Out of many one people

Woran denkt ihr, wenn ihr an Jamaika denkt? Bestimmt an DAS Gesicht dieses Landes…. Bob Marley. Und daher hat es schon seinen Grund, warum ich den Blog über meinen Freiwilligendienst auf Jamaika nach einem Song von ihm bennne. Denn er ist eine Ikone, prägte Jamaika sehr, aber mit Sicherheit ist er nicht das einzige, was dieses Land musikalisch, kulturell und gesellschaftlich zu bieten hat. Das wusste ich schon vorher, aber während meines Aufenthalts lerne ich diese anderen Seiten immer mehr kennen. Doch fangen wir von vorne an:

Nachdem wir den bürokratischen Akt der Visumsbeantragung hinter uns gebracht hatten, ging es für uns über London und Miami in die Hauptstadt des Landes, Kingston. Sie ist das kulturelle Zentrum Jamaikas, ja der ganzen Karibik. „Für die Karibik ist Jamaika das, was die USA für die Welt sind oder waren“ sagte eine Kollegin zu mir. Und so konnte ich schon in verschiedene Kulturbereiche einen Einblick bekommen. Die Vielfalt der Musik ist für mich besonders beeindruckend. Kulturell entwickelte und entwickelt sich auf dieser kleinen Insel so viel, besonders in Kingston. Und so hat dieses gerade einmal knapp drei Millionen Einwohner starke Land neben Sportlegenden wie dem achtfachen Olympiasieger Usain Bolt oder die aus dem legendären Film „Cool Runnings“ bekannte Bobmannschaft, viele musikalische Legenden wie Peter Tosh, Jimmy Cliff oder Shaggy hervorgebracht, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieses beeindruckende musikalische Potenzial hat die Band Third World (eine dieser vermutlich weniger bekannten und dennoch großartigen Bands) in ihrem Song “Reggae Ambassador” treffend beschrieben:

So everywhere I jam, it’s the same questionHow can a big music come from a little island?When the music play, it leaves them in a state of shockThe big, big music from the little rock
Whoa, whoa, yeahI’m Mr Reggae Ambassador, hey

Leben auf Jamaika

Der Einfluss der afrikanischen Kultur ist, historisch bedingt, natürlich groß. Ca. 2 Millionen Sklaven wurden nach Jamaika verschleppt und haben die Kultur geprägt. Sei es beim Essen, in der Musik oder in der Kunst, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Im 20. Jahrhundert wanderten zunehmend auch Menschen aus dem Nahen Osten, China oder Indien ein. So ist Jamaika ein vielfältiges, multikulturelles Land und hat sich wohl deshalb das Nationalmotto „Out of Many One People“ gegeben.

Die koloniale Vergangenheit, sie ist hier ein ständiger Begleiter vieler Prozesse. Wirtschaftlich ist die Lage ganz anders als in Deutschland. Die Lebenshaltungskosten sind unfassbar hoch, was ich nicht erwartet hatte. Das merkt man gerade im Supermarkt. Wie ein „normaler“ Jamaikaner das bei einem Durchschnittseinkommen von ca. 80.000 Jamaikadollar (umgerechnet ca. 490 Euro) schafft, frage ich mich quasi jedes mal, wenn ich mir die Preise im Supermarkt ansehe. Mir wurde von Einheimischen erzählt, dass eine Mittelschicht kaum bis gar nicht existiert. Die Menschen leben entweder in Armut oder Reichtum. Das zeigt sich auch im Stadtbild: so stehen in Uptown, wo wir leben, auch mal große Grundstücke und moderne Häuser, anders als in Downtown, wo wir arbeiten. Diese extreme Kluft, die ungleiche Verteilung von Wohlstand und der sehr ausgeprägte Klassismus sind ein großes Problem der jamaikanischen Gesellschaft. Und die Aufstiegschancen sind dementsprechend. Gerade, weil auch Korruption ein großes Thema ist. So kommt man beispielsweise an lukrative Jobs oft nur mit entsprechenden Kontakten zur Regierung, die nach dem Westminster-System entweder die eine oder andere Partei stellt.

