2020. Vier Zahlen, die so manches durcheinandergewirbelt haben.
In der Nachbetrachtung fällt mir auf, dass dieses Jahr für mich persönlich gar nicht so nervenaufreibend und turbulent war, wie ich es mir ständig einbilde. Selten habe ich mich so auf ein neues Jahr bzw. ein neues Jahrzehnt (!) gefreut wie auf 2021. Andererseits muss ich zugeben, dass dieses Jahr eines der ereignisreichsten und aufregendsten war, die ich je erlebt habe, wenn nicht sogar DAS überraschungshafteste, falls es dieses Wort überhaupt gibt.
Daher hier ein kurzer, für mich persönlicher Jahresrückblick, während ich meinen 2020-Tee behutsam ausschlürfe: Entschuldigt bitte vorab die Länge, es war einfach ein ereignisreiches Jahr!
Alles begann mit Ruhe – in einem Partygasthaus Nähe Berlin. Feuerwerke sprühten, als sie es noch durften, Hoffnung in die Luft, bewegte Hüften, klirrende Sektgläschen, dies das.
Ich war im Januar hochmotivierter Praktikant in einem Verlag, hatte wunderbare Kolleginnen auf Arbeit, versuchte, mich gedanklich und nervlich auf das Brasilien-Kapitel vorzubereiten. Das Erhalten meines Visums nach Monaten Schweiß, Angst, Wut und Trauer (und viel Moos) tat mir hier einen großen Gefallen. Gefühlt stand der Koffer schon Ende Januar im Flur, ich startete diesen kleinen Blog, Freunde und Bekannte wünschten mir alles Gute und verabschiedeten sich höflich. Indes versuchte ich, Projekte abzugeben und innerlich Deutschland lebewohl zu sagen. Irgendwie hörte ich mal in einer Talkshow von einem fernen Virus aus Asien; von einem Wildtiermarkt sollte es kommen. Als Ende des Monats die ersten Fälle in Baden-Württemberg auftraten, wurde ich etwas misstrauisch, dachte mir aber nichts weiter dabei.
Februar: Ich beendete mein Praktikum traurig (an meinem letzten Tag gab es Sekt und eine spanische Fiesta), hatte aber danach alle Hände voll zu tun: Eine Veranstaltung zur Ukraine in Esslingen, die Gründung eines kreisweiten Jugendbeteiligungsformats (später mehr) und die Reaktivierung eines europäischen Vereins bei uns im Kreis. Puh, ich war ganz schön aus der Puste, als ich mich am 28.02. von meinen geliebten Eltern verabschiedete, die zu einer Reise aufbrachen. Wir hatten am Abend zuvor noch Caipirinha zubereitet und meine Mutter war in höchster Präzision meine Hausapotheke noch einmal durchgegangen. Es ist ein komisches Gefühl, wenn du weißt: Jetzt verlässt Du das Nest für 365 Tage.
Den letzten Abend in Esslingen, und dieser ist mir sehr wichtig, verbrachte ich allein mit meinem Bruder im Wohnzimmer. Wir bestellten Burger und schauten uns die finalen Folgen unserer Lieblings-Sitcom How I met your mother an. Es war wunderschön und die Tränen flossen tief, als mich eine Freundin am nächsten Morgen zum Stuttgarter Bahnhof brachte. Adieu, schönes Zuhause.
Mit der Deutschen Bahn und viel Desinfektionsmittel im Schlepptau (man weiß ja nie!) ging es nach Berlin und Brandenburg, wo ich von Oma & Opa herzlich empfangen wurde. Das Lustige: Ich hatte immer noch keine Unterkunft in Brasilien, aber es würde sich schon was finden. Wir aßen griechisch und am nächsten Tag begann das wohl atemberaubendste Seminar meines Lebens: Du bist zehn Tage am Stück an einer See-Location in schönster brandenburgischer Natur, umgeben von dreihundert Freiwilligen, die das gleiche Schicksal teilen wie Du – und die doch unterschiedlicher nicht sein können. Freunde fürs Leben entstanden. Ich bildete mich weiter, reflektierte Privilegien, hinterfragte mir selbstverständliche Machtstrukturen und teilte Intimstes.
