Ich liege hier und bin. Bin einfach. Neben mir die Nacht. Lichterloses etwas.
In derselben Zeit vergeht die Zeit. Überall auf der Welt hassen sich Menschen, lieben sich, streiten sich, versöhnen sich wieder, ändern ihren Beziehungsstatus auf Facebook, schleudern CO2 in die Atmosphäre, bauen Legoburgen für ihre Kinder. Immer. Zu jeder Zeit. Egal, was passiert. Komme zur Ruhe. Die Nichtaktivität löst die größte innere Aktivität in mir aus. Mein Körper registriert, dass ich auch mal nichts mache und regt wichtige Regenerationsprozesse an.
Gerade ist es still in meinen Breitengraden. Keine Autos, keine quirligen Passanten, gelebtes Nichts. Ob ich hier liege und bin oder auch nicht bin, macht keinen Unterschied. Wenn die Sonne aufgeht, beginnt der verrückte Zirkus von Neuem. Aufstehen, arbeiten, Miete bezahlen.
Wenn ich mit 140 über die Autobahn brettere, möchte ich manchmal einfach anhalten. Das Auto abstellen. Mich auf dem warmen und weichen Asphalt legen. Unter die Autos schauen. Unsichtbar sein, den Motorgeräuschen lauschen. Kleine Gänseblümchen beim Wachsen beobachten, die am Rande des tristen Graus ihr neues Zuhause gefunden haben.
Manchmal möchte ich in U-Bahn-Stationen stehenbleiben und ein Tänzchen tanzen. Das Gepäck beiseitelegen. Und mich einfach nur am Leben erfreuen. Wie in Trance.
Wenn ich samstags faul im Bett herumliege, möchte ich aufstehen, die Hose ausziehen und die kalten Beine gegen eine x-beliebige Häuserwand pressen. Durch die verkaterte Stadt laufen, das Vögelzwitschern hören. Einfach ich sein. Das Leben bei den Hörnern packen.
Mich in mein altes Klassenzimmer stellen, die Gedanken, Gefühle und Stimmen von damals fühlen. Draußen schlafen die Kinder noch, spielen, machen alles andere als Schule. Der Ort ist verlassen. Orte werden manchmal nicht mehr gebraucht. Man könnte sie eigentlich kurzzeitig ausradieren, es würde keiner merken. Genauso spannend wäre es, im tiefsten Winter in ein Freibad zu gehen. Oder im vor Sonne triefenden Sommer auf eine Schlittschuhbahn.
Ist das nicht die Aufgabe unserer Gesellschaft: Dann auf etwas zu schauen, wenn niemand mehr hinsieht?
Heutzutage halten sich Themen 2 Tage in den Medien. Dann redet keiner mehr darüber. Beispiel: Die Afghanistan-Katastrophe. Ende August machte ich überall die GRÖSSTE EMPÖRUNG breit, Geschichten von Geretteten wurden über die Sozialen Netzwerke geteilt, wilde Artikel über die Taliban, sogar (unabsichtlich) gestellte Fotomontagen über die Situation der Frauen. Kaum hatte sich die Erde zweimal um sich selbst gedreht, ging es wieder um die Bundestagswahl. Oder um irgendetwas anderes. Ist ja heute nicht mehr so wichtig.
Ich frage mich oft: Wie ist es gerade an einem anderen Ort auf dem Erdball? Wenn ich mich für Sekunden wegbeamen könnte, um als unsichtbare Gestalt, auf einem Stein meditierend, irgendwo auf der Welt zu erscheinen, ich würde meine Niere spenden. Ich würde da sitzen und beobachten. Wie neulich. Da war ich im Supermarkt, habe mich einfach zwischen die einkaufende und hastig den letzten Joghurt in den Einkaufswagen schmeißende Menge gestellt. Gesprächen gelauscht.
„Frohes Neues“ „Euch auch“ „Was macht ihr hier?“ „Ach Du, ein paar Kleinigkeiten einkaufen für das neue Jahr“ „Ein paar Kleinigkeiten ist gut (lacht)“ „Seid ihr gut reingekommen?“ „Ja, Gott sei Dank, alles gut, alle gesund. Ihr auch?“ „Ja“ Ja, mein Mann freut sich schon wieder auf die Arbeit“ „Meiner auch“ (Alle lachen). „Bin mal gespannt, was dieses Jahr noch so kommt“ „Ja, mit diesem Corona… Man weiß es nicht“ „Auf jeden Fall, guten Einkauf und bis bald im Geschäft“?
Es ist erstaunlich, wieviel man über Beziehung, Sympathie und Lebenssituation von wildfremden Menschen sagen kann, wenn man einem x-beliebigen Gespräch aus sicherer Distanz beiwohnt.
Die Verkettung von Ereignissen macht mich zunehmend nervös. Was wäre, wenn ich jetzt nicht hier liegen würde? Wenn ich aufgestanden wäre, gefrühstückt hätte und in den Wald gegangen wäre?
Manchmal muss ich den Kreislauf durchbrechen. „Nichts geschieht ohne Grund“, steht ja – nicht ohne Grund – im Poesiealbum.
Es ist schön, genauer hinzusehen, die Stopptaste zu drücken und einen Perspektivwechsel zu wagen.