Dass Russland auch (aber nicht nur) ein Land der Konflikte ist, wird uns in Deutschland durch den Geschichtsunterricht und die aktuelle Berichterstattung in den Medien regelmäßig vermittelt. Als am 4. März gewählt wurde, hat man von Protesten in der „Oppositionshauptstadt St. Petersburg“ weder etwas im russischen Fernsehen gesehen noch etwas in der deutschsprachigen Internetzeitschrift für St. Petersburg gelesen. Ob in der Innenstadt demonstriert wurde, weiß ich nicht. Ich habe hier sowohl erlebt, dass jemand schnell nach Hause wollte, um den Präsidenten im Fernsehen zu erleben, als auch, dass unverhohlen Wut und Ärger über die „falsche Demokratie“ geäußert wurden. Die meisten Menschen, die ich hier getroffen habe und die über dieses Thema geredet haben, entschuldigen sich für ihr Land. Das hat sicher mit dem Bild der aktuellen deutschen Politik und Deutschlands allgemein zu tun, das hier vermittelt wird, aber auch ganz entscheidend mit dem gesellschaftlichen Stand der