pass und vorhin mit einem dicken Stempel versehen. Nun zum zweiten Mal. Auch beim ersten Mal fing alles in SP an. Das traumatische Ereignis kann man alles online und hier nachlesen. 

Der Flug war angenehm, ich habe recht viel gelesen und mich mit meiner Nebensitzerin, einer Lady aus Porto Alegre.

Tag -weiß ich nicht mehr-

Liege auf dem Bett, der typische Lateinamerika-Geruch. Und die Geräusche erst. Krankenwagen flitzen durch die engen Gassen, Hunde bellen, irgendwo schreiende Kinder und ein Feuerwerk. Höre Adriana Calcanhotto und ihre sanften Klänge lassen mich an die gescheiterte Führerscheinprüfung vor 4 Jahren denken. Vor 4 Jahren. Was für Luxus-Probleme und Privilegien. Der gescheiterte Führerschein war tatsächlich mein richtiges Scheitern im Leben.

Ich liege hier auf dem Bett und muss an die Kurzgeschichte von Sibylle Berg denken, in der ein Junge auf einem Bett in Südostasien liegt und sich das Leben spannender vorgestellt hat, als es ist. „Und weg, hatte er gedacht“. Warum kommt der Spaß nicht? Sind so Zitate, die mir einfallen. Ich habe zu dieser schönen Kurzgeschichte (Hauptsache weit) auch eine Unterrichtsstunde gehalten, die ganz gut funktionierte. Diese Schule. Wie weit weg kommt einem diese Episode vor.

Jedenfalls lag in dieser Junge auch auf einem schäbigen Bett, bei grellem Neonlicht und kämpfte mit dem Magen. 

Ich habe keine Magenprobleme, liege auch auf einem leicht schäbigem Bett und denke über mein „neues“ Leben nach. Ich bin für 8 Monate hier. Ich habe in Deutschland einiges aufgegeben, Jobs pausiert, Wohnung untervermietet, Auto verkauft. Es war Zeit, rauszugehen, die kleine Tübinger Wohlfühl-Blase zu verlassen.

Und jetzt düse ich auf dem Rad durch mein geliebtes Rio. Also jetzt ist es geliebt. Bis heute morgen war es ein Traum, eine Illusion, eine Sehnsucht. Natürlich hatte ich viel zu große Angst, habe zehnmal überlegt, was ich anziehe, mich gestern nach Ersatzhandys umgeschaut und war schon davon ausgegangen, dass mein Handy geklaut wird. Und was ist passiert? Bin mit dem Fahrrad bis an die Copacabana gefahren, das handy zum Filmen aus der Tasche gezogen, was natürlich Blicke auf sich zog. Sogar durch den Stadtverkehr von Rio. Ich bin glücklich. So war es doch anfangs auch in Mexiko, es hat zwei Jahre gebraucht, bis mir klar wurde, dass die Chance, beklaut zu werden, zwar höher als in Tübingen auf dem Marktplatz ist, dass ich aber auch nicht sofort abgestochen werde. Und wieder säuselt Adriana Calcanhotto und lässt mich an die gescheiterte Führerscheinprüfung denken. Irgendwie sehne ich mich jetzt rückblickend wieder in diese Zeit zurück. Ich sah in allem und jedem mein Scheitern, jedes Auto, das vorbeifuhr, stand sinnbildlich für den verpassten Lappen. Ich war in Gräben und konnte selbst beim Rummy-Cup-Spielen mit Oma und Opa an nichts Anderes denken. Es war März, genauer gesagt der 21.03.21, genau ein Jahr nach dem gescheiterten Brasilien-Abenteuer. Der 21.3. hat es in sich. Und heute? Fahre ich durch mein Rio, bin nach 5 Jahren endlich wieder da. Und sehne mich nach diesem Scheitern, das mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin.

Vermisse ich Deutschland? Ich bin keine drei Tage da und mache auf Roland Schill (Schillpartei – Hamburg), der nach Rio ausgewandert ist. Vermisse ich die lauen Gespräche in mittelmäßigen Kaffees mit Menschen, die sich mit Mittelmaß im Leben zufriedengestellt haben? Vermisse ich angespannte und verkrampfte Gespräche zwischen Tür und Angel im Brechtbau, während mein Kopf schon längst beim nächsten Termin ist, aber ich zu höflich war, um einfach weiterzugehen? Vermisse ich die zimmergleichen Gespräche über die Schwere des Studiums, Studienleistungen und wie man am besten mit Chat GPT bei Prüfungen betrügt? Apropos Chat GPT: Die Reiseroute für heute in Rio war ganz gut! Nur die Sache mit dem Fahrrad hat mit der Uberfahrer meines Vertrauens, der zwar den doppelten Preis verlangt hat, mir aber eine kleine private Rio-Tour gegeben hat, nicht empfohlen. Rio ist so gespenstisch leer sonntags. Keine Menschenseele auf den Straßen. Ist der schwäbische Geist hier schon angekommen? Werden wie in Esslingen die Bürgersteige hochgeklappt? Ich bin in der (angeblich) lebendigsten Stadt der Welt, mitten im Zentrum, in der Stadt von Samba, Lärm und Lebensfreude und ich sehe keine Menschenseele? Ok, am Strand war mehr los. Aber trotzdem!

