Puh, einfach mal das Handy zur Seite legen. Keine Mails, kein Instagram, keine Verpflichtung. Fühlt sich gut an. Ich habe Urlaub! Ein paar Tage Türkei.
Die letzten Wochen und Monaten waren – man kann es nicht anders sagen – wahnsinnig intensiv für mich. Nicht nur die allgemeine Weltlage bleibt angespannt – was in Afghanistan gerade passiert, ist einfach nur grauenvoll – auch bei mir im privaten Umfeld und in Esslingen tat sich etwas.
Seit meinem letzten Beitrag auf dieser Plattform, die ich schmarotzerhaft immernoch für sämtliche Texte nutze (obwohl es ja eigentlich als Reiseblog für Brasilien gedacht war, naja), habe ich meinen Führerschein bestanden (echt knapp!), ein paar Tage Urlaub in Brandenburg verbracht, das zweite Semester (natürlich digital! :() bestritten und im Oberbürgermeisterwahlkampf (schööön langes Wort) mitgeholfen – zum Glück erfolgreich!
Ich habe in den letzten Monaten mehr gelernt, als in gefühlt 10 Semestern. Bin über mich hinaus gewachsen (Spruch von den Grünen aus der Landtagswahl geklaut!) und habe unfassbare Menschen kennengelernt. Das versuche ich, in diesem kleinen Text zu verarbeiten. Heute beginne ich mit dem ersten Teil. Viel Spaß!
Jung, alt, Mann, Frau, Familie, kinderlos, Single. Alle kommen sie hinein. Mit einem Stück Papier. Sie kriegen Stift und noch ein weiteres Stück Papier und müssen in vier Plastikwände. Dann mit dem Stift zwei Striche an einer bestimmten Stelle machen. Dann falten sie das Papier einmal und werfen es in einen großen Topf. Das war‘s.
Nach etwa zehn Stunden wird der große Topf geöffnet und alle Zettel plumpsen hinaus. Nun wird gezählt. Wieviele haben ihr Kreuz wo gemacht?
Das nennt sich Demokratie. Sagenhaft. So einfach, so schnell. Menschen bestimmen, wer in ihrer Kommune, in ihrem Land bestimmt. Durch zwei einfache Striche aus einem Plastikkugelschreiber. Eine Sekunde Aufwand. Am Schluss sind alle Zettel gleich – niemand weiß, von wem welche Stimme kam. Die Stimme des Universitätsprofessors und der geschäftsführenden Gesellschafterin ist genauso viel wert wie die der alleinerziehenden Putzfrau oder die des Fließbandarbeiters beim Daimler.
Es ist wahnsinnig spannend, Menschen bei der Wahl zu beobachten. Natürlich nicht in der Kabine, aber als Wahlhelfer. Man sieht einen Querschnitt der Gesellschaft und man ermöglicht diesen Menschen ihre Stimmabgabe. Man sieht nicht, wer wen wählt und das ist auch gut so. Randnotiz: wobei es natürlich einen heimlich schon wahnsinnig interessiert, wer wen gewählt hat und man im Kopf schon mit sich selber mit sich Wetten abschließt. Vom äußeren Erscheinungsbild auf die Wahlentscheidung zu schließen, gestaltet sich aber nicht immer sehr einfach.
Ob mit Gehhilfe, Ehemann, kleinen Kindern, Flipflops mit Sand vom letzten Urlaub, Blaumann oder im morgendlichen Sportdress: Die unterschiedlichsten Menschen fanden am Sonntag, den 25. Juli von 8 bis 18 Uhr den Weg in das Esslinger Wahllokal. Beim Wählen lernt man einen Querschnitt der Gesellschaft kennen.
Warum beschreibe ich diesen Moment so ausführlich? Weil er für mich von großer Bedeutung war. Es war nicht nur meine allererste Oberbürgermeisterwahl in meiner geliebten Heimatstadt – nein, die Wahl war auch das Ende eines Wahlkampfes, den ich über drei Monate intensiv begleiten durfte. Ich habe von Mai bis Juli für den von der SPD unterstützten Kandidaten Matthias Klopfer gearbeitet, der an besagtem Sonntag zum Oberbrügermeister der einstigen freien Reichsstadt Esslingen am Neckar gewählt wurde. Meine Erfahrungen während dieses Wahlkampfes möchte ich hier mit euch schildern.
Also. Es ist Sonntag, der 25. Juli. Drei Monate von intensivster Wahlkampfarbeit kamen zum Abschluss. Der Wahltag am 25.07. bedeutete auch: Jetzt war alles getan. Jetzt war keine Kampagne mehr nötig. Die, die man hatte erreichen wollen, hatte man (hoffentlich!) erreicht.
