Die Zeit vergeht immer schneller. Zu Beginn meiner 12 Monate in Bolivien konnte ich mir kaum vorstellen, dass das Jahr irgendwann einmal enden wird. Nun ist es Mitte Januar und der Tag der Abreise ist nur noch knappe 5 Wochen entfernt. Die Endphase hat begonnen – fast jedes verbleibende Wochenende ist nun durchgeplant, immer mehr muss ich mir Gedanken über das machen, was nach meiner Rückkehr kommt. Im Folgenden will ich meinen Blick aber weniger in die Zukunft als auf das richten, was bis zum Jahreswechsel 2023/24 in meinem Leben hier in Bolivien passiert ist.
Fangen wir dort an, wo mein letzter Blogeintrag vor – es ist tatsächlich wahr – in etwa einem halben Jahr aufgehört hat. Der August war ein sehr spannender Monat. Während mich eine Freundin aus Deutschland besuchte, wurde am 6. August der bolivianische Nationalfeiertag gefeiert, knapp einen Monat später der „día de Cochabamba“ (Tag Cochabambas). An beiden Tagen gibt es große Paraden, unter anderem vom Militär und von den Schulen. Für mich war es die erste Militärparade meines Lebens, die ich am bolivianischen Nationalfeiertag sah. Zuerst tatsächlich befremdlich, hatte ich mich einen Monat später beim Tag Cochabambas schon fast an diesen Anblick gewöhnt. Hier konnte ich die Feierlichkeiten nicht nur beobachten – nach einem Angebot unseres Schulleiters nahm ich auch selbst an der Parade der Schulen zum „día de Cochabamba“ teil. Mit vollem Anzug mit Deutschlandkrawatte und Fahnenanstecker von Cochabamba im Gleichschritt mit den anderen Lehrer*innen durch das Zentrum Cochabambas zu laufen war eine fast surreale Erfahrung, insbesondere aufgrund der an diesem Tag herrschenden dröhnenden Hitze muss ich sie aber nicht unbedingt nochmal wiederholen.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass das Militär, Nationalstolz sowie gewisse (militärische) Vorstellungen von Disziplin und Ordnung in Bolivien präsent sind. Schon in den ersten Wochen in meiner Arbeit in der Schule ist mir dies aufgefallen, so etwa bei der „inauguración del nuevo año deportivo“ (Beginn des neuen Sportjahres), bei der von Seiten der Schule großer Wert auf Marschieren und Disziplin gelegt wurde. Auch eine „hiza de bandera“ (Hissen der Flagge) wird zu Beginn eines jeden Monats durchgeführt. Darüber hinaus gibt es in Bolivien einen obligatorischen Militärdienst für alle Männer, der entweder am Ende der Schulzeit („premilitar“) oder im Anschluss daran abgeleistet werden muss (es kann aber auch ein Zertifikat gekauft werden). Mir scheint, dass meine Freunde hier sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben – während einige es als eine der besten Zeiten ihres Lebens bezeichnen und viele gute Freunde kennengelernt haben, berichteten mir andere von teils harten Bedingungen in den Kasernen und der Verhängung körperlicher Strafen.
Selbstverständlich gibt es an Feiertagen aber nicht nur diese formellen Facetten, so wurde beispielsweise der Tag bzw. die Woche Cochabambas mit einem großen Festival auf dem Messegelände ausgiebig gefeiert.
Nach einem großen hoch im August, in dem ich auch nochmals die Möglichkeit des Reisens innerhalb Boliviens hatte, wurde meine Gefühlslage im September etwas durchwachsener. Gleichzeitig mit meiner besten Freundin aus Deutschland reisten auch einige andere Freiwillige von Kulturweit aus La Paz zurück nach Deutschland, die für mich zuvor noch ein wertvolles Supportnetz waren. Zur selben Zeit gab es in meinem Freundeskreis in Cochabamba Veränderungen, die mich einiges an Kraft kosteten. Darüber hinaus hatte ich fast den ganzen Monat eine Mandelentzündung. Beim Arzt wurden mir sehr starke Antibiotika verschrieben, deren Nebenwirkungen fast so große Auswirkungen hatten wie die Krankheit, die sie behandeln sollten. Wenn ich mich geschont hätte, wäre es mir vermutlich schnell besser gegangen. Ich brachte es aber weder übers Herz nicht zur Arbeiten zu gehen, noch wollte ich meine sozialen Kontakte vernachlässigen, und so zog sich alles sehr hin. In Deutschland hätte ich dies vermutlich anders gehandhabt, mein persönlicher Eindruck ist jedoch, dass viele Menschen in Bolivien in jedem körperlichen Zustand – buchstäblich bis zum Umfallen – arbeiten und im Zweifel statt zu Hause zu bleiben lieber sehr viele, frei verkäufliche, teilweise wirklich harte Medikamente nehmen. Dies liegt selbstverständlich nicht zuletzt an nicht vorhandener Krankenversicherung. Nicht zur Arbeit gehen bedeutet kein Lohn – und das können sich die allermeisten Bolivianer*innen schlicht nicht leisten. Deswegen tendierte auch ich wohl eher in diese Richtung, wollte ich doch nicht zu sehr heraushängen lassen, dass ich mir keinerlei solche Gedanken machen muss.
