Das teuerste Foto meines Lebens: Auf den Spuren des Jesuitenstaats

Das teuerste Foto meines Lebens: Auf den Spuren des Jesuitenstaats

Hiermit erkläre ich die Reisesaison 2015/16 offiziell für eröffnet. Wieso, werden Sie sich jetzt fragen. Du reist doch schon die ganze Zeit herum. Ja, aber nun haben auch endlich die Sommerferien im Colegio und im Liceo begonnen. Freie Zeit genug also, die ich nutzen werde, um dieses Land, diesen mir immer noch so unbekannten Kontinent besser kennenzulernen. Ich lade Sie ein, sich mitnehmen zu lassen auf diese Reise, die mich als allererstes in das kleine uruguayische Städtchen Carmelo führt.

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Der Staat der Jesuiten in den Augen von Kaplan Haberland

Die beiden Hauptsehenswürdigkeiten von Carmelo sind die einzige von Hand betriebene Brücke Südamerikas und eine von zwei ehemaligen Jesuitenreduktionen in Uruguay, die Calera de las Huérfanas. Der sogenannte Jesuitenstaat erstreckte sich eigentlich eher weiter im Norden, in Paraguay und im argentinischen Departamento Misiones. Zum ersten Mal stieß ich auf diesen interessanten, doch wie so oft in Deutschland unbekannten Teil der Geschichte Südamerikas bei der Lektüre des Romans „Wir heißen euch hoffen“ von Johannes Mario Simmel. In einer Nebenhandlung (leider, die Haupthandlung dreht sich um eine Drogenstory) wird der übermotivierte Kaplan Haberland nach dem Zweiten Weltkrieg nach Indien geschickt. Dort trifft er auf die noch heute existierende unmenschliche Armut in den Slums der Großstädte. Nach einer gescheiterten Hilfsgüterlieferung aus Deutschland begreift Haberland, was die moderne Entwicklungshilfepolitik erst langsam lernt: wer diesen Menschen wirklich nachhaltig helfen will, der darf sie nicht abhängig machen von ständigen Hilfsgütern. Der muss ihnen eine Perspektive geben, sodass sie von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können. Und ihre Würde zurückerhalten. Der Kaplan zieht also mit seinen Armen in den indischen Urwald, rodet ihn und macht ihn fruchtbar. Zuerst wird er belächelt, doch dann wird seine Kolonie autark. Und kann von ihren Agrarprodukten leben. Als die Inder ihn fragen, wie er auf so eine Idee kam, erzählt er die Geschichte des „Jesuitenstaats“ in Paraguay, als die Jesuiten die Indígenas vor den Sklavenhändlern in Schutz nahmen und ihnen in landwirtschaftlichen Kooperativen Arbeit, Brot und ein freies Leben gaben. Doch irgendwann wurden diese Kooperativen zu mächtig, der Jesuitenorden verboten und die „Reduktionen“ gewaltsam aufgelöst. Auch Haberland ist im Roman zum Scheitern verurteilt, kehrt wieder nach Deutschland zurück und nimmt dort seine Rolle als Nebenfigur des Buches wieder auf, um am Ende vom Protagonisten in einer tragischen Verkettung unglücklicher Umstände erschossen zu werden.

Was war der „Jesuitenstaat“?

Doch Haberland zeichnet im Roman als guter Katholik ein allzu positives Bild des jesuitischen Engagements in Südamerika. Die historische Wahrheit abseits der literarischen, fiktionalen Verarbeitung sieht so aus: am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert kam es vermehrt zu Grenzstreitigkeiten zwischen Portugal, dem das heutige Brasilien gehörte, und Spanien, das den Rest des Halbkontinents besaß. Der Vertrag von Tordesillas von 1494 regelte eigentlich die Aufteilung der Welt zwischen den beiden Seemächten anhand des 38. Längengrads, der viel weiter östlich als die Grenze des heutigen Brasiliens verläuft. Alles neu entdeckte Land rechts dieser Linie sollte den Portugiesen gehören, alles links davon den Spaniern. Entschieden hatte das der Papst als Gottes Stellvertreter auf Erden. Die „Indios“ hatte dazu natürlich keiner gefragt. Die Spanier nun fanden den brasilianischen Urwald im Amazonasgebiet reichlich langweilig und konzentrierten sich lieber auf ihre Silber- und Goldminen in den Anden. Deswegen drangen nun nach und nach immer mehr portugiesische Siedler in eigentlich spanisches Gebiet vor, darunter auch Sklavenjäger, die die vorhandenen „Indios“ verschleppten und versklavten. Die Jesuiten kamen deswegen auf folgende Idee: wie wäre es, wenn man durch eine Reihe an befestigten Siedlungen die Grenze sichern und eindeutig markieren würde? Als Bewohner boten sich die „Indios“ an, nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus Eigennutz: so konnten die rebellischen Indianer unter Kontrolle gebracht werden und die Mission, die eigentliche Aufgabe der katholischen Priester, effizienter stattfinden. Der spanische König stimmte zu, da er das Problem mit Portugal aus der Welt schaffen wollte. So entstanden einzigartige Rückzugsorte, in denen die Einheimischen vor Raub, Plünderung und Sklaverei geschützt waren – und doch nicht frei. Dies ist zwar das einzige Mal in der lateinamerikanischen Geschichte, dass Indígenas von den Conquistadores bewaffnet wurden (zum Schutz gegen die Portugiesen), dennoch blieb klar, wer der Herr im Haus war: die Jesuiten. Das Ergebnis der Reduktionen war das gleiche, nur mit anderen Mitteln: die Entwurzelung der Urbevölkerung aus ihrer „archaischen“, „rückständigen“ Kultur und die zwangsweise Annahme des Christentums. Die „Indios“ lebten in den Reduktionen zwar physisch frei, psychisch jedoch unterdrückt – bis sie irgendwann die fremde Religion derart übernahmen, dass jede Erinnerung an ihre eigene Kultur verschwunden war. Durch den Handel mit den Produkten, die sie herstellten, wurden die Reduktionen reich und mächtig. Zwar kein unabhängiger Staat, doch de facto frei von der Jurisdiktion der Spanischen Krone. Zu mächtig also, woraufhin der Jesuitenorden irgendwann verboten wurde und die ganze Sache ihr abruptes Ende fand. Für die indigene Lebensweise jedoch war es zu spät: diese wurde, wenn auch mit friedlichen Mitteln, vollständig zerstört.