Der ganze Schweiß, die Mühe, die (Fast-)Tränen. Zahlreiche Infostände, Plakatierungen, Aktionen, unzählige Social-Media-Postings, Nachbarschaftstreffen und Überzeugungsgespräche später waren wir am Schluss angelangt. Jetzt am Sonntag war Wahl und man konnte niemanden mehr überzeugen.
Auf dem Wahlzettel: Drei Kandidat:innen. Matthias Klopfer, Gabriela Letzing und Daniel Töpfer. Alle drei waren zuvor auch bei der Hauptwahl am 11. Juli angetragen und hatten jeweils 30,6 (Klopfer), 1,2 (Letzing) und 31,7 Prozent (Töpfer) der Stimmen erreicht. Viele reden von einer Stichwahl, die es in Baden-Württemberg so gar nicht gibt: Es darf im zweiten Wahlgang jede*r noch einmal antreten, der dies möchte. Auch neue Kandidat*innen dürfen mit ins Boot gehen. Gewählt ist im zweiten Wahlgang, wer die meisten Stimmen, also die relative Mehrheit, auf sich vereint.
Ein älterer Mann kommt keuchend aus der Kabine. Schwer atmend schwäbelt er: „Klopfer, Töpfer, Klopfer, Töpfer, Klopfer, Töpfer, Klopfer, Töpfer – bei dieser Namensgleichheit weiß man ja gar nicht, wen man wählen soll!“
Und so strömten im 10-Minuten-Takt immer neue Menschen – manche mir bekannt, manche unbekannt – in unser Grundschulklassenzimmer hinein, um ihr Kreuzchen zu machen. In meinem Wahllokal waren ca. 700 Wähler*innen wahlberechtigt. Etwa 20% hatten ihre Bürgerpflicht schon per Briefwahl ausgeübt (was der allgemeinen Esslinger Tendenz entsprach).
Es regnete nicht (bei Regen bleibt so mancher Wähler zuhause), noch war das Wetter zu schön (nicht, dass manch einer noch die Wahlkabine gegen ein Schwimmbad tauscht!). Eigentlich die optimalen Bedingungen für eine erfolgreichen Wahl.
Meine Aufgabe war es, den oder die Wähler:in zu begrüßen, falls möglich die Wahlbenachrichtigung zu prüfen, die seit der Hauptwahl am 11. Juli gültig war (erstaunlich viele hatten sie noch dabei) und der wohl wichtigste Akt: Den Stimmzettel herauszugeben.
Es herrschte gute Stimmung. Jede Stunde notierten wir den Zwischenstand der Wahlbeteiligung an der Tafel, zwischendurch gab es mal Brezeln und witzige Gespräche über so manches Wahlerlebnis. Und am schönsten war es, wenn der Grund für die ganze Verfanstaltung erschien: Der Wähler. Viele älter, Durchschnitt um die 60, manche mit Kindern, manche Hand in Hand als Paar, erstaunlich wenig junge.
Natürlich blieben die Gedanken nicht auf der Pausetaste: Wen würden sie wohl wählen? Sahen sie eher wie Klopfer- oder wie Töpferwähler*innen aus – falls sich so etwas überhaupt anhand des Aussehens bewerten lässt?
Die Wahl ist geheim. Steht im Grundgesetz. Und das ist auch gut so. Trotzdem stieg die Nervosität mit Blick auf die Schließung der Wahllokale um 18 Uhr.
Die Wahl verlief ohne größere Zwischenfälle. Wobei es mich dann doch wunderte, wie wenig Menschen am Ende dann doch zur Wahl auftauchten: Die gesamte Wahlbeteiligung betrug 40,1% im 1. Wahlgang und 38,1% im 2. Wahlgang. Das bedeutet: Weniger als die Hälfte der Esslingerinnen und Esslinger hat es an diesem Sonntag interessiert, für die Zukunft ihrer Stadt und die nächsten 8 Jahre zu stimmen. Dabei waren ca. 70 000 Menschen zur Wahl zugelassen. Und man kann wirklich nicht behaupten, man hätte von der Wahl nichts mitbekommen. Monatelang hingen Plakate, in jeden Haushalt wurden zweimal Flyer eingeworfen.
Wenn man bedenkt, dass die Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl im Wahlkreis Esslingen bei 80,1% lag, dann wird einem mulmig zumute. Und dabei waren wir unentwegt in der Stadt unterwegs – ob am Infostand mitten in der Innenstadt, in den Quartieren, mit mehrsprachigen Flyern vor Supermärkten und Mehrfamilienhäusern oder in den sozialen Medien – eigentlich führte der meiste Weg von jedem Bürger unserer Stadt an den OB-Wahlen nicht vorbei. Dabei ist die Kommunalwahl beziehungsweise die Oberbürgermeisterwahl diejenige, bei der man am meisten mitbestimmen kann: Es geht um Kita-Plätze, Schwimmbäder, Radwege, Einkaufsmöglichkeiten. Dinge, mit denen Du jeden Tag zu tun hast. Dieses Politikfeld ist sehr nah an Dir dran. Und ein Oberbürgermeister hat auf solche Lebensrealitäten einen großen Einfluss – unabhängig von der Politik von Bund und Land.
