Ich wache schweißgebadet auf. Trotz Ventilator-Kühlung ist es bolleheiß in meinem Zimmerchen und die Feuchtigkeit taucht das Zimmer in eine leicht tropische Atmosphäre. Ein mittelgroßer schwarzer Käfer krabbelt sich mutig mein Bein hoch, ich verscheuche ihn sanft, was aber nicht viel bringt, da er sich sofort wieder an meinen Zeh klammert.
Ich habe hervorragend geschlafen. Ich blicke auf die Uhr. Kurz nach 10.
Ich mache mein Handy an und sehe neue Mails und neue Nachrichten. Es ist der 16. März: „Liebe Freiwillige, […] bitte buchen Sie sofort Ihre Rückreise nach Deutschland.“ Die Situation mit Covid-19 hat sich anscheinend weltweit so dramatisch entwickelt, dass kulturweit nun alle ausgereisten Freiwilligen zurück nach Deutschland holt. Dass auch die zurückmüssen, die sich bereits seit 7 Monaten im Ausland aufhalten, unterstreicht die Dramatik der aktuelle Weltlage.
Ich atme leicht auf. Da war sie also, die Nachricht, die meinem FSJ und Brasilien nun endgültig ein Ende bereiten sollte. Irgendwie fühle ich mich erleichtert. Gestern hatte ich noch alle Gedanken des Abbruchs geleugnet und für nichtig erklärt, aber ein mikroskopisch kleiner Teil meines Inneren, wusste irgendwie, dass kulturweit uns frühzeitig ausgereiste Freiwillige nicht einfach im Ausland behalten würde. Die Frage „Should I stay or should I go now?“ schwebte wie ein unsichtbares Mantra über die gesamten letzten Tage und Nächte. Irgendwie wussten wir auch wir drei Brasilien-Freiwillige, dass nicht einfach zur Tagesordnung übergangen werden kann.
Trotzdem verliere ich für Sekunden die Kontrolle. Eine kleine Träne kullert mir über die Wange und spüre eine gewisse Wut in mir aufkeimen – gegen wen oder was genau sie sich richtet, weiß ich allerdings nicht. Immernoch ist Corona für mich das ferne Virus aus Asien, hier in Belém gibt es noch keinen einzigen registrierten Fall und man hatte mir gesagt, dass das Virus in wärmeren Gebieten schwerer überlebt. Ob diese Info stimmt, wusste ich damals noch nicht.
Auch vom Goethe-Institut habe ich inzwischen die Nachricht, dass sie es sehr bedauern, aber wir wir ja alle weisungsgebunden an die UNESCO sind und deshalb wieder zurück nach Hause müssen. Anerkennen muss ich jedoch, dass die Menschen vor Ort alles Mögliche versucht haben, damit wir hier bleiben können. Schließlich haben wir sogar unser Einführungsseminar in Sao Paulo ohne mit der Wimper zu zucken durchgezogen. Es hieß zwar, dass die Letztverantwortung bei der UNESCO liegt, die Zeichen am Freitag standen jedoch eher auf dem Verbleib im Ausland.
Ein paar Minuten später hänge ich schon in der Leitung mit a) meinen Eltern b) meinen Brasilien-Mitfreiwilligen und c) dem Goethe-Institut. Es ist ein Hin- und Her, das sich über zwei Tage lang zieht.
Meine Eltern fragen mich, wie es mir in Belém so geht und wie ich angekommen bin und sagen mir, dass ich mich so ruhig und anhöre – ehe die frohe Kunde fontänenartig aus mir herausplatzt. Sekunden Stille am anderen Ende des Hörers. Meine Eltern haben mich monatelang bei allem, was mit Brasilien auch nur im Entferntesten zusammenhing, unterstützt, daher danke ich ihnen für Ihre Trauer und ihre Verärgerung, dass ich wieder zurückmuss (so doof sich das anhören mag.).
Ich spreche mit dem Goethe. Nach erfolgreicher Prüfung, ob wir überhaupt noch nach Deutschland kommen, wird in Sekundenschnelle für uns ein Lufthansa-Flug am Donnerstag gebucht – den das Goethe direkt übernimmt. Auch ein Flug von Belém nach Sao Paulo wird mit wenigen Mausklicken für mich bestellt. Für diese schnelle Reaktion und das Übernehmen der Buchung bin ich sehr dankbar.
Ich verstehe ja alle rationalen und gut durchdachten Argumente, warum ich in dieser schwierigen Zeit zurück in die Heimat sollte – Emotional habe ich dieses Land, diese Gegend, diese Menschen in mein Herz geschlossen, obwohl ich erst seit wenigen Tagen hier bin. Der Kopf sagt ja, das Herz sagt nein. Und ich bin eigentlich jemand, der lieber auf sein Herz hört …
Die überzeugendste Stellungnahme, wieso es besser ist, zurückzukehren, kommt über Umwege an mich heran. Ein Verantwortlicher am Goethe-Institut in Salvador hat über das DAAD-Büro in Belém mitteilen lassen, dass es das Sinnvollste sei, so schnell wie möglich zu gehen. Ich sei ja schließlich in einem fremden Land, in dem ich mich nicht auskenne und dessen Gesundheitssystem bei weitem nicht so gut sei wie das deutsche. Also wenn selbst Menschen, die mich gar nicht kennen und die vor Ort sind, mir raten, das Land zu verlassen, dann ist da schon was dran. Außerdem stimmt es ja schon, dass – sollte sich das Virus hier ausbrechen – mir auch eine schicke kulturweit-Versicherung nichts bringt, wenn die Krankenhausplätze weg sind.
