Am nächsten Morgen sind alle Gefühle wie weggeblasen. Heute geht es also zurück. Der Koffer ist halb gepackt, der Ventilator schnurrt sanft wie ein Kätzchen. Den vergangenen Abend habe ich damit verbracht, kleine Geschenktüten herzurichten und sie mit deutscher Schokolade, persönlichen Präsenten und einer Grußbotschaft zu versehen. Sie sind für die Schüler und die Lehrer, die ich in Belém leider nicht treffen konnte.
Tiago will mich abholen. Um kurz vor 10 ist er da. Wir gehen frühstücken. Er möchte mir zeigen, was eine typische Tapioca ist. Wer jetzt denkt, ich hätte das Beste an brasilianischer Kulinarik schon hinter mir, der täuscht sich: Wir bestellen tapioca mit Kokosraspeln und eingelegt in Kokosmilch. Ich traue meinem Gaumen kaum. Der zarte und unscheinbare Maniokfladen, eingetunkt in den süßesten Nektar aller Kokosnüsse lässt mich alle meine Sorgen für einen Augenblick vergessen. Ich schließe meine Augen und lasse die weiche, süßliche Konsistenz des Fladens langsam auf der Zunge zergehen. Welch ein Geschmacks-Abenteuer.
Weil es so unfassbar geil schmeckt, bestelle ich noch eine Tapioca, dieses Mal mit Käse gefüllt.
Wir sitzen in einer typischen Tapiocaria, einem Restaurant speziell für Tapioca. Tapioca ist eigentlich eine geschmacksneutrale Stärke, die aus der Maniokwurzel hergestellt wird. Sie kommt in Form von feinem Pulver, weißen Stärke-Kügelchen (Perltapioka) oder als dünne Flocken in den Handel – und ist auf der ganzen Welt verbreitet. Nur in Brasilien wird aus ihr der Tapioca-Fladen zubereitet, der unter anderem mit Butter, Käse, Fleisch, gezuckerter Kondensmilch (Milchmädchen) oder Kokosmilch gefüllt wird.
Wie immer reden wir über Gott und die Welt und ich checke meanwhile für den Belém-São Paulo Flug am Nachmittag ein.
Zurück im Auto führt mich Tiago durch die Altstadt Beléms – und ich sehe das Angesicht der alten Hafenstadt mal bei Tageslicht!
Zum Ver-O-Peso-Markt (zu deutsch: Schau auf das Gewicht) wollten wir doch noch! Wir haben nicht viel Zeit, also fahren wir langsam an größten Freiluftmarkt Lateinamerikas vorbei.
Schnell schieße ich noch ein paar Schnappschüsse. Der Geruch nach frischem Fisch, Fleisch und tropischem Obst und Gemüse weht zu uns hinein. Eine Schar von Menschen schlingelt sich durch die engen Marktgassen, Marktschreier preisen tüchtig ihre Waren an. Es ist schwül und die letzten Sachen müssen vor Mittagseinbruch noch verkauft werden. Richtig ab geht es auf dem Markt allerdings gegen 4 in der Früh: Um die Uhrzeit legen die Fischverkäufer mit ihren Booten an und zahlreiche Gastronomen der Stadt erledigen ihren morgendlichen Einkauf. Leider gilt der Markt als ein gefährlicher Ort in Belém, man sollte immer auf der Hut vor fiesen Taschendieben sein.
Auf dem Markt findet man aber nicht nur Dinge des täglichen Bedarfs, auch als Verkaufsort für Heilkräuter und Heilmittel genießt der Ver-O-Peso eine hohe Reputation. Ich habe mir sagen lassen, sogar eingelegte Delfinpenisse können hier erworben werden. Und natürlich nicht zu vergessen: açaí! Der Ort gilt als der Absatzort für die leckeren Amazonas-Beeren.
Wir fahren weiter und erspähen die kolonialen Bauten, die direkt am Markt liegen.
Als die Portugiesen in Belém anlegten, bauten sie sich schicke Häuschen in Hafennähe. Die Hafenstadt Belém entwickelte sich so schnell zu einem strategischen Punkt für die koloniale Klasse: Absteigen am Tor zum Amazonas, das war nun möglich.
Jetzt heißt es definitiv Abschied nehmen – schnell hole ich die Geschenke aus meinen Zimmer, gebe ein Päckchen Tiago und umarme ihn fest. „Auf Wiedersehen“ – das ist schön. Auf dass es bald ein Wiedersehen gibt. Ich werde Tiago und all die wunderbaren Menschen vermissen.
Es ist 13 Uhr und Nicolau und ich gehen noch Mittag essen – ironischerweise in der churrascaria, wo wir am ersten Tag waren. Ich habe jetzt viermal in sechs Tagen churrasco gegessen, herzlichen Glückwunsch! Bin ich jetzt ein echter Brasilianer? Grins.