Egal: Ob viele dieser Menschen nicht wählen gingen, weil sie Ende Juli bereits im Urlaub waren, weil man sie nicht erreichte oder weil sie nicht beteiligt werden wollten. Klar: Natürlich fehlt die mediale Präsenz einer Bundes- und Landtagswahl, Es ist so wie es ist. In Deutschland gibt es keine Wahlpflicht und ich halte das für gut. Man kann Menschen nicht zur Partizipation zwingen.
Trotzdem wird die Frage für die kommenden Jahre sein, wie man insbesondere sozial schwächere und bildungsferne Gesellschaftsgruppen für die Wahl mobilisieren kann. Denn es geht schließlich auch um ihre Stadt, um ihren Lebensraum, um ihre Zukunft. Nicht ohne Grund sind nicht nur Deutsche, sondern auch EU-Bürger zu Kommunalwahlen wahlberechtigt.
Eigentlich rührt es mich, dass es so schlicht und so einfach ist. In anderen Ländern bezahlen Menschen für ein Wahlrecht mit dem Leben. Und in Deutrschland – einem eigentlich volldigitalisierten Land – braucht es nur Stift, Papier, eine Urne, ein Einwohnermelderegister und zur Neutralität verpflichtete Wahlhelfer:innen in einem öffentlichen und unparteischen Raum. Mehr nicht.
Die größte Freude bereitet mir das Auszählen. Es ist 18 Uhr. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Der Wahlgang ist geschlossen. Man öffnet die Urne, in der sich die Stimmzettel der letzten 10 Stunden sammeln. Jede Stimme ist gleich und keiner konkreten Person zuzuordnen. Man faltet die Zettel auseinander und bildet Stapel für die jeweiligen Kandidaten. Mal ein Haken, mal ein schönes Kreuz, das nicht über den Kasten hinausgeht, mal ein hässliches Kreuz, mal ein großes, mal ein kleines mal ein blauer Kulli, mal ein schwarzer – für mich war es immernoch kaum zu begreifen, dass ich gerade aktiv Demokratie mitgestaltete. Das faszinierte mich.
Bei einer Wahl, bei der man nur zwischen drei Kandidaten (bzw. zwei aussichtsreichen Kandidaten) auswählen kann, ist das Rennen also besonders spannend.
Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mein Herz zu dieser Stunde nicht besonders schnell schlug. Natürlich hielt ich mich an alle Regeln und zählte fleißig aus, aber im Inneren hoffte ich, dass es auf einen Sieg von Matthias Klopfer hinauslaufen würde. Im ersten Wahlgang war der Unterschied zwischen Töpfer und Klopfer nur sehr knapp ausgefallen. Auch die Anspannung bei den weiteren Wahlhelfer:innen war deutlich zu spüren – viele waren direkt bei der Stadt angestellt. Es ging also um ihren zukünftigen Chef!
Das Ergebnis in meinem Wahlbezirk war eindeutig. Kandidat Töpfer hatte 30 Stimmen Vorsprung (angesichts der überschaubaren Anzahl an persönlich abgegebenen Stimmen war das ein klares Ergebnis). Ich verließ das Wahllokal schweißgebadet und stieg ins Auto. Auf meinem Handy schaute ich nach den ersten Ergebnissen, die inzwischen ausgezählt waren. Haarknapp war der Vorsprung für Klopfer. Es zeichnete sich ein Kopf an Kopf Rennen ab. Nervös fuhr ich ins Neckarforum, wo die offizielle Verkündung des Wahlergebnisses erfolgen sollte. Es juckte zwischen den Fingern. Wie groß war der Unterschied jetzt? Warum war das Ergebnis so verdammt knapp? Was hätten wir mehr tun können? Waren wir dabei, diese Wahl zu verlieren?
Zehntausend Fragen schossen durch meinen Kopf.
Es war wohl gegen 18:45 Uhr. Ich fuhr ins Parkhaus, stellte das Auto ab (es sollte bis zum nächsten Mittag dort stehen) und rannte in den VIP-Bereich, wo sich mein Chef (Matthias Klopfer), mein zweiter Chef (Landtagsabgeordneter Nick Fink), die Agentur und der SPD-Ortsvereinsvorsitzende aufhielten. Ich blickte in aschfahle Gesichter. „Alles klar, Nick?“, fragte ich zögerlich, als mir die triste Gruppe entgegenkam. „Nichts ist gut, Mark“, antwortete er mir.
Ab diesem Punkt begriff ich, dass es ein harter Abend werden würde.