Am 10. März nach einer schweren Verabschiedung zurück ins beschauliche Örtchen Gräben, am nächsten Tag stand die langersehnte Reise nach Süden an. „Hoffentlich kann Ihr Enkel fliegen – bei der Weltlage“, sagte eine Bekannte meiner Großeltern bei unserem letzten Abendessen in einem gutbürgerlichen Restaurants. Sie sollte recht behalten.
Tegel, Abflug, ein Ehepaar mit FFP3-Masken (damals kannte ich den Begriff nicht), mir war schaurig. Ich verfasste ein Abschiedsgedicht beim Abflug nach Frankfurt, neben mir zwei SPD-Funktionäre, ich wollte mich mit ihnen nicht unterhalten. Das hatte ich hinter mir. Das Terminal in Frankfurt war LEER, nur drei Flüge an diesem Abend, unter anderem meiner, irgendwie würde alles gut gehen.
Über den schmerzvollen Prozess des Reiseabbruchs, meine geplatzten Hoffnungen und Träume, aber auch schönen Momente in den Tropen habe ich auf diesem Blog schon in aller Ausführlichkeit geschrieben, daher hier eine Raffung der Geschehnisse.
Die Reise gen Süden stellte eine Eskapade in diesem verrückten Jahr dar, ja, gar eine Flucht: Vor dem Vertrauten, Sicheren, Gewöhnlichen – nur um danach in jenes Milieu zurückkatapultiert zu werden. In Belém durfte ich nicht an die Schule, ich war stattdessen spazieren und fühlte mich unsicher und angeglotzt. Trotzdem waren es wunderschöne Tage, die ich nicht missen möchte: Das Probieren exotischer Gerichte, die Caipirinhas zum Trost mit den Mitfreiwilligen, das Umherlaufen ohne Maske und das Kennenlernen meines Zimmers neben einer Amazonas-Kirche. Es verging kein Tag in diesem Jahr, an dem ich nicht an diese sieben Tage zurückdachte: An die Kinder in der riesigen Schule, an die Corona-Ausbrüche in Brasilien, an das sanfte Bossa-Nova Lied, das mir die Landung versüßte, an Nicolau, den herzlichen Pfarrer, der mich so wohl versorgte und an Tiago, meinen Ansprechpartner an der Schule. Bis heute hatten die Kinder keinen richtigen Unterricht – ohne Laptop und Homeschooling, niente, nada. Die Coronazahlen explodierten, das Gesundheitssystem ist überlastet.
2020 war das Jahr, in dem binnen Sekunden Pläne platzten wie Seifenblasen, eine Mail und alles ist dahin. 2020 war das Jahr des Hin- und Hers, des Abwägens, ob man Dinge machen oder lassen soll, ob es sich lohnt, das Risiko einzugehen. Ich wollte in Südamerika bleiben, dieses Corona, was war denn das schon? Aber ich entschied mich um. Und es sollte sich zum Guten wenden. Privilegien und so.
Pünktlich zum Lockdown wieder zurück in Deutschland: Ich blieb wochenlang zuhause und grübelte: Was wollte ich machen? Ich war frei. Keine Verpflichtungen, keine Veranstaltungen, keine Ehrenämter mehr.
Die Zeit zuhause war ein Geschenk, einen Tag nach meiner Rückkehr startete ich ein kleines Online-Projekt: Ich wollte Abiturient:innen und Schüler:innen in den Fremdsprachen helfen. Im Laufe des Jahres gab ich wieder Nachhilfe und auch Sprachkurse (natürlich digital), korrigierte einige Deutschabituraufsätze und produzierte fleißig Videos – eines erhielt einige Tausend Klicks und ich bekam sehr positive Rückmeldung, was mich sehr freute. Ich hatte einen Beitrag geleistet, ohne mein Ego in den Vordergrund zu stellen, wie so manches Mal in der Politik. Mark’s Language Academy machte mir sehr viel Spaß, auch wenn ich es dann einige Monate nicht mehr so aktiv betrieben habe, ich möchte es im kommenden Jahr fortführen. Das Projekt weckte insgeheim meinen Wunsch, Lehrer für Sprachen zu werden, auch wenn ich mich damals insgeheim dagegen sträubte.