Und mein Koffer ist immer noch nicht fertig! Er bringt eindeutig zu viel Gewicht auf die Waage und ich weiß nicht, was ich tun soll, bis mir die Idee kommt: Warum nicht einfach ein Paar T-Shirts und die voluminöse Reiseapotheke inkl. Malariamittel und Mückenspray hier in Belém lassen? Ich werde sie in Deutschland sowieso nicht brauchen.
Das Gefühl und der damit verbundene Akt, feierlich Habseligkeiten in einer Schublade, in einer Kommode, in einem Zimmer eines Hauses in Brasilien zu lassen, bestärkt mich darin, schnell zurückkommen zu wollen (und ein bisschen auch zu müssen).
Ich streichle ein letztes Mal die Katzen, schließe meinen Koffer und hieve sie in den Fiat. Zum Abschied verspreche ich Nicolau sobald wie möglich zurückzukommen, ich habe doch angeboten, das Zimmer zu streichen. Schmunzelnd umarmt mich mein brasilianischer Lieblingspastor und fährt weg.
Jetzt bin ich wieder alleine. Der Flughafen in Belém ist recht klein und übersichtlich. Zur Überbrückung bestelle ich ein letztes Mal pão de queijo – wohlig-warme Käsebrötchen. Die Kellnerin hält mich für einen Italiener und wir lachen. Sie wünscht mir Glück, bei dem was komme.
Vor mir sitzt ein Typ im „Remo-T-Shirt“. Vor einem Tag wusste ich noch gar nicht, was das ist. Auch in einer Woche Freiwilligendienst in Brasilien kann man schließlich viel lernen! Die Ablughalle ist voll, warum jetzt noch so viele Menschen trotz der Pandemie fliegen, erklärt sich mir nicht. Leider hat mein Flug gehörige Verspätung, da andere Flugzeug nicht abfliegen können, weil Passagiere fehlen. Sie werden nicht drei, nicht vier, nicht fünf, aufgerufen, nein, sieben Mal ertönt „Last call for Joaquim Marques!“ [Name von der Redaktion geändert] Wenn derbeim dritten Mal nicht aufkreuzt, dann sollense halt ohne ihn fliegen…
Aber ich habe ja noch mein Reisetagebuch, das ich fortführen *muss*. Die entstandenen Pamphlete teile ich wann anders mit Euch 😉
Im Flugzeug habe ich eine ganze Reihe für mich alleine und schlafe ein bisschen. Der Blick von oben auf die riesen Metropole São Paulo kommt mir bekannt vor – nur, dass ich sie dieses Mal nachts sehe und nicht frühmorgens.
Es ist spät, als ich in das Uber steige. Innerhalb meiner Abwesenheit hat sich einiges getan in São Paulo: Die Metrô wird wahrscheinlich geschlossen, auch Restaurants und Bars müssen ihre Pforten dicht machen. Busfahrten von Rio de Janeiro nach São Paulo werden ebenfalls untersagt. Mich erstaunt es, wie schnell auf Corona hier reagiert wurde: Vor Tagen verfolgten wir noch die Meldung, dass Argentinien die Grenzen dicht macht, das Leben in Brasilien ging aber ganz normal weiter. Über 100 Fälle seien es schon in der Megacity, in Brasilien um die 500. Kein Mensch weiß, wie hoch die Dunkelziffer wirklich ist.
Selbst wenn der Präsident am Ausmaß des Virus zweifelt, es für ein „Grippchen“ hält und sich die Atemschutzmaske falsch anzieht, so halten die Gouverneure der Bundesstaaten und die Bürgermeister dagegen. Wenigstens, so berichtet mir der Uber-Fahrer, sei sein Job nicht in Gefahr. Uber-Taxis dürfen weiter verkehren und auch in einer Pandemie müssen die Menschen von A nach B kommen. Über Ausgangsbeschränkungen wird noch nicht diskutiert.
Vergleichsweise schnell sind wir wieder im Hotel. Ich beziehe mein Zimmer und geselle mich zu den anderen Freiwilligen in eine Bar, die seit einem halben Jahr in Brasilien sind und nun auch zurückmüssen. Auch meine Mitstreiter kommen dazu, die in São Paulo geblieben sind. Fröhlich-verzweifelt bestellen wir uns Caipirinhas, knabbern an Snacks und spenden uns Trost, ehe die Bar schließt. Wir sind alle in der derselben beschissenen Lage. Es muss sicherlich auch für sie sehr schwierig sein, sich innerhalb weniger Tage von dem Leben, das man sich in 7 Monaten aufgebaut hat, zu verabschieden.
Bis in die frühe Nacht ziehen wir noch ein bisschen durch die Straßen – und sind verwundert darüber, wie viele Bars tatsächlich schon zu sind. Am Freitag haben wir hier noch, ohne mit der Wimper zu zucken, Party gemacht.
Die ganze Welt im Ausnahmezustand. Und wenn sich das Virus erst in allen Gesellschaftsschichten ausbreitet und die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, können bürgerkriegsähnliche Zustände ausbrechen. So wird es von vielen Brasilianern, mit denen ich spreche, bestätigt. Mir wird sehr mulmig bei dem Gedanken.
Lass uns das alles schnell hinter uns bringen. Gute Nacht.