Nach dem Hurrikan im Juli, der außerhalb der Hauptstadt einiges verwüstet hat, setzte die lokake Stromfirma die Preise hoch und stellte damit die Menschen und Unternehmen vor finanziell sehr große Herausforderungen. Die hohen Preise lassen sich aber auch und vor allem damit erklären, dass hier vieles teuer importiert werden muss. Nach dem Hurrikan noch mehr, da viel Ernte und Vieh zerstört wurden.

Wenn es geregnet hat, dann bilden sich kleine, mittlere und große Pfützten. Neben der Aquapaning Gefahr ist eine weitere Folge, dass sich die Straßen aufweichen und dementsprechend verschlechtert sich ihr Zustand immer weiter. Schlaglöcher sind keine Seltenheit und machen die Straßen zum Teil zu einer Slalomfahrt.

Neben Reggae, paradiesischen Stränden, Rastas, Rum (alles natürlich da, aber sehr stereotypisch), verbinden viele Menschen Jamaika auch mit eine hohen Kriminalitätsrate. Dieser Eindruck entsteht auch durch Medienberichterstattungen, die sich vor allem auf punktuelle Gewaltereignisse fokussieren, denn ansonsten erscheint Jamaika recht selten in den Nachrichten. Das Land orientiert sich wirtschaftlich und politisch vor allem an den USA und China, dadurch ist es für Deutschland und Europa vielleicht tagespolitisch nicht so interessant und man wird nur darauf aufmerksam, wenn etwas ungewöhnliches wie Gewalt oder Kriminalität passiert. Was aber einfach ein verzerrtes Bild darstellt.

„Jamaica is not an insecure country“. Das sagen viele, mit denen ich spreche. Und mein Eindruck ist: In der Gesamtheit stimmt es auch. Klar muss man aufpassen. Taschendiebstähle in Menschenmengen sind eine Gefahr, aber das sind sie auch in Europa. Mir wurde erzählt, dass die Taxifahrer nachts Downtown meiden, da Taxirufe sich auch schon als Fallen für Überfälle herausgestellt haben oder es in Trenchtown eine Straße gibt, die zur Hälfte von der einen, zur anderen Hälfte von der anderen Bande kontrolliert wird und wo es auch zu Gewalt kommen kann. Also ja, es stimmt schon auch, was berichtet wird. Aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit und solange man etwas Vorsicht walten lässt, kann einem immer noch etwas passieren, aber man reduziert das Risiko. Und generell ist man ja, wie schon gesagt, auch in Europa oder auf keinem Ort der Welt zu 100 Prozent sicher.

Jamaikas Kultur 

Ska, Reggea, Dub, Hiphop, Dancehall – die jamaikanische Musik ist vielfältig, kreativ, außergewöhnlich, abgefahren und wirklich beeindruckend. Und sie ist ganz gewiss Teil der jamaikanischen Seele und Identität. Genauso wie das Patois bzw. eigentlich das Jamaikanisch. Denn es ist mitunter sehr weit weg vom Englischen, man sollte es daher nicht als Dialekt oder Akzent abstempeln, zumal auch die Jamaikaner diesen Stempel nicht wollen. Die eigene Sprache schafft auch eine Distanz und Unabhängigkeit von der früheren Kolonialmacht Großbritannien.

Jamaika ist auch ein sehr gläubiges Land.  Am Beginn der meisten Veranstaltungen wird zunächst die Nationalhymne gespielt und anschließend ein Gebet gesprochen, am Schluss gibt es meistens noch einen Segen, so auch bei der „UNESCO Culture Club Conference 2024“ und beim „Salut to the Parish of St. Thomas“, wo wir als Gäste eingeladen waren. Hier hatten wir die Möglichkeit, einen Einblick in das Kulturerbe des Landes zu bekommen. Den Diskussionen, wie dieses Kulturerbe erhalten werden kann, folgten oder gingen verschiedene traditionelle, musikalische, theatrale oder tänzerische Performances voraus.