Der April war für mich ein perfekter Monat: selten hatten wir als Familie so vielen Zeit zusammen verbracht, ich stand zeitig auf, ging (fast) jeden Tag im wunderschönen Schurwald die Beine vertreten, ernährte mich halbwegs gesund und probierte neue Dinge aus. Mit den Freiwilligen meiner Organisation stand ich in regem Kontakt, das gab Trost, denn die Brasilien-Wunde saß weiterhin tief und so richtig verstehen konnten es nur diejenigen, die das gleiche Schicksal erlebt hatten (obwohl die allermeisten es nicht einmal ins Ausland geschafft hatten). Brav bewarb ich mich für die Ausreise im kommenden Jahr.
Eines Tages im April erhielt ich einen vielversprechenden Anruf: Über das Jugendbeteiligungsformat, das ich im Februar mit aufgebaut hatte, ergab sich eine kurzfristige Beschäftigung im Landratsamt, coronakonform, eigenes Büro. Ich kannte meine Chefin schon und auch der Rest des Teams entwickelte sich zu einem sehr engen und vertraulichen Arbeitsumfeld. Die offene Kinder- und Jugendarbeit, mit der vorher fast nichts zu tun gehabt hatte, entwickelte sich zu einem meiner Interessensgebiete. Meine Tätigkeiten waren höchstspannend, sei es ein Interview mit dem Landrat, eine Sommertour durch die Jugendhäuser im Landkreis oder eine Abfrage zum Thema Schulbegleitung – abwechslungsreicher hätte es nicht sein können. Aus den anfänglichen vier Monaten wurden fünf, jeden Tag stand ich früh und höchstmotiviert auf, um zum Büro in einem großen grauen Klotz, in dem aber sehr viele herzliche Menschen arbeiten, zu radeln. Ich entdeckte ein Faible für Musik der Achtzigerjahre und dass ich nicht jeden Tag ein Hemd tragen muss, wie zuvor. Vor allem war es schön, Menschen zu sehen, sich mit ihnen zu unterhalten, sie in Sitzungen live zu erleben. Das ständige Zoomen und Webexen war mir mittlerweile etwas anstrengend, obwohl ich auch einige Vorteile darin sah.
Es war gut, etwas zu machen, anstatt auf der Couch rumzuliegen. Leider fand ich weniger Zeit für meine kleine Sprachschule und für andere Dinge, dafür bleibt dieser Sommer in meiner Residenz namens Landratsamt unvergessen.
Der Sommer war in aller Hinsicht geprägt durch ruhigere Monate: Der Lockdown war gelockert, außer dem Maskentragen in Bus & Bahn und so manchen Kleinigkeiten, spürte ich von der Pandemie weniger. Ich wurde insgesamt etwas lockerer.
In der Zwischenzeit hatte ich mich in Esslingen und im Kreis weiter politisch betätigt: Ich war kooptiertes Mitglied im Kreisvorstand der Jungen Europäer (den Verein, den wir im Februar reaktiviert hatten) und wurde zum Vorsitzenden der Jusos Esslingen, zusammen mit einer Mitstreiterin, gewählt. Mir war klar, dass ich mir Stück für Stück mein altes Leben vor Brasilien zurückeroberte (Ich war bereits zwei Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der Jusos gewesen). Die Frage, ob das gut oder schlecht war, schob ich vor mich hin.
