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Erster Schultag

Ich schließe die Augen und sehe mein Sechstklässler-Ich vor mir. Die Kinder schreien, werfen mit Klebestiften und Ausmalbildchen um sich. Reliunterricht. Es werden die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch besprochen. Die Lehrerin gibt sich Mühe. Mit ihr reden wir beide Praktikanten etwas, sie hat in Tübingen studiert und einmal an einer spanischen Theatergruppe teilgenommen. Den Dozent kenne ich aber leider nicht. Was für eine Vorstellung, dass sie auch einmal eine verpeilte Theologie-Studentin war. Ich blicke wieder auf die Kids in ihren Pullis vom Sportverein Köngen und ihren kleinen Schuhen mit Größe 36: Sie trödeln die Kids bei allem so herum. Wir brauchen etwa 60 min, um einen Anschrieb von der Tafel ins Heft zu bringen und einen Lückentext auszufüllen. War das früher bei mir auch so? Vergeht die Zeit langsamer in der 6. Klasse?

Um die Zeit geht es auch im Geschichtsunterricht in der 6. Klasse: Wie nehmen wir Zeit wahr? Warum spielt Zeit für Geschichte eine wichtige Rolle? Die Schüler sollen einen Zeitstrahl erstellen und wichtige Lebensdaten eintragen. Die meisten erledigen die Aufgabe, einige wenige Jungs zerknüllen ihr Papier und malen Kritzeleien auf. Ich laufe durch den Raum und blicke auf die Daten. Jemand hat als wichtiges Ereignis die WM aufgeschrieben. Nach kurzem Überlegen fällt mir auf, dass nicht die WM 2010 in Südafrika gemeint ist, an die ich mich sehr gut erinnern kann. Natürlich gibt es den „Klassen-Macker“. Ganz in schwarz gekleidet, kurzgeschorene Haare, Sneaker. Ich weiß genau, wie er in fünf Jahren aussehen wird. Ich weiß, dass er noch einige Male zur Schulleiterin muss. Dass er vielleicht der erste ist, der in der 7. oder 8. ein Mädchen kennenlernt, ihr Herz aber bricht. Vielleicht wird er einmal eine Kfz-Werkstatt besitzen. Die Grünen wird er nie wählen, wenn er überhaupt wählen geht.

Der Lehrer vorne ist selbst nicht alter. Sportlich, Holzfäller-Hemd, New-Balance-Sneaker. Er scheint beliebt zu sein, weil er jung und cool ist, sonst hätte die Klassensprecherin (vermute ich) nicht „Geschichte bei Herrn …“ vor der Stunde auf die Tafel geschrieben, ein Schriftzug, der von Blümchen verziert war. Ich blicke den Bizeps des Lehrers an, der uns natürlich sofort das Du anbietet, wie bei den jungen Kollegen üblich.

Ich stelle mir vor, wie er Parties in seiner viel zu kleinen WG-Küche in Heidelberg feierte, wie er sich von seiner ersten Freundin in Heidelberg trennte, um ein paar Jahre später nach Stuttgart in eine Wohnung im Heusteigviertel (aber mit ebenso kleiner Küche) zu ziehen. Ich stelle mir vor, wie er lässig ein Referat über Bismarck im Seminar hält und danach einen Schluck Club Mate trinkt. Er kann natürlich Ski-Fahren und ist in einer WhatsApp-Gruppe mit Namen „JUNGS“.

Die PowerPoint mit den Piktogrammen sitzt, der Arbeitsauftrag ist klar, seine Gelassenheit erfüllt das Klassenzimmer. Als die Schüler an der Tafel ihr Vorwissen über das alte Ägypten sammeln sollen, schreibt ein Junge irgendeinen Blödsinn an die Tafel. Es braucht etwa 10 Minuten, bis ein Junge die Kritzelei gesteht. 6.Klässler-Probleme.

Dagegen ist der nächste Kollege schon eine Zumutung: Deutsch, gleiche Klasse. Wir dürfen uns vorstellen, meine Kollegin wird wegen ihres Handys in der Hand ermahnt. Nach unserer Vorstellung fragt er die Klasse, ob sie Fragen an uns haben. Diese wirkt erstaunlich deplatziert. Als ob 6. Klässler Fragen Gelangweilt blickt er vom Schulbuch auf: Wer will uns seinen Bericht vorlesen?

Wahrscheinlich macht er gerade diese midlife crisis durch, in der er merkt, dass er eigentlich nicht mehr richtig begeistert von seinem Beruf ist, durch die Scheidung von seiner Frau vor drei Jahren aber gemerkt hat, dass er einen Haufen Asche verloren hat. Daher lieber aus dem Schulbuch vorlesen und die Staatskohle kassieren, von der viel in den Hobbykeller fließt.

Die Sechstklässler müssen tatsächlich einen Unfallbericht verfassen. In der 6. Klasse. Für die Versicherung. Die armen Schüler. Der Lehrer quält sie mit der Aufforderung, den Bericht bitte im Präteritum zu verfassen. Er schreibt sogar das Wort PRÄTERITUM extra groß an die Tafel. Nach einer paar Ermahnungen ist er auch wieder weg. Auf meinen Kommentar, dass die Klasse eigentlich ganz nett sei, heißt es nur: „Die können auch anders“. Eindruck bestätigt.

Ich blicke auf die Klasse von hinten: Wo werden diese Kids in 10 Jahren sein? Sitzen in irgendwelchen anderen Klassenzimmern dieser Republik die künftigen Partner*innen, denen sie an Uniseminaren, an Straßenkreuzungen oder auf Tinder begegnen werden? Mit denen sie nach einigen Jahren sparen in kleinen Wohnungen auf das Eigenheim, um sich dann einen Mercedes-Van auf die Kiesauffahrt zu stellen? Wo werden sie arbeiten? Wie werden sie glücklich? Was haben sie gefrühstückt? Küssen sich ihre Eltern noch regelmäßig und halten Händchen beim Gehen? Wurden sie gestern vom großen Bruder beim Fifa-Spielen gepiesackt?

Anders verhält es sich mit der süßen Deutschlehrerin, die in der 10. Klasse als Einstieg die Schüler die Geschichte eines Kaugummi-Papiers erzählen lässt, um zur Kurzgeschichte Taubers Sammlung von Karl Olsberg (der eigentlich Karl von Wendt heißt also fast so wie ich, nur in adlig). Die Klasse ist ruhig, interessiert, teilt freiwillig ihre tollen Texte. Man merkt die Begeisterung in den Augen der Lehrerin – definitiv ein Vorbild. Anschließend noch ein Ethik-Unterricht, gleiche Klasse. Bomben-Einstieg: Erst einmal ein AfD-Wahlplakat an die Wand geklatscht mit der Aussage, dass die Jugend AfD wählt (bei den Wahlen in Ostdeutschland war sie bei Jugendlichen stärkste Partei). Im Laufe der Stunde sollen die Gründe für den Erfolg der AfD bei Jugendlichen herausgearbeitet werden. Auch die Handys dürfen gezückt und Videos als Beispiele für AfD-Propaganda gefunden werden. Obwohl die Meinung zu dieser Partei im Raum einstimmig ist, so gibt es eine differenzierte Diskussion – auch dank eines unterstützenden Theorietextes von David Lanius. Solchen Unterricht wünscht man sich.

 

Glücklich gehe ich ins Wochenende.

 

 

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