Website-Icon Mark no Brasil

Verlorenwasser

Ich bin in einer Gegend, in der die Dörfer Verlorenwasser oder Grebs heißen. Grebs wie Krebs, das e wird aber kürzer gesprochen. Der Tod ist hier nicht weit, die meisten Dörfer sind hoffnungslos überaltet, Durchschnittsalter etwa 75. Kaum Junge ziehen nach, gehen zum Arbeiten und Studieren nach Berlin, Frankfurt, London, manchmal noch Leipzig. Hier ist die Lage noch ein bisschen besser: Nur eine Stunde von Berlin entfernt, gibt es noch einige Pendler und genervte Wessis, die wegen des Stresses, der Luft und des Verkehrs auf das Brandenburger Land ziehen und die Dörfer mit Ökoläden und Buchclubs reaktivieren wollen. Oder gescheiterte Schriftstellerexistenzen, die hier Romane über den Sinn des Lebens schreiben.

Während es hier also noch gut zugeht, sieht das in vielen Ortschaften des Ostens nicht besser aus: Busse fahren hier ein bis zweimal am Tag, wenn überhaupt, die Straßen sehen seit 50 Jahren gleich aus und werden nicht repariert, Dorfläden, Kneipen schließen, das nächste Krankenhaus, Einkaufsmöglichkeit, schlichtweg die Zivilisation ist mindestens eine halbe Stunde entfernt. Die Dörfer sind so klein, dass sie keine Gemeinderverwaltung haben, selten finden sich Bürgermeisterkandidat*innen, die Kommunen werden zwanzig Minuten von hier zwangsverwaltet. So sieht es in etlichen Dörfern in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen aus. Die Menschen vegetieren in ihren riesigen Bauernhäusern vor sich hin, die seit Jahrhunderten in Familientradition sind, und alles soll beim Alten bleiben.

Daher ist der Besuch des Enkels aus dem Westen, besser noch – aus der Nähe Stuttgart – die Sensation. Immer wenn ich komme, weiß die halbe Dorfbevölkerung mindestens vier Wochen vorher Bescheid, ich muss viele Hände schütteln, Schnäpse trinken und ein Update über den Stand des Studiums und die Familiengeschichten geben.

 

Ich liebe dieses Dorf. Gräben heißt es. Es gehört, neben dem Schwabenland und Mexiko, zu meiner Heimat.

 

Etwa 500 Meter von mir peitschen die Autos über die Landstraße.

Die Sonne funkelt durch die dunklen Kiefern, der Boden ist sandig, nichts passiert. Ich stehe und sauge die Leere in mich auf. Auf dem Acker welken die Sonnenblumen, die Maiskolben, Kohl und Rüben vor sich hin. Auch der Klimawandel ist hier angekommen.

In diesem Waldgebiet hat die Sowjetarmee früher ihre Truppenübungen gemacht. Mein Opa hörte als Kind von hier aus die Bomben auf Berlin. Er sagt, dass er sich noch an das bunte Feuerwerk am Himmel erinnert, welches natürlich keines war. Man hatte es den Kindern so erzählt.

Auf diesem Hof hat schon mein Vater seine Ferien verbracht, im Sommer in einer sogenannten LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die kollektivierten Agrarbetriebe der DDR) sich erstes Geld mit Strohstapeln verdient. In einer Zeit, in der eine Kamera ein Luxus war und nur wenige verwackelte Aufnahmen entstanden, zum Beispiel, wie er mit meiner Großtante auf der Wiese hinter dem Hof tanzt.

Ich falle auf. Fahre oberkörperfrei auf einem alten Fahrrad der Marke „Diamant“ und trage meine kleine Kreuzkette wie eine Monstranz vor mir her. Die wenige Blicke, die ich treffe, mustern mich sofort. Der Junge passt hier nicht her. Und die Kirche hat hier schon längst keinen Einfluss mehr.

Ich fahre weiter, höre gar nicht mehr auf zu fahren. Hier sind die Straßen schön flach, so gut wie keine Höhenmeter. Man merkt nicht, wie man Kilometer für Kilometer zurücklegt. Die Strecke ist oft sandig, mal muss ich mit dem eleganten Damenrad abbremsen, mal bremst das Rad von alleine. Ein paar Vöglein zwitschern. Es ist so ruhig hier, es ist kaum auszuhalten. Kilometerweit kann man sich mit den Augen zwischen den hohen Kiefern verirren, man denkt, es handle sich um eine optische Täuschung. Ich halte kurz an. Betrachte die weiten Felder, auf denen sich ein Rabe vergnügt.

Zeit für Selbstreflexion, es ist so still, ich kann meine innere Stimme endlich hören. Daher erschüttert es mich, wenn mich ein Motorrad oder ein sonstiges motorisiertes Fahrzeug überholt.

Plötzlich entdecke ich eine Kuhherde, etwa 40 Tiere, die mutterseelenallein auf einer riesigen Fläche, die Fernsehsendung Galileo würde sagen 4 Fußballfelder groß, weiden. Ich taste mich vorsichtig heran, will nicht stören. Da steht also unsere Milch. Unsere Nahrung. Einige Kühe dösen in der Sonne, manche grasen, manche scheißen, so laut, dass man es hört. Ein Kälbchen irrt über die Wiese, sie sieht aus wie die von Milka, hätte mein vierjähriges Ich. Traurig, dass wir Kühe nur noch aus Fernsehwerbungen kennen. Sie leben vor sich glücklich, tun keiner Fliege etwas an, im Gegenteil bekommen von den Insekten sogar ein Hautpeeling! Und dann landen sie auf unserem Grillteller. Oder bekommen die Milch geklaut für unseren Proteinhaushalt und die Cornflakes.