Als ich dann gefragt wurde, ob ich nicht als Pressesprecher der Jungen Europäer Baden-Württemberg kandidieren wollte, war ich sprachlos. Ich sah darin eine große Chance, anderseits hatte ich damit das Gefühl, mich noch stärker an Baden-Württemberg zu binden. Ich wollte doch eigentlich raus ins Ausland. Und eigentlich war da ja noch die Bewerbung für Brasilien …
Ich entschied mich, es doch zu machen und kündigte meine Kandidatur auf einer Zugfahrt an den Bodensee an – einer der wenigen Ausflüge dieses Jahr, die über den Einkauf im Supermarkt und dem Kaffeetrinken auf Abstand in der Stadt hinausgingen. Spontan hatte ich mich entschlossen, mit Mitfreiwilligen, die auch in Südamerika gelandet wären, ein Wochenende in Überlingen zu verbringen (ich musste arbeiten, meine Mitstreiter:innen waren die ganze Woche durch halb Baden-Württemberg gewandert ich kam nur zum Ausklang an den See hinzu).
Als wir in Konstanz in einem schönen Kaffee saßen, keimte in mir die leise Frage auf, ob ich nicht am Bodensee studieren solle. Dieser Gedanke wurde sofort verdrängt und vertagt.
Der Juli war turbulent – mein Bruder schrieb tapfer sein Abitur und ich war voller Hochachtung, als er sich im Freien sein exzellentes Zeugnis von einem Tisch nahm. Trotz der Umstände war es im Sommer möglich, eine Mini-Zeremonie zu veranstalten. Ich war umso dankbarer, dass mir Corona nicht in der Abiturszeit dazwischenkam – an die Schulzeit denke ich im Nachhinein umso schöner zurück.
Am gleichen Tag sollte ich zum Juso-Vorsitzenden meiner Stadt gewählt werden und teilte mich irgendwie auf.
Die Arbeit lief gut und durch kleine Freuden des Lebens, wie das Treffen mit Freunden, kleinen Wanderungen im Wald oder auch Zoom-Meetings mit den Verwandten aus Mexiko wurde mir wieder einmal klar, wie gut es mi geht und wie schön das Leben doch ist. Trotz Corona. Ein Virus konnte mir das Jahr nicht kaputtmachen.
Im August war Ferienstimmung angesagt, alles fühlte sich etwas wärmer und freudiger an. Ich muss hier auch erwähnen, ich war mächtig stolz auf meine Gartenbräune, die ich mir hart durch einmaliges Sonnenbad in der Woche auf der heimischen Wiese erkämpft hatte.
Eine sehr gute Entscheidung war, meinen Sommerurlaub mit Freunden und Mitfreiwilligen auf der Insel Rügen zu verbringen – just einen Tag, nachdem ich eine deutsch-französische Wanderung am Oberrhein unternahm. Ich musste raus. Urlaub in Deutschland war vor dem Jahr 2020 ehrlich gesagt keine große Option für mich gewesen, aber die Umstände – naja. Trotzdem verliebte ich mich schnell in doch recht große Insel, die Natur, den winzigen Hofladen im 200-Seelen-Dorf Schaprode und die schönen Steine am Wasser. Die Ferienwohnung hatten wir zwei Tage vor Reiseantritt gebucht, man ist ja spontan in jungen Jahren. Geistig fühlte ich mich wie am Mittelmeer, es ging um das Gefühl, nicht um die Location. Die Abende, bei einigen kühlen Bieren am Strand sitzend, bei philosophischen Gesprächen in die Sterne guckend und Schiffe beobachtend, waren traumhaft. Auch ein Brasilien-Ersatz. Grund für die Reise war auch, dass wir als Freiwillige an dem digitalen Nachbereitungsseminar unseres FSJ-Trägers teilnahmen – wobei mir völlig gleichgültig war, dass ich das gesamte Jahr über kein Freiwilliger gewesen war (einige hatten ihr Engagement in Deutschland fortgesetzt). Der Geruch nach frischen Brötchen, die wir morgens vor Seminarbeginn brav aus dem Hofladen holten, gepaart mit dem nach salziger Butter, fruchtiger Marmelade und sandigem Ostseestrand, ließen mich vor Freude fast aufspringen. Drei Tage am Rechner war zwar etwas anstrengend und das Internet wollte aus Trotz nicht funktionieren, trotzdem schwelgte ich in März-Erinnerungen, als ich meine Freunde als kleine Kacheln am Bildschirm sah (subjektiv gesehen lag das alles soweit zurück!)