Bei diesen Veranstaltungen wurde auch deutlich: Kultur ist immer im Wandel. Sie entwickelt sich ständig weiter. Sie ist nie endgültig erreicht. Und auch wenn es wichtig ist, traditionelle Formen zu wahren, weil man auf Jamaika oder auch in Deutschland, stolz darauf ist, ist es mindestens genauso wichtig, Neues zuzulassen. Dass dabei ein Dissens zwischen älterer und jüngerer Generation oder verschiedenen Klassen entsteht, oft auch verknüpft mit Moralfragen, ist eine weitere Gemeinsamkeit unserer beiden Länder und Kulturen.

Kontrovers wurde auch ein historisches Konzert an Silvester diskutiert. Denn wenn wir über jamaikanische Musik sprechen, darf ein Name aus aktuellem Anlass nicht fehlen: Der Dancehall-Musiker Vybz Kartel. Er wurde 2011 in einem der längsten Prozesse in der jamaikanischen Geschichte wegen Mordes verurteilt. Das Urteil gegen ihn wurde wegen angeblichen Fehlverhaltens der Geschworenen aufgehoben. Während seiner Haftstrafe wuchs seine Popularität trotzdem weiter. Kritker von Vybz Kartel sind entsetzt, dass die Stadt Kingston ihm, einem verurteilten Mörder, das Nationalstadion für seine Show zur Verfügung stellt.

Das Konzert war das Thema Nummer eins auf Jamaika in den letzten Wochen. Es gibt unterschiedliche Zuschauerzahlen, vermutlich ca. 40.000 und mehr Zuschauer im Stadtion und um die 100.000 Menschen drumherum. Fest steht jedenfalls: So ein großes und historisches Konzert gibt es auf Jamaika nicht alle Tage! Und für alle Fans in Deutschland: Vybz Kartel kommt im Sommer zum Summerjam Festival in Köln. Ein Jamaikaner fragte mich dann nur etwas überrascht: Deutschland hat ihm ein Visum gegeben? Das zeigt nochmal die Umstrittenheit dieses Musikers.

Zum Nationalstolz gehört neben dem Kulturerbe auch der Stolz auf den Widerstand gegen die Sklaverei, der schließlich in der Abschaffung, gefeiert am Emancipation Day, mündete. Jamaika war ca. 150 Jahre spanische und dann ca. 300 Jahre britische Kolonie. Während Unruhen beim Herrschaftswechsel flohen einige Sklaven, die sogenannten Maroons, ins Landesinnere und leisteten Widerstand. Sie führten erfolgreich einen Guerillakrieg gegen die Briten und erlangten mit dem „Treaty Of Accompong“ Autonomie, die sie bis heute im unabhängigem Jamaika in Teilen erhalten haben, auch wenn es einen andauernden Streit gibt, da die Regierung z.T. das Land der Maroons zum Bergbau verwenden möchte. Die Maroons sind ein Symbol des Widerstands, der Freiheit und waren das erste, unabhängige Jamaika. Ihre Kultur, Traditionen und Rituale werden bis heute praktiziert. Beim Maroon Festival in Accompong konnte ich einen Einblick bekommen.

