Einleitende Hinweise: Dieser Beitrag ist die Fortführung des Beitrags „Abreise“, hier soll es um meine Gefühle und Gedanken, bedingt durch die Absage des FSJ’s, gehen. Diese ehrlichen Gedanken mit euch zu teilen, erscheint mir als sehr wichtig. Dies ist für mich ein wichtiger Teil in der Verarbeitung des Ganzen. Im Nachhinein betrachtet war es die absolut richtige Entscheidung, alle Ausreisen abzubrechen, nur war es natürlich kein leichter Prozess für mich, dies zu akzeptieren.
Ich kann kaum richtig atmen im Uber. Der Fahrer heißt Andersson, trägt eine lila glitzernde Zahnspange und ist um die 30. Er ist sehr freundlich, fragt mich, was ich in Brasilien mache.
Ja, genau, was genau mache ich in Brasilien? Ich gehe in mich. Wir sind alle in einer verdammt beschissenen Situation. Ich denke an alle Freiwilligen, die auf gepackten Koffern saßen, die vielleicht gerade dabei waren, online einzuchecken, die sich gerade von Oma verabschiedeten, die ihren Wohnungsschlüssel gerade an die neue Untermieterin vergaben. Und dann diese E-Mail. Die Mail, die 200 Träume in Luft auflöste.
(Hinweis: Ich schreibe diesen Text im Nachgang, ca. 1 Monat nach Absage des FSJ’s. Es war nicht leicht, zurückzukommen und mich in mein altes Leben einzufinden. Das Niederschreiben meiner Gedanken ist ein wichtiger Schritt in diesem Verarbeitungsprozess. Und ja, die Corona-Situation ist heute eine andere, heute würde ich über viele Dinge anders denken und schreiben. Nur zum Zeitpunkt der Absage war das Thema Corona für mich so weit weg – und ich war schon in Südamerika, deshalb habe ich vieles in dieser dramatischen Situation verharmlost und war sicherlich sehr naiv.)
„Ich möchte an einer Schule in Belém unterrichten. Das ist mein Traum“, teile ich Andersson mit. Wir brettern über die Autobahn. Ich sehe einfache Behausungen, bunte Schilder und eine Brücke, die den gleichen Namen trägt wie mein verstorbener Opa: Oswaldo José. Ein Zufall? Kein häufiger Name.
Ich schwitze in meiner beigen Jacke, in der ich meinen Pass, meine zwei Handys und meine Brieftasche trage.
Ich atme, ein und aus und öffne mittels einer Kurbel das Fenster. Warme brasilianische Morgenluft umweht mich. Ich blicke auf das GPS. 1 Stunde 20 Minuten lese ich auf der Anzeige.
Was kann ich nun tun, was sind die Optionen? Ich möchte nicht zurück nach Deutschland. Seit 9 Monaten, einem Dreivierteljahr bereite ich mich mental auf diese Abreise vor. Ich habe mich von meinem alten Leben verabschiedet, allen meinen Freunden, meiner Familie lebewohl gesagt. Ehrenämter fallengelassen. Ich bin 19, war bereit für das große Abenteuer, endlich raus von zuhaus, endlich weit weg von meinem sicheren Hafen Esslingen, endlich etwas Neues, Aufregendes, Unerwartetes. In meinem Traumland, in das sich schon seit einem Jahrzehnt einreisen wollte. Und dazu eine Tätigkeit, die mir nicht mehr Freude bereiten könnte: Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und das Unterrichten. Wie vielen Menschen habe ich davon erzählt? Wie viel Mühe in Visa, Dokumentenbeschaffung, Impfungen gesteckt? Wie oft dara gedacht, wie ich locker in FlipFlops durch Belém schlendere und mich in meinem neuen Leben wohfühle?
Kulturweit wird doch nicht den Freiwilligen, die zufällig früher ausgereist sind, ihren Freiwilligendienst ermöglichen, während der Rest in Deutschland festsitzt? Oder doch? Ich meine, ich bin doch schon im Land. In Brasilien gibt es gerade einmal 15 Fälle (zu dem Zeitpunkt), in Deutschland über 3000. Eigentlich bin ich doch sicherer hier, oder? Das war mein zentraler Gedanke.
(Hinweis: Im Nachhinein sind diese Gedanken total egoistisch und auf mich fixiert, das ist mir bewusst. Irgendetwas in mir hielt wohl daran fest, dass ich doch bleiben könnte. Falls sich jemand also durch diese Zeilen verletzt fühlt, bitte ich um Entschuldigung.)
Ob ich schon die E-Mail bekommen habe? Leider kann ich es hier auf der Autobahn nicht nachschauen. Deswegen unterhalte ich mit Anderson weiter über seine Herkunft und São Paulo. Dass der Karneval eine großartige Sache ist, erzählt er mir.
Egal was passiert, ich bin in Brasilien. Auch wenn ihr nur zwei Tage hier bin, so war ich wenigstens hier. Ich habe ein Hotel in São Paulo bis Sonntag und sogar einen Weiterflug nach Belém.
Oder soll ich nach Mexiko zu meiner Familie? Mexiko, dort schlägt mein Herz doch auch. Ich könnte mich schon mal nach Praktikumsplätzen in Mexiko-Stadt umschauen, vielleicht bei Stiftungen oder anderen NGOs. Der Gedanke, nicht nach Deutschland, sondern nach Mexiko gehen zu können, beruhigt mich. Für einen kurzen Moment denke ich auch daran, ein Aussteigerleben zu führen und für einige Zeit in Südamerika unterzutauchen.
Wenn ich im Hotel bin, rede ich erstmal mit den Verantwortlichen vom Goethe. Und dann sehen wir weiter. Ich lasse mich leicht in den Sitz fallen.
Wir sind im tiefsten Stau von São Paulo angelangt. Andersson winkt einen laufenden Zeitungsverkäufer herbei und kauft sich eine regionale Zeitung. Auf der Titelseite ist ein überdimensionales Virus zu sehen, darunter die fette Überschrift: O Coronavírus – uma pandemia global – Das Corona-Virus, eine globale Pandemie. Zum allerersten Mal keimt in mir der Gedanke, dass Corona kein lokales Grippchen aus China ist, das nach zwei Tagen vorbei ist, sondern dass die Möglichkeit besteht, dass die ganze Welt zum Stillstand kommt.