Ich blieb ein paar Tage mehr als die anderen und beschloss, einen kleinen Roadtrip durch die Republik zu machen und fragte auf Instagram offen, wen ich besuchen sollte (Voraussetzung war, der Ort müsse sich auf der Zugstrecke zwischen Rügen – Mannheim – Stuttgart befinden. So gönnte ich mir einen Tag Auszeit auf der anderen Seite der Insel, auf Prora, wo mein Vater seinen NVA-Dienst abgeleistet hatte. An dem Abend entdeckte ich eine Ringelnatter am Wegrand und radelte mit einem ausgeliehenen Drahtesel so lange über die Insel, bis mir saukalt war und ich keinen Schimmer hatte, wo ich war, vorbei an Bäumen und Wäldern sowie windigen Alleen. Ich erblickte eine Waldlichtung und blieb minutenlang stehen, erblickte das Antlitz von Mutter Natur. Am nächsten Tag ging es für mich weiter nach Berlin, wo ich ein paar Freunde traf und mich ein bisschen verwöhnte – mit E-Scooter fahren. Meine App zeigte mir an, dass ich wohl alkohololosiert fahren würde, obwohl ich stocknüchtern war. Berlin hatte einfach – wie jedes Mal – mein Herz gewonnen. Auf dem Rückweg folgte noch ein Zwischenstopp in Neustadt an der Weinstraße, wo ich mit einer Freundin das Hambacher Schloss erklomm und leider keine Weinschorle probieren konnte.
Ungewöhnliches Jahr, ungewöhnliche Urlaubsorte.
Ach ja, ganz vergessen, Grund für die Tage als einsamer Wolf – die mir wirklich sehr gut taten – war auch, dass ich weiterhin unsicher über meine Studienwahl war. Es ging auch um den Studienort: Jura oder Lehramt in Berlin? Jura oder Lehramt in Tübingen? Oder gar Politik und Verwaltung oder Lehramt in Konstanz?
Ich wusste, dass ich Lehrer werden wollte, meine dubiosen Zweifel erhoben sich aber weiter gegen mein stiefmütterliches Gewissen wie ein schmieriger Anwalt. Warum war das so? Ich quälte mich acht Tage lang durch diese Fragen, führte Pro- und Kontralisten und malte mir mein Leben in fünf, zehn und fünfzehn Jahren aus. Umso breiter war dann mein Grinsen, als ich mir auf der Rückfahrt nach Esslingen zu 98% sicher war, dass ich Lehramt in Tübingen studieren wollte. Ich hatte mich sogar mit einer Jura-Studentin in Berlin getroffen, doch das Bauchgefühl überwog.
Lehramt, weil ich schon seitdem ich denken kann, davon träume, Lehrer zu werden. In der Grundschule Grundschullehrer, am Gymnasium Gymnasiallehrer. Tübingen, weil die Stadt nicht zu groß und nicht zu klein ist und weil ich mein soeben begonnenes Engagement in Esslingen und Baden-Württemberg nicht gänzlich dem Studium opfern wollte. Ich spürte eine gewisse Verantwortung für die Mandate und außerdem gehört für mich das Ehrenamt zum Leben dazu, ich wusste, dass ich mich sonst langweile und ich in Berlin oder wo auch immer auch nach Engagementmöglichkeiten suchen würde, in Esslingen hatte ich sie bereits – außerdem noch einen schönen Nebenjob bei einem Landtagsabgeordneten. Diese starke Bindung an die Heimat mag paradox für jemanden klingen, der dieses Jahr seine Heimat hinter sich lassen und nach Brasilien abhauen wollte. Es fühlte sich einfach richtig an, ich konnte es nicht erklären. Jetzt war nur noch die Frage, welche Fächer …
Der September verging zügig, einige spannende Projekte warteten im Landratsamt auf mich, als ich aus meinem Urlaub zurückkam. Ich genoss die sommerliche Restwärme draußen und die malerischen Sonnenuntergänge.