Mir würde es das Herz zerreißen, wenn das Virus nach Belém kommt. Viele Menschen hier leben in bitterster Armut und besitzen keine bzw. keine gute Krankenversicherung. Das Virus macht keinen Unterschied, ob arm oder reich, weiß oder dunkelhäutig, netter Mensch oder Ar*chloch. Und wieso sollte ich, als privilegierter Deutscher, den Menschen auch noch ein Bett im Krankenhaus wegnehmen?
Ich reflektiere eine ganze Weile über meine Privilegien und die Inhalte, die wir auf dem Seminar dazu besprochen haben. Ich merke, dass ich mich unfassbar glücklich schätzen kann, überhaupt zurückgeholt zu werden – von einer Organisation, die sich um uns und um die Weltlage sorgt. Sie könnten ja auch sagen „Scheiß drauf, sollen’se halt ihr FSJ machen, ist ja schließlich ihr Traum“ – die Zukunft würde sie eines Besseren belehren. Ich merke auch, dass ich so dankbar sein kann – für meine momentane Gesundheit, meine Heimat, meine Familie und dass ich in ein sicheres Umfeld mit einer guten medizinischen Versorgung zurückkehren kann.
Ich realisiere, dass angesichts der Pandemie, persönliche Interessen, und ja auch ein verdammt geiles Jahr in Brasilien, dem Allgemeinwohl hintenangestellt werden müssen.
Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. War ich zu egoistisch? Zu sehr auf mich bezogen? Habe ich das bigger picture nicht gesehen? Normalerweise versuche ich, Dinge im größeren globalen Sachzusammenhang zu betrachten. Dieses Mal nicht, da es um ein Jahr meines Lebens ging. Vermutlich.
Ich habe immernoch nicht gefrühstückt.
Ich stehe auf und verlasse mein Zimmer, das nach dem Gehadere mit mir selber und der Außenwelt vor innerer Selbstzerfressenheit noch mehr qualmt.
Auf dem Holztisch in der Küche steht mein Frühstück, das mir Nicolau zubereitet hat:
Ich bin sehr gerührt, dass sich Nicolau die Zeit genommen hat, mir ein Frühstück zuzubereiten. Er hatte es doch gestern noch angekündigt! Die Tapioca ist eine Art Fladenbrot aus Maniokmehl (man kennt’s) und schmeckt sehr gut. Auch wenn ich diesen Text aus dem deutschen Exil schreibe, habe ich den Geschmack noch im Kopf.
Nicolau ist mir ein Rätsel: Er steht jeden Tag um 4 Uhr auf und geht erstmal arbeiten. Ob am Laptop zuhause, eine Predigt vorbereiten oder raus auf die Straße zu einem sozialen Projekt – egal, hauptsache: Arbeit. Da fühle ich mich schon fast schlecht, es ist fast 12 Uhr und ich frühstücke gerade das, was er mir sicherlich schon um halb sieben auf den Tisch gestellt hat. Ist aber köstlich!
Plötzlich poppen einige Nachrichten auf meinem Handy auf. Sie sind von Tiago, meinem Ansprechpartner an der Schule. Er hat schon durch das Goethe erfahren, dass ich leider nicht bleiben darf. „Ich nehme mir den ganzen Nachmittag frei und wir machen was zusammen“ lässt er mich sinngemäß wissen. Ich kann es nicht fassen. Immernoch überwältigt von der Freundlichkeit der Menschen hier.
Später, nach dem Frühstück, erreicht ein Video, das mir Tiago mit der 10. Klasse im Deutschunterricht aufgenommen habt. Ich schaue es mir mehrere Male an: „Haaaaaaaaaaaaalllllllllllllllllllloooooooooooooo Maaaaaaaaaaaaark“ singen sie alle im Chor.
Kleine Zwischenbemerkung: Mein Name wird hier in Brasilien oft „Marki“ [Marqui] ausgesprochen: Konsonanten am Ende werden gerne mit einem „i“ langgezogen, so auch laptop = lapitopi oder fake news = faki newsi. Irgendwie knuffig.
Das wären also die Schüler*Innen gewesen, mit denen ich zusammengearbeitet hätte. Ich breche fast in Tränen aus. Ich bin von der Schule ca. 20 Minuten entfernt, ich könnte einfach hingehen und diese Kinder in den Arm nehmen, darauf hätte ich große Lust. Mache ich natürlich aus gesundheitlichen Gründen nicht.