Ich muss diesen „Literaturdruck“ in meinem Kopf ausschalten, kaum lese ich ein gutes Buch mit einer fesselnden Protagonisten (aktuell Ida in Windstärke 17), so meine ich, alles und jeden literarisch beschreiben zu müssen. Auch schon im Kopf. Das ist nervig. So wie jetzt zum beispiel. Kurze und abgehakte Sätze. Stakkato-Stil. So ein neuer Wendt-Stil.

Überhaupt diesen Druck in meinem Kopf ausschalten. Bisher klappt das ganz gut, aber ich merke, wie ich alle To-Dos auf einmal und schnell erledigen will. Registrierung hier, SIM da, Steuernummer dort. Chill. Ich kann hier von den Brasilianern echt noch was lernen. 

Zurück zum Vermissen? Vermisse ich das Scheiß-Wetter von September bis April? Die grauen Regentage und die langen Wintergesichter, die nach 16.30 Uhr in Kaffees sitzen? Wenn überhaupt. In Deutschland sitzt doch eh jeder zuhause rum. Vermisse ich das ewige Meckern, das Nicht-Grüß-Gott-sagen, das absichtliche Ignorieren, um keine Unterhaltung führen zu müssen? Die ewiggleichen Themen in den Medien, weil wir nichts Besseres zu diskutieren haben? Die ewigen Aufreißer „Wie überfremdet ist Deutschland“ / „Darf ich meine Wurst noch essen?“ NEIN, HERR SÖDER. Ok, politisch sollte es so schnell nicht werden. 

Aber vermisse ich auch die Herbsttage, an denen ich allein durch Tübingen, Heidelberg oder Stuttgart ziehe und das Laub leise auf die Straßen fällt? Die Winterstunden, in denen ich mich meine dicke Decke in meinem gemütlichen Zimmer einkuschele? Die Autofahrten bei guter Playlist, egal wo hin? Der ein oder andere gute Kaffee mit Freunden, die Momente beim Lesen oder alleine im Kino, bei denen mir reife Gedanken kommen oder der Ansporn, vieles anders machen zu wollen?

Die Zeit wird schon vergehen, denke ich. Auch hier werde ich die schönen und die grauen Tage erleben. Ich bin schon gespannt, wann sich Normalität ausbreitet. Noch ist alles total aufregend. Es wird anders sein, Weihnachten bei 40 Grad zu verbringen. Den Niesel-November am Strand. Am liebsten bin ich gerade allein. In die Küche (in der ich noch nichts gekocht habe…), schleiche ich mich auch nur, wenn frei ist. Neulich habe ich einen netten argentinischen Opi am Strand von Flamengo kennengelernt. Nach drei Sätzen wollte er mich zum Mittagessen einladen. Wo gibt es denn sowas noch? Es hätte ein gutes Gespräch über linke Politik, Milei, Alma und Sheinbaum, Borges und Rulfo werden können, er hätte mich sicher eingeladen, wir hätten Nummern ausgetauscht und ich hätte eine Unterkunft, wenn ich durch Argentinien reise. Aber will ich wirklich durch Argentinien reisen? Habe ich den Mut dazu? Geht es hier nur um meinen eigenen Nutzen?

Ich habe dankend abgelehnt. Und das, obwohl ich mich doch dauernd darüber beschwere, dass keiner mehr nett und offen ist. Aber naja. Hätte dann doch vielleicht meine Alman-Radtour durch Rio nicht gehabt.

Die sanften Bossa-Nova-Klänge erinnern mich an meinen ersten Alman-Deutschlandurlaub auf Rügen – mit den anderen Freiwilligen, die es auch nicht bzw. nur kurz nach Brasilien geschafft haben. Und jetzt bin ich wieder da. Was ein Glück, das ich stellenweise noch nicht begreife.