Eine Zoom-Konferenz jagte die nächste, ich konnte sie irgendwann nicht mehr zählen.
Als ich im Oktober meine Tätigkeit im Landratsamt beendete, war mir mulmig zumute, just in dieser Woche wurde meine Region zum RKI-Risikogebiet erklärt. Nach meinem Weggang veränderte sich wieder alles, Rückzug ins HomeOffice, Krisenstab usw. Ich hatte also glücklicherweise genau in dem Zeitraum gearbeitet, in dem die Zahlen einigermaßen stabil waren und ein recht normales Arbeitsleben möglich war. Auch hierfür bin ich wirklich sehr dankbar. Nur leider musste ich eine Reise nach Münster absagen.
Ich zeigte merkwürdige Symptome, es war Gott sei Dank kein Covid-19, nur eine allgemeine Müdigkeit.
Inzwischen arbeite ich mich akribisch in Uni-Bewerbungen und Uni-Portale ein und wartete sehr geduldig auf die Rückmeldung: Ich war für Deutsch, Französisch und Bildungswissenschaften zugelassen worden, jey! Ich freute mich und genoss den gesamten Monat faul zuhause und suchte weiter nach WGs und Wohnungen – ich hatte einige angeschrieben und entweder gar keine Antwort oder eine Absage bekommen, bei Castings war ich auch, wobei mir wenige zusagten. Umso entspannter war ich dann, als ich eines Morgens die Nachricht bekam, dass ein Zimmer im Studentenwohnheim freigeworden war. Ich ergriff das Schnäppchen augenblicklich, bevor es zu spät war. Nur leider erhielt ich genau an diesem Abend die Nachricht der Universitätsverwaltung, dass das gesamte Wintersemester online stattfinden sollte. Ich hatte mit rund 40% Präsenzlehre gerechnet.
Also nahm ich das Zimmer wohl oder übel, ich konnte es nicht mehr kündigen. Ich konnte dieses Jahr die Wohnung leider nicht so intensiv nutzen, wie ich es gerne getan hätte, was mich ärgert. Aber naja, so ist es nun mal.
Anfang November startete ich also mein Studium, meinen neuen Job und zog zu 1/4 nach Tübingen. Am Tag der US-Wahl bezog ich das Zimmer und es gefiel mir. Nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu viel Schnickschnack. Meine Zimmergenossen habe ich leider erst später kennengelernt, sie wirken wirklich ganz nett. Alleine einkaufen und morgens nicht im kuscheligen Zuhause aufzuwachen, war etwas ungewohnt, das muss ich zugeben. Aber ich denke, mit der Zeit wird sich das sicherlich ändern.
Nebenbei absolvierte ich meine Theorieprüfung für den Führerschein – es war sehr ungewohnt, nach einem Jahr Schulfrei wieder auf etwas lernen zu müssen. Mittlerweile hoffe ich auf eine erfolgreiche praktische Prüfung und dass die Fahrschulen nicht auf unbestimmte Zeit schließen müssen.
