Werte Leser,
eine willkommende Abwechslung zum Auswendiglernen von Vokabeln und Grammatikregeln ist die Anwendung der Sprache im Gespräch, und wenn man dabei noch sein Denken schärfen, sein Selbstbewusstsein steigern und sich als Bürger einer Demokratie schulen kann, so ist das umso besser. Den idealen Weg dazu fanden vor Tausenden von Jahren unter anderem die Vorfahren der heute so viel gescholtenen Griechen: Die gute alte Debatte nach festen Regeln.
In der letzten Zeit hatte ich die Gelegenheit, viel mit der Genannten zu tun zu haben. In diesem Falle handelt es sich um den Wettbewerb „Jugend debattiert“, der von der gemeinnützingen Hertie-Stiftung ins Leben gerufen wurden. Zum ersten Mal fand er im Jahre 1999 in Hamburg statt. Das Konzept ist das folgende: Vier Teilnehmer, die Schüler sein müssen, debattieren gemeinsam über eine politische Entscheidungsfrage. Zwei repräsentieren die zustimmende, zwei die ablehnende Position. In einer Eröffnungsrunde hat jeder Debattant zwei Minuten Zeit, seine Position darzulegen und zu begründen, bevor in der zwölfminütigen freien Aussprache die Teilnehmer frei debattieren und dann jeder eine Minute lang die Debatte resümieren kann.
Der Wettbewerb stammt aus Deutschland, aber seit 2004 gibt es auch „Jugend debattiert international“, an dem in diesem Jahr junge Deutschlerner aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine und Russland teilnehmen. Das Finale wird im Oktober in Vilnius stattfinden.
Da unsere Schule am Wettbewerb teilnahm, fuhr ich mit einer Deutschlehrerin im Herbst zu einer Trainerschulung in die Nähe von Warschau, wo uns der DSD-Koordinator für Westpolen und die Jugend-debattiert-Koordinatorin instruierten. Mit dabei waren Lehrer aus allen Ecken Polens. Auf dem Programm standen neben Sprach- und Gesprächsspielen zwei sehr amüsante Probedebatten. Einige Zeit später begannen wir, mit einigen besonders begabten Schülerinnen zu trainieren, wobei ich gestehen muss, dass es mir jedenfalls nicht gelang, wirkliche Begeisterung hervorzurufen. Das mag daran liegen, dass die Schülerinnen die Stunden zusätzlich zu ihrem anderen Unterricht aufsuchten, aber zusätzlich wage ich zu behaupten, dass sich ihnen der Sinn dieser Übung nicht unmittelbar erschloss, weil sie aus dem Unterricht eher Aufgaben mit direktem, nicht indirektem Lerneffekt gewohnt sind. Leider waren wir denn auch nicht ganz so erfolgreich, aber da kann man wohl nichts machen. Zur Ehrenrettung der Schülerinnen sei gesagt: Sonst machen sie sich sehr gut. Erfreulicherweise bekam ich aber dennoch die Gelegenheit, weiter bei Jugend debattiert dabei zu sein, nämlich als Juror.
Zunächst war ich in Posen, wo ich zwei Debatten hörte. Das Thema lautete: „Sollen an polnischen Schulen die traditionellen Bücher durch E-Books ersetzt werden?“ Dieses Thema ist absichtlich ein wenig vage gestellt worden, bot es doch so für die Schüler die Möglichkeit, selbst zu definieren, was ein E-book ist, ob nur Software oder auch Hardware gemeint ist, wer das bezahlen soll und so weiter. Beide Seiten hatten in beiden Debatten gute Argumente, wenn auch manchmal über verschiedene Definitionen von Geräten debattiert wurde, und es ging ein wenig emotional, aber dennoch ziemlich fair zu. Ein Schüler beeindruckte mich besonders, weil er ruhig, souverän und mit gewaltigem Fachwissen jedes Argument der anderen Position förmlich zerlegen konnte. Sofort kam mir der Gedanke, dass es dieser junge Mann noch weit bringen wuerde, und tatsächlich wird er in diesem Artikel noch ein Mal auftreten. Im Folgenden werde ich ihn, nach einem Spitznamen, der uns als Jury schnell in den Sinn kam, als den „Pressesprecher“ bezeichnen.
Zum selben Thema hörte ich in Lodsch die wohl zivilisierteste Debatte aller Zeiten. Leider hatte ich keine Zeit, diese alte, mit der längsten Einkaufsstraße Polens ausgestattete Industriestadt näher zu besichtigen. Die Schule, in der die Debatte stattfand, befindet sich in einem Altbau in der Innenstadt, wo ich einer streng aussehenden, uniformierten Aufpasserin am Eingang die Beweggründe meines Besuchs darlegen musste, bevor man mich einließ. In der Schule traf ich als Trainerin der Schüler eine sehr sympathische, deutsche Lehrerin, die ich schon am Instruktionswochenende kennengelernt hatte. In der Debatte entwickelten die Teilnehmer ihre Argumentationsketten und Sprecherwechsel so exakt nach den Regeln der Kunst, dass ich den Eindruck gewann, einer Demonstrationsdebatte aus dem Lehrbuch beizuwohnen. Das machte die Debatte angenehm, aber auch ein wenig lau. Zu kritisieren gab es in puncto Fairness also wenig, aber die Begriffsdefinitionen gingen wieder ein wenig durcheinander. Das zeigt, wie schwierig es ist, sich darüber einig zu werden, worüber man überhaupt spricht.
Im April ging es dann zur Landesqualifikation nach Warschau. Dort traf ich als meine Mitjurorin Jenny, die Freiwillige aus Schneidemühl wieder, die ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte, und lernte aßserdem einige ehemalige Teilnehmer des Wettbewerbes kennen, die mittlerweile in Deutschland studieren und extra für ihre Jurorentätigkeit angereist waren. Die Landesqualifikation fand im Goetheinstitut statt, einem hübschen Gebäude in Pastellfarben, dass sich leider in einem Hinterhof versteckt. Das Thema des Debatte war: „Soll die Überwachung persönlicher Kommunikationsdaten in Polen in Zukunft nur in Ausnahmefällen auf Antrag der Staatsanwaltschaft erlaubt sein?“ Ich hatte das erst für eine Frage nach einer Verschärfung der geltenden Rechtslage gehalten, es ging aber tatsächlich um eine Abschwächung, denn bisher darf die Polizei für eine gewisse Zeit eigenmächtig die Kommunikation überwachen. Jedenfalls bewegte sich das Thema natürlich genau im aktuellen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, in dem sich alle Staaten angesichts von organisierter Kriminalität und Terrorismus befinden. Tatsächlich wurde es auch ein wenig emotional, sodass plötzlich eine Debattantin, getrieben von Nervosität, in die polnische Sprache und da dann in eines der unteren Sprachregister rutschte. Ansonsten waren die Debatten aber informativ und dieses relevanten Themas würdig.
Ende Mai war es dann endlich soweit: Das polnische Halbfinale und Finale fanden statt. Ausrichtungsort des Halbfinales war wiedrum das Goetheinstitut. Das Thema war die Frage: „Sollen religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden und staatlichen Einrichtungen verboten werden?“ Wie ich schon im Blog-Artikel „Eine skurrile Begegnung“ erwähnt habe, ist Religion in Polen beträchtlich wichtiger als in Deutschland, sodass das Thema interessante Debatten versprach, und es hielt sein Versprechen. Die Debattanten beleuchteten das Thema umfangreich, von der Neutralität des Dtaates bis zur nationalen Identität Polens. Auch wenn emotional debattiert wurde, blieb man sachlich, und ich muss sagen, dass eine der beiden Halbfinaldebatten meine Lieblingsdebatte des Wettbewerbs war.
Das Finale fand im Saale einer Stiftung statt. Diesmal war das Thema – wunderbar zur Fußball-Europameisterschaft passend -die Frage „Soll die Europäische Union auch künftig sportliche Großveranstaltungen bei Menschenrechtsverletzungen im Gastland boykottieren?“ In der Ukraine gab es allerdings ein anderes Thema…
Überraschenderweise war der Pressesprecher diesmal, anders als bei allen anderen Debatten vorher, nicht überlegen, sodass er nicht zu den Siegern gehörte. Die Debatte war inhaltlich sehr interessant, denn sie drehte sich um die zentrale Frage, ob Sport apolitisch sein kann oder ob er politisch ist, ob wir es wollen oder nicht. Spannenderweise war diese Meinungsverschiedenheit nicht zwischen Pro und Contra aufgeteilt, sondern zog sich mitten durch eine Seite, was zeigt, dass es viele mögliche Wege gibt, sich einem Thema zu nähern und Menschen für dieselbe mit völlig gegensätzlichen Maximen argumentieren können.
Unsere beiden Sieger werden Polen im Herbst beim Finale in Litauen vertreten, und ich bin sicher, dass sie ihr Land gut vertreten werden.
Die Mitarbeit bei Jugend debattiert war eine sehr interessante Erfahrung und hat mir viel Freude bereitet. Als kritisch denkender Mensch halte ich das Debattieren für eine Fähigkeit, die jeder zumindest bis zu einem gewissen Grade besitzen sollte, denn der Wahrheit kann man sich nur nähern, wenn man verschiedene Auffassungen und ihre Argumente hört. Dass das eine Platitüde ist, weiß ich auch, aber wahr ist sie trotzdem. Ich hoffe, auch in Zukunft bei Jugend debattiert beteiligt sein zu können.