Es ist kurz nach eins. Nicolau hat Mittagessen von der Sprache mitgebracht: Fleisch, Reis und Bohnen, mit Spaghetti gemischt. Kauend bringe ich ihm die Nachricht bei, dass ich leider nur bis Donnerstag bleiben kann. Er versteht und spricht ein kurzes Gebet. Wir beten für die Kranken und Armen. Irgendwie schön.
Am Nachmittag beschließe ich, alleine auszugehen und die Gegend etwas besser kennenzulernen. Auf google maps schaue ich mir das Viertel, in dem ich wohne, genauer an. Eigentlich ist alles ganz einfach: Laufe ich meine Straße immer gerade aus, komme ich zur Ecke mit dem Supermarkt, in dem Tiago und ich gestern waren.
Pustekuchen! Nachdem ich ein paar Minuten gelaufen bin, verlaufe ich mich. Ich fühle mich etwas unwohl. Mehrere Blicken von Männern aus brummenden Autowerkstätten und von Fahrradkurieren mustern mich. Ich falle anscheinend auf. Ich habe aber auch wirklich einen fatalen Orientierungssinn. Nach dem Weg fragen traue ich mich irgendwie nicht. Für eine Sekunde fühle ich mich nicht mehr sicher. Ich laufe um den Block und versuche, das Pfarrhaus ausfindig zu machen: Fehlanzeige. Langsam werde ich ungeduldig. Plötzlich vernehme ich eine Stimme aus einem Auto. Ich laufe etwas schneller. Ein Mann um die vierzig spricht mich an, ich verstehe gar nichts, wovon er redet, also winke ich höflich ab und laufe entschlossenen Schrittes weiter. Er fährt mir noch ein ganzes Stück hinterher. „Was will der denn von mir?“ Mark, cool bleiben. Nachdem ich immernoch nicht reagiere, macht er einen U-Turn und brettert laut davon. „Nochmal Glück gehabt“.
Nach weiteren endlosen Runden vorbei an kleinen Restaurants, Tante-Emma-Läden und Schönheitssalon bin ich endlich auf der Hauptstraße Duque de Caxias (aber auch nur, weil ich einen freundlichen Herr in einer großen Autowerkstatt eines deutschen Herstellers gefragt habe).
Hier finde ich auch schnell den Supermarkt wieder. Da ich verschwitzt bin, gehe ich hinein und bade im kalten Meer der Klimaanlage. Als Alibi kaufe ich drei Sachen und gehe wieder heraus. Von hier finde ich den Weg zurück zu Nicolau.
Abends, gegen 17 Uhr, holt mich Tiago in seinem Auto ab. Er kommt gerade von der Uni. Zusammen fahren wir die ca. 25 Minuten von meinem Viertel ins Zentrum von Belém. Wie ein neugieriger Hund blicke ich aus dem Fenster. Einkaufsmeilen, viele Menschen auf den Straßen. Wir fahren in die etwas noblere Gegend von Belém, die man an den schicken Hochhäusern und Appartments sowie einer riesigen Shopping-Mall erkennt. Eine feuchte Meeresbrise weht zu uns in Auto. Das Meer kommt bald!
Heute war in der ersten Schule und Tiago erzählt mir, was sie in der ersten Deutschstunde gemacht haben: Tiago hat ihnen Kekse und Kuchen mitgebracht und sie haben ein deutsches Lied gehört. Ich hätte dabei sein können. Als mir nochmals vor Augen geführt wird, dass ich die Schule nicht kennenlernen werde, wechsle ich das Thema.
Wir parken das Auto am Hafen. Einmal ausgestiegen, sind es wenige Schritte bis zu den Docas, der Hafenpromenade Beléms. Neben den Docas befinden sich zahlreiche Hafengebäude und der weltbekannte Markt „Ver-O-Peso“ (zu deutsch: Schau auf das Gewicht) – zu diesem Markt komme ich noch.
Wir spazieren eine Weile an der Hafenpromenade entlang. Das Wasser im Amazonas ist braun, Tiago erklärt mir, dass dies mit der Dichte des Wassers im Fluss zusammenhänge. Eine gefühlte Ewigkeit entfernt von mir erspähe ich Festland. Es ist eine Süßwasserinsel, die mich weit entfernt über die Baía do Guajará, die Guajará-Bucht, grüßt. Von den Docas aus kann man mit einer Fähre zu den gegenüberliegenden Insel fahren. Die Spritztour kostet umgerechnet R$15, knapp 4 Euro. Was viele gar nicht wissen, ist, dass ein Teil von Belém auf einer Insel liegt, Die Anwohner sind also auf die Fähre zum Erledigen des täglichen Bedarfs angewiesen…
Der Anblick ist traumhaft. Die Sonne geht gerade unter und sofort wird der Hafen in ein dunkelblau-violett-rotes Licht getaucht, das mit dem Schein der Straßenlampen harmoniert. Ich blicke in das Wasser. Diesen Anblick hätte ich öfter genießen können – wenn, ach, ihr wisst ja.