Was hat das Ganze nun mit mir zu tun? Nun, ein paar der Jesuiten hatte es offenbar auch nach Uruguay verschlagen, und als ehemaliger Einwohner eines Zentrums der Gegenreformation und ehemaliger Schüler einer ehemaligen Jesuitenuniversität (mein alter Relilehrer hätte seine Freude daran gehabt, falls Sie das hier jemals lesen, schöne Grüße!) kann ich mir das natürlich nicht entgehen lassen. Koste es, was es wolle. Und letzteres meine ich wörtlich. Die Calera liegt nämlich 15 Kilometer von Carmelo entfernt, und leider gibt es kein öffentliches Verkehrsmittel, das dort hin fährt. Liebe Mitarbeiter der Stadt Carmelo, wenn Sie den Tourismus in Ihrem Ort wirklich ankurbeln wollen, dann richten Sie doch einen Shuttle- oder Rufbus zur Calera de las Huérfanas ein. Zumindest einmal am Tag oder auf Anfrage würde reichen. So bleibt mir nichts anderes übrig, ein Taxi zu nehmen, und mir die Anlage (die gottseidank nicht sehr groß ist) entgegen meiner Gewohnheit im Schnelldurchgang anzusehen, denn das Taxameter läuft. In Deutschland hätte ich das nie gemacht und die Calera von meiner To-Do-Liste gestrichen, aber hier in Uruguay sind Taxis ja etwas billiger, also gut. Am Ende kostet mich jedes Foto der Jesuitenruine 123 Pesos, umgerechnet rund 3,73 Euro (falls Sie jetzt zu rechnen anfangen: nein, ich habe nicht alle Fotos gepostet, ich hätte noch mehr!). So viel hat man früher vielleicht mal für Filmrollen, Fotokammern und Abzüge bezahlt. Für mich Digital Native sind es die teuersten Fotos meines Lebens – für den Taxifahrer das Geschäft seines Lebens.

Jetzt habe ich also schon fast zwei Seiten mit Jesuiten vollgeschrieben und noch immer kein Wort zu Carmelo selbst gesagt. Viel zu sagen gibt’s nicht. Man merkt, dass die Stadt zum Interior gehört. Überall stehen Schilder an den Häusern, VENDE; ALQUILO, zu verkaufen, zu vermieten. Auf den Straßen begegnet mir mehrmals ein Pferdekarren. Ja, auch im Jahr 2015 wird in Uruguay ein guter Teil des Transports nicht mit dem Auto, sondern mit dem Pferd erledigt! Ist wenigstens umweltfreundlich.

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Carmelo beherbergt eine äußerst modern gestaltete Kirche. Man meint ja immer, solche modernen Kirchen sind alle evangelisch, aber nein, auch im 21. Jahrhundert bauen die Katholiken noch Gotteshäuser: diese Kirche ist katholisch. Stilistisch auf jeden Fall mal eine Abwechslung zu dem, was man sonst so sieht. Die Kirche beherbergt einen riesigen Hund, der, als ich sie verlassen will, laut zu bellen anfängt, was in dem hallenden Raum einen denkbaren Lärm verursacht. Soso. Da hat man mir immer beigebracht, Kirchen seien ein sakraler Raum und man hat deswegen schön leise zu sein, und dann das. Der Hund weiß das offensichtlich nicht. Oder gelten da Sonderregeln? Es jagt ihn zumindest keiner zur Kirchtür hinaus.

Zur Abwechslung und auf Anraten meiner Sprachlehrerin dann noch einen Abstecher zum Templo del Carmen auf der Plaza Artigas. Der wartet mit einer ebenfalls sehr schönen Fassade im spanischen Kolonialstil auf, den man sonst entweder nur in den Andenländern oder, wem das zu weit zu reisen ist, in Andalusien findet. Auch das Innere erfüllt mit der typischen Goldarchitektur die Erwartungen, hier wird neben Maria aber auch noch der Heilige Ignatius von Loyola verehrt, der Ordensgründer der Jesuiten. In der anderen Kirche habe ich Padre Pio getroffen, den Volksheiligen der Süditaliener, den wohl, wie so vieles, die Einwanderer mitgebracht haben müssen.

Fehlt nur noch die eingangs versprochene handgetriebene Drehbrücke, die über den Arroyo de las Vacas, den „Bach der Kühe“ führt. Überquert man sie, so kann man zur Playa Seré, dem „Strand Ich-werde-sein“ laufen:

Ich verlasse Carmelo nun mit dem Versprechen, dass uns das Thema Jesuiten noch erhalten bleiben wird. Papst Franziskus ist nämlich auch Jesuit, der erste auf dem Papstthron, und bald werden wir sehen, welche Spuren dieses Mitglied der „Gesellschaft Jesu“ hinterlassen hat hier in Südamerika.

Wer mehr über den Jesuitenstaat und auch über andere lateinamerikanische Geschichte(n) erfahren will dem sei die GEO-EPOCHE Ausgabe Nr. 71, 2/2015, empfohlen.

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