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2005

Neulich bin ich bei meinem alten Haus vorbeigefahren. Ich habe dort von 2003 bis 2007 gewohnt. Es war sozusagen unser erster Zufluchtsort, als wir aus Mexiko kamen. Zufluchtsort, das klingt so, als ob wir geflüchtet wären. Das stimmt nicht ganz. Die Sicherheitslage in Mexiko war angespannt. In unser Haus wurde eingebrochen, auf die örtliche Polizei war kein Verlass mehr. Da war der Kontrast groß, als wir von der lauten, hektischen, 500.000-Einwohner Stadt Cuernavaca ins beschauliche Filderstadt-Sielmingen zogen – hier gab es Ruhe, Filderkraut, eine kleine Wohnung und ein Öko-Kindergarten in Fußnähe.

Auf wundersame Art und Weise hat mich dieser Besuch tief berührt. Ich habe mich auf einen Stein in unmittelbarer Nähe des Hauses gesetzt, die äußeren Augen geschlossen und vor meinen inneren Augen eine kleine Zeitreise gemacht.

Manchmal wünschte ich, ich wäre wieder im Jahr 2005. Dieses Jahr fasziniert mich. Ich bin noch ein Kind und besuche einen Waldorfkindergarten. Morgens stehe ich auf, frühstücke ein großes Glas Orangensaft und ein dazu passendes Nutellabrot und habe absolut keine Sorgen. Es gibt kein Coronavirus auf der Welt, die Menschen um mich herum sind heiter und fröhlich. Wir legen hellrote CDs mit deutschen Märchengeschichten in den CD-Player, schlafen ein und gehen nachmittags immer auf den Spielplatz. Am Wochenende kaufen wir bei Real ein, besuchen ein Indoor-Abenteuerspielplatz oder gehen zu Freunden in den Garten, wo wir Brezeln, manchmal sogar mit Nutella, essen. Ich rieche Obstwiesen, den Innengeruch eines hellblauen Passats, dem Wagen meines Vaters und den Duft nach Kamillentee im anthroposophischen Kindergarten. Ich sehe vor mir die Werbung von Meica Kinderwürstchen, Willi wills Wissen-Sendungen und Spongebob Schwammkopf.

Ich bin ein absoluter Auto-Fanatiker und schraube die Sammlermodelle aus ihren Halterungen stets raus, um mit ihnen zu spielen. Auf einem alten Lenkrad, das ich mal zum Geburtstag bekommen habe, habe ich mit Edding ein Dutzend Autologos eingetragen. Ja, ich wechsle die Autos ständig: Aus einer Schatztruhe wird das Armaturenbrett, ein Baseballschläger, von einer Decke umwickelt und in einen umgedrehten Hocker gepresst, fungiert als Schaltkopf. Und ich sammle Autoschlüssel. Sie bedeuten mir sehr viel. Ich müsste schon um die 15 haben. Ich stecke sie gerne in ein von mir gebautes Schlüsselloch aus Pappe.

Außerdem spüre ich das Lego am Fuß. Ich baue gerne Häuser aus dem bunten Duplo-Set. In die großen Villen werden dann die Playmobil-Küchen eingebaut, sämtliche Plastikfigürchen untegebracht und die Modellautos geparkt. Ich verfolge einen integrativen Spielansatz: Alle Spielzeuge, egal welcher Marke und Bauart, dürfen sich in meinen Bauwerken zuhause fühlen.

Auch mit meinen Kastanien unternehme ich sehr viel. Sie werden in die Modellautos gesetzt und brechen zu abenteuerlichen Spritztouren über den weiten, blauen Teppichboden auf. Meine Kastanienfamilie besteht aus den Mitgliedern Luna, Luno und Erika. Ich habe sie eines Herbsttages im Kindergarten aufgesammelt.

Ich habe die Augen geschlossen und mir gedacht: Was, wenn jetzt 2005 wäre? Von außen könnte man dies meinen. Schwäbische Provinz, ein frisch renoviertes Haus, ein älterer Spielplatz. Ich könnte genauso gut in diesem Jahr sitzen und einen Kaffee trinken. Vor 15 Jahren. Die AfD ist von ihrer Gründung noch 8 Jahre entfernt, Gerhard Schröder ist Bundeskanzler. Greta Thunberg ist gerade zwei Jahre alt und vom Thema Klimaschutz haben nur Umweltexperten gehört. Alles ist anders. Aber irgendwie auch gleich. Die Häuser, die Menschen, die darin wohnen. Der Boden, der Sand, die Spielgeräte am Spielplatz. Der Zeitgeist hat sich verändert.

Was wäre, wenn ich die letzten Jahre auf diesem Stein gesessen hätte? 15 Jahre meditiert? Regen, Schnee, Hagel, Sonnenschein? Familien, die ein und auszogen. So wie meine. Die Rollos in unserer alten Wohnung sind herunter gezogen. Wer da jetzt wohl wohnt? Auf der Klingel sehe ich einen Namen. Wer diese Leute wohl sind? Ob sie sich an die gleiche Wand lehnen, an denen ich mit meinen Matchboxautos gespielt habe? In der gleichen Küche stehen, wo wir Gäste bewirtet haben? Sich auf der gleichen Stelle aufs Sofa setzen, an der mein Bruder und ich zum „Dschungelbuch“ einschliefen?

Dann kommt ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt und reißt mich aus meinen Tagträumen. Sie kommt aus dem Nachbarhaus. „Was machst du da?“

Ich verschwinde. Meine Erinnerungen nicht.

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