Dezember und November verschwammen auf skurrile Art und Weise zu einem dicken, zähen Brei, ich kann beides nicht mehr klar trennen. Eine Herausforderung war sicherlich, mich mit dem rein digitalen Studium in Tübingen zurechtzufinden. Ich kenne bisher keinen meiner Kommiliton:innen so wirklich – wenn man einstündige Veranstaltungen mit Blick in kleine bunte Zoom-Kacheln als Kennenlernen bezeichnen will. Zwar ist es sehr bequem, fünfzehn Minuten vor Beginn eines Seminars aufzustehen, nebenbei zu frühstücken und sich mit schlechter Technik herausreden zu können, aber die Begegnung, das Lernen in der Bibliothek, die Partys fehlen natürlich. Zwar war ich einige Male in Tübingen, aber die Universität habe ich noch nicht von innen begutachten können. Mittlerweile sind auch die Bibliotheken dicht, das macht Recherche und vertiefenden Literaturkonsum viel schwieriger. Doch es gelang mir ganz gut, mich auf das Abenteuer Online umzustellen. Uni ist halt keine Schule, das kann ich ganz sicher sagen. Auch wenn es Präsenz wäre, so vermute ich, wäre es trotzdem unpersönlicher. Dir schmeißt in der Uni keiner mehr etwas hinterher, du bist verantwortlich, deinen Alltag selbstständig zu managen, dir Literatur zu besorgen, autonom zu rekapitulieren und zu lernen. Früher bekam man in der Schule alles auf dem Silbertablett serviert. „Diese Themen müssen in der Klausur sitzen, hier eine ellenlange Liste“ oder so ähnlich. Dieser Umstand spornt mich allerdings an, strukturierter zu arbeiten und mich nicht zu sehr zu verzetteln. Ich lasse mich leider leicht ablenken… Wenn man tagsüber fast ausschließlich studiert und in Vorlesung, Seminar und Tutorium sitzt, muss das Ehrenamt eben in den zehnminütigen Pausen zwischen Zoom-Meetings oder nebenbei erledigt werden. Aber ich beschwere mich nicht, habe ich es mir doch selbst so ausgesucht.
Die Menge an Stoff und Angeboten seitens der Universität habe ich dann allerdings schon unterschätzt. Daher war ich ganz froh, als ich am 23.12.2020 um 18 Uhr die letzte Vorlesung beendet hatte, um mir eine Weihnachts- und Neujahrespause zu gönnen. Den ganzen Tag lesen, faulenzen, Serien schauen, hatte ich bestimmt seit April nicht mehr so intensiv betrieben. Und es fühlt sich gut an. Gleichzeitig weiß ich, dass ich die Batterien laden muss, wenn ich im gleichen Rhythmus weiterleben will. Naja, soviel erstmal dazu.
Danke, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, diesen Jahresrückblick bis hier zu lesen. Ich hoffe, er hat Euch gefallen. Gebt mir doch gerne Feedback dazu.
Ich hoffe von Herzen, Euer 2020 hat euch – trotz der Umstände – einige positive Sachen gebracht. Was habt ihr gelernt? Was lief nicht so dolle oder zumindest nicht wie geplant? Gab es ein Erweckungserlebnis? Teilt es mir gerne mit (hier oder privat), ich freue mich über Nachrichten von Euch.
Es kommen bessere Zeiten. 2021 wird sicherlich ein spannendes Jahr. Sofern keine fiesen Mutantenviren weiter um sich schlagen und wir die Impfung langsam aber sicher über die Bühne bekommen, habe ich große Hoffnung. Eines sage ich mal wahrsagerisch voraus: Eine Rückkehr zur alten, vertrauten Normalität wird es nicht geben. Und das ist auch gut so.
Ich sehne mich nach einer Welt nach Corona, die etwas bewusster, etwas digitaler nachhaltiger und etwas nachhaltiger wird – in all dem, was wir tun.
Die meisten haben dieses Jahr gemeistert und zwar mit Bravour! Natürlich gibt es auch die, die umplanen mussten, schwere Verluste erlitten haben oder ihre Existenzgrundlage aufgeben mussten. Das ist hart, eine ungerechte Bestrafung, echt beschissen. Doch es wird wieder bergauf gehen. Was die Menschen jetzt brauchen, unabhängig ihres persönlichen Schicksals, ist Hoffnung.
2021 kann also kommen. Happy new year!
Fühlt euch gedrückt (- ein Satz, den ihr wahrscheinlich nicht mehr hören könnt)
Euer Mark