Koloniale Vergangenheit

Die koloniale Vergangenheit ist auf Jamaika ein ständiger Begleiter. Natürlich schwingt die Frage der Republikgründung immer mit, denn Jamaika ist (noch) Teil des Commonwealth of Nation und hat mit King Charles immer (noch) den britischen Monarchen als Staatsoberhaupt. Die jamaikanische Regierung hat Anfang Dezember 2024 im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht, der den Beginn des Prozesses der Absetzung von König Charles als Staatsoberhaupt und die Umwandlung des Landes in eine Republik vorsieht. Dieser Antrag soll schließlich in einem Verfassungsentwurf und dann in einem Referendum enden. Mein Eindruck ist: Man sieht die Briten und gerade den Monarchen mit großer Skepsis, wohl auch besonders, weil es nie eine Entschuldigung für Sklaverei und Unterdrückung seitens der Monarchie gab, geschweige denn Entschädigungszahlungen Großbritaniens. Dass es letzteres bei der Abschaffung der Sklaverei für die einstigen Sklavenhalter gab, führt mehr als verständlicherweise zu Ärger seitens der Jamaikaner*innen. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit scheint es allerdings noch einige offene Fragen zu geben, etwa die nach dem obersten Gericht, aktuell noch der Privy Council in London, oder des Verbleibs im Commenwealth.

Die Liste der Relikte kolonialer Vergangenheit kann man natürlich endlos weiterführen. Klassismus, Korruption, Raubkunst und keine kulturelle Augenhöhe sind nur einige Beispiele. Wir alle kennen Shakespeare, aber einen karibischen Schriftsteller? Mit wem verbinden wir den Start der industriellen Revolution? Mit Großbritannien. Aber eigentlich begann sie nicht zuletzt hier auf Jamaika. Der sogenannte Cort Prozess zur Massenproduktion von Schmiedeeisen wurde ursprünglich in einer jamaikanischen Eisenschmiede bei Morant Bay erfunden und später von Herny Court nach Großbritannien gebracht, wo er die Technik patentierte. Historische Forschungen zeigen, dass die Cort Maschine aus Jamaika nach Portsmouth verschifft wurde und die Schmiede zerstört worden war, was die Herkunft der Technik bis heute weitgehend verschleiert hat. So etwas gehört in eine breite Öffentlichkeit, auch in den Geschichtsunterricht an Schulen!

Die Rastas, auch sie sind eng mit unseren Vorstellungen von diesem Land verbunden und setzten sich nicht zuletzt gegen die Unterdrückung von aus Afrika stammenden Menschen und damit gegen den Kolonialismus ein. Das wird auch in den Lyrics von Bob Marley deutlich, die ich als Blogtitel gewählt habe.    

Mit dem Titel des Songs Get Up, Stand Up ist die Message verbunden, aufzustehen und sich für seine Rechte einzusetzen, statt passiv oder resigniert zu bleiben. Der Titel ist damit auch eine Aufforderung zum Widerstand gegen Unterdrückung.

Und deswegen ist es der Titel meines Blogs geworden. Postkoloniale Strukturen, die uns auch heute noch in Armut und Ungleichheit halten, müssen überwunden werden. Get Up, Stand Up!

Der Beitragstitel „Out of many, one people“ ist das Nationalmotto Jamaicas, was auch ein schönes Motto für friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen auf der Welt sein könnte!

In diesem Sinne bis zum nächsten Blogbeitrag und vielen Dank fürs Lesen!

————————————————————————————————————————————–

Links:

    1. Homepage UNESCO Jamaica: https://jncunesco.gov.jm/ 
    2. National Culture Club Conference: https://www.instagram.com/reel/DC44sRhh6C8/?igsh=ZjZ2NXlhZ3h2bHNq
    3. Salut to the Parish of St. Thomas: https://www.instagram.com/reel/DDPpYH3Rf-p/?igsh=eXRyNGVkd2YxcHpk
    4. Maroon Festival in Accompong: https://www.instagram.com/p/DEjFQteMGbJ/?igsh=NWFhNzF1N2RlbzZn

Creative Art Walk in Downtown/Kingston

Creative Art Walk in Downtown/Kingston

Hope Garden Kingston

Reggae Konzert in Kingston

Kingston Waterfront

Weihnachten in Kingston (Emancipation Park)