Ich will erstmal keine Insta-Reels aus Deutschland sehen, ich will Corcovado von Tom Jobim hören. Ich will erstmal keine deutschen Nachrichten und Fabian Köster trifft Markus Söder-Videos auf YouTube, sondern Rede Globo und Porta dos Fundos. Bisschen vermessen, wie ich hier zum Brasilianer werden will. Aber darum geht es nicht. Es geht um das völlige Eintauchen und Einlassen in eine fremde Kultur, Lesen, Lesen, Lesen. Mit der Hoffnung, dass es mir Lebensfreude gibt. Ich habe welche, aber täusche ich sie mir auch vor? Bin ich glücklich?
Auf Hiddensee, auf Rügen, als ich Fake-Copacabana Bilder postet, war ich es. Und jetzt – an der echten Copacabana bei gleichem Ostseewetter.

Ein anderer Tag – wieder Copacabana:

Ich sitze wieder an der Copacabana, dieses Mal mit einem überteuerten Caipirinha in der Hand, ich habe den Preis (noch) nicht gut verhandelt. Die Strandverkäufer, die Getränke, Fleischspieße und ja, auch Marihuana verkaufen, preisen ihre Waren an und quatschen einen direkt auf Portugiesisch an. Was ich ganz toll finde: Wenn man Nein sagt, akzeptieren sie das auch. Hier sagt man übrigens „Valeu“, dann checken sie, dass du Local bist. Oder versuchst, einer zu sein. Viele fragen, woher man kommt und freuen sich, wenn man Deutschland sagt. Manchen huscht sogar ein “7-1” über die Lippen – begleitet mit dem brasilianischen Lächeln und der typischen “Daumen-Hoch-Geste”.

Die Straßenverkäufer huschen vorbei, die Frauen liegen im Bikini im Sand. Und es sind besondere Bikinis: Da Body- und Körperkult hier in Brasilien ganz groß geschrieben werden, muss die “tan line” so dünn wie möglich sein. Damit diese nicht verrutscht, wird Gaffer-Tape in dünne Streifen befestigt und am Körper aufgeklebt – für maximalen Halt und eine dünne helle Linie auf der Haut als “Statussymbol” sozusagen. Wo man auch schaut: Viele durchtrainierte Körper, Hintern, Schenkel. Die Männer spielen Futevolei, eine Mischung aus Volleyball und Fußball (alles erlaubt!), joggen oberkörperfrei am Strand. In anderen Ländern fangen sie an, Bußgelder für Menschen zu verhängen, die oberkörperfrei durch Innenstädte laufen. Hier: Gerne gesehen. 

Alle liegen auf dünnen Strandhandtüchern, vergiss die dicken Handtücher von Oma: Je weniger am Strand liegt, desto besser. Als Anfänger-Strandgänger bin ich die ersten Male mit großen Rucksack, Birkenstocks und Buch, Sonnencreme und XXL-Handtuch gegangen. Hier nicht gerne gesehen. Der Brasilianer nimmt FlipFlops (natürlich havaianas, die trägt hier wirklich jeder!), ein leichtes Strandhandtuch (canga genannt) und sein Handy mit an den Strand. 

Für mich ist ein Strandtag etwas Besonderes, ein Urlaubsaktivität. Hier ist der Strandgang etwas Natürliches, ein gegebener Treffpunkt zum Plaudern, zum Update, zum Chillen. 

Ich versuche, die Augen zu schließen, werde aber durch die Wurstverkäufer und ihr Schreien unterbrochen. Wenn ich die Augen zumache, lassen sie mich in Ruhe, denke ich.

Ein anderer Wunsch – wieder Copacabana: 

Ich besuche hier einen Kurs, der sich unter anderem mit der Frage des Territoriums beschäftigt. Was macht einen Ort, zu einem Ort? Was gehört dazu? Was ist ein Ort, was ist ein Raum, was ist ein Gebiet? Nein, kein Geographie-Kurs, eher eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Raum- und Existenzfragen.

Ich stelle mir seit einigen Tagen die Frage, ob ich nicht nach Rio, an die Copacabana ziehen möchte. Warum will man immer das, was man nicht hat? 

Warum sehne ich mich nach meinem alten Leben zurück, das ich eigentlich zurückgelassen habe?

Die Wintermusik plätschert durch mein sommerliches Zimmer. Es sind die Töne, die ich im Winter, Januar, Februar gehört habe. Irgendwie aus einer anderen Welt und Zeit. Ja, es klingt wirklich lächerlich, nach nur 3 Wochen so zu tun, als wäre ich in einer anderen Welt, als hätten all die Ereignisse der letzten Wochen auch nichts im geringsten mit meinem “neuen Leben” hier zu tun. Und ja, ich bin hier nur für 8 Monate.

Und ja, nun bin ich an die Copacabana gezogen. Ich lese meinen Text und spüre erste Fremdscham. Aber das ist eine andere Geschichte.

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