So ruhig und friedlich will ich auch sein. Plötzlich entdeckt mich eine braun-weiße Kuh und muht. Sofort wedeln alle Schwänze der Herde. Erhöhte Alarmbereitschaft. Ein Eindringling. Ich entferne mich. Sie grasen weiter.

Ich setze die Tour fort, fahre weiter auf Feldwegen, die Sonne brutzelt mir auf den Rücken.

Selten war ich so ruhig. Die Universität, die Freunde, die Politik, die Sorgen sind so fern wie noch nie.

Was hat diese Landschaft schon alles miterlebt? Zwei Weltkriege mitgemacht, Unwetter, Hitze, Rodungen standgehalten.

Sie blieb unbekümmert. Der Mensch konnte sich drehen und winden, Waldgebiete aufkaufen und Bäume roden, die Natur rächt sich, wächst nach.

Dass Politik hier so fern ist, stimmt jedoch nicht so ganz. Gestern haben wir eine Fahrradtour in einen Ortsteil von Gräben, Rottstock, gemacht, der sieben Kilometer entfernt ist. Der Hauptort Gräben hat vielleicht 200 Einwohner, Rottstock ca. 150. Zwischen den beiden Dörfern ist nichts. Kiefern, Felder, Sand und Straße.

Jedenfalls befindet sich in diesem Ortsteil eine Wirtschaft, in der wir schon einige achtzigste Geburtstage, Goldene Hochzeiten und weitere Festlichkeiten zelebriert haben. Ich erinnere mich noch an bunte Partyabende mit Plastikhüten, Musik aus der Jukebox von DJ Ronny aus dem Nachbardorf, Spanferkelplatten, gedünstetes Gemüse, Polonaisen und und und. Heute sind wir beim Besitzer und Gastwirt eingeladen. Auf dem sauberen Hof parken einige Baufahrzeuge, alle Wände sind aus wunderschönen alten Ziegeln. Unter einem dunkelgrünen und wahrscheinlich nicht ganz billigen elektrischen Sonnendach sitzen zwei Männer. Einer davon im weißen Lacoste-Hemd, dickbäuchig, rosiges Gesicht. Der andere trägt ein schulterfreies, verschwitztes Top. Sein ganzer beleibter Körper ist voller Schmutz und Dreck. Er sieht aus wie ein Bauer, der gerade vom Feld.

Ich kann mir vorstellen, wer der Gastwirt ist.

Brav schüttele ich die Pfötchen, setze mich hin. Sofort wird mir ein Bier angeboten, ich lehne dankend ab, hatte ja gestern schon zwei. Das Gespräch ist belanglos, zunächst geht es um die diesjährige Ernte, die Schicksale irgendwelcher Dorfbewohner*innen, die ich nicht kenne.

Doch dann wird es plötzlich politisch, hier ein paar Auszüge und Zitate:

„Was dieser Putin da macht, ist sicherlich blöd. Aber wir müssen ja weiterhin Kontakte nach Russland haben. Wir brauchen das Gas“

„Diese Politiker – ich habe sie alle NICHT gewählt – werden Deutschland noch den Gnadenschuss geben“

„Die rote Brut hier“ (gemeint war das erfolgreiche Abschneiden der SPD in der Region)

„Unsere Demokratie hat versagt. Schauen wir uns China oder Russland: Da entscheidet einer und dann ist Schluss. Schicht im Schacht. Schnelle Entscheidungen. Das kann ich mir auch für Deutschland vorstellen“.

Ich muss mich bei diesen Stammtischparolen wirklich zusammenreißen. Soll ich Missionar für die Demokratie spielen? Heute nicht. Ich werfe ein paar Fetzen in den Gesprächsmixer

„Also in einer Diktatur würde ich auch nicht gerne leben“

Überzeugt das? Nein.

Mein Opa zieht sein freundlichses Sonnengesicht auf. Er will vermutlich das Thema wechseln.

Solche Gespräche spielen sich zu tausendfach in dieser Minute ab in Deutschland, und ja, leider auch einige davon im Osten.

Ja, die Politiker sind alles Verbrecher, belogen und betrogen. Aber selbst etwas tun? Fehlanzeige.

Ich denke an meine zweite Heimat Mexiko, an Korruption in Millionenhöhe, an bittere Armut, Menschen, die sich nicht mehr Reis leisten können. Marode Schulen ohne Lehrer, überfüllte Krankenhäuser, Menschen, die wegen Covid elendig verendet sind. Auf den Straßen, die aus Schlaglöchern bestehen. Eine Oberschicht, die sich immer stärker bereichert, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet.

Ich blicke mich um. Gepflegter Englischer Rasen, ein teures Carport, stabile Autos. Hier ist Geld. Dem Mann geht es gut. Da es durch Corona mit der Gastwirtschaft den Bach hinunterging, hat er sich auf den Vertrieb von Kohle spezialisiert. Daher erscheint seine Hasstirade umso absurder.

Kurze Verschnaufpause. Eigentlich ist die Welt, zumindest hier, noch in Ordnung.

Die mobile Version verlassen
Zur Werkzeugleiste springen