Darüber hinaus gab es noch ein weiteres Projekt, dass meine letzten Monate bestimmte. Ende August begann ich mit der Vorbereitung auf ein offizielles Spanischzertifikat. Nach sehr intensiven drei Monaten der Vorbereitung mit hohem zeitlichem und finanziellem Einsatz machte ich Mitte November das DELE C1. Ich habe die Ergebnisse zwar noch nicht erhalten, dennoch bin ich schon jetzt davon überzeugt, dass sich die Arbeit in jedem Fall ausgezahlt hat, denn dank eines deutlich erweiterten Wortschatzes und neuem grammatikalischem Wissen kann ich mich nun besser verständigen als je zuvor. Verstehen kann ich nun praktisch alles, in Konversationen komme ich meist erst an meine Grenzen, wenn es sich um wirklich komplizierte abstrakte, beispielsweise politische oder wirtschaftliche Themen handelt. Trotzdem hat man an manchen Tagen das Gefühl, dass die Wörter nicht so richtig aus dem Mund kommen. Auch nach 10 Monaten in Bolivien sorgt das bei mir manchmal für Frust, häufig entstehen aber auch lustige oder abstruse Momente – so etwa als ich mit einigen Freunden in Tarija war und wir eine halbe Stunde darüber redeten, dass wir „cangrejos“ essen gehen. Ich – vollkommen euphorisiert – dachte aus irgendeinem Grund es gehe um Heuschrecken und packte mein gefährliches Halbwissen darüber aus, dass das ja die Zukunft unserer Ernährung sei – bis ich dann nach einer halben Stunde verstand, dass es eigentlich um Krebse ging und die anderen überhaupt nicht verstanden hatten, was ich die ganze Zeit geredet hatte.
Aber zurück in die Chronologie. Meinen verpflichtenden Sprachkurs von Kulturweit nutze ich dazu, für eine Woche nach Lima zu reisen. Ich hätte niemals erwartet, dass der Kulturschock bei meiner ersten Ausreise aus Bolivien so groß sein würde, wie er letztendlich war. Natürlich sind die Bezirke Miraflores und Barranco von Lima in keiner Weise repräsentativ für das Leben in Peru, dennoch hat mich der Grad der Globalisierung dort im Gegensatz zu Bolivien sehr überrascht. Als ich beispielsweise durch eine Mall ging, erinnerte mich auf einmal vieles an Deutschland. Die Läden, die Produkte, die Gerüche, das alles, was man genau so in Deutschland, den USA, Mexiko oder eben Lima findet, gibt es in Bolivien an keinem Ort. Wo in Bolivien am Flughafen Bilder vom Präsidenten oder Werbung der Regierung hängt, prangen in Lima große Plakate mit Parfumwerbung von internationalen Großkonzernen. Sogar hinsichtlich der Kleidung, die die Menschen anhatten, hatte ich in dieser Woche einen kleinen Kulturschock. Außerdem habe ich in Lima an einem Tag mehr Touristen gesehen, als in meiner gesamten Zeit in Bolivien. Nicht nur an all diesen oberflächlichen Dingen, sondern auch an den vielen Vorurteilen, die die Menschen mir gegenüber in Lima äußerten (die in Deutschland vielleicht noch viel extremer wären), als ich erzählte, dass ich zurzeit in Bolivien lebe, merkte ich, dass Bolivien politisch, wirtschaftlich und kulturell deutlich isolierter ist, als ich es in meinem Leben hier wahrnehme.
Nachdem die Ferien für die Schüler*innen bereits Ende November begonnen hatten, hatten wir in der Schule noch einige eher ruhige Wochen bis auch unsere Weihnachtspause begann. So arbeiteten wir unter anderem an der Vorbereitung der Sprachcamps, der Umbenennung der Deutschräume (es müssen ja nicht alle Namen von alten weißen Männern sein…) und einigen weiteren Aufgaben. Die Monate zuvor waren sehr voll mit Prüfungen und verschiedenen Aktivitäten, beispielsweise dem Landesfinale von Jugend debattiert in Bolivien – bei dem ich in den Halbfinalen sogar selbst als Juror fungieren konnte – sowie der Aufführung eines Theaterstücks zur Deutschen Einheit. Das Theaterstück ist mein kleiner Stolz, denn habe ich es selbst geschrieben und konnte beim Einstudieren des Stücks mit einer 11. Klasse meinen Wunsch verwirklichen, mit einem Kurs intensiv in die Geschichte Deutschlands des 20. Jahrhundert einzutauchen. Die letzten Monate in der Schule waren mit die interessantesten, da ich mich oft einbezogen und gebraucht gefühlt habe, außerdem sind im September eine neue Praktikantin und eine neue Freiwillige an die Schule gekommen, mit denen die Arbeit nicht nur deutlich produktiver als zuvor ist, sondern auch viel mehr Spaß macht.
Nun habe ich es doch noch geschafft, einen kleinen Überblick über einige weitere Monate meiner Zeit hier in Bolivien zu geben. Fortsetzung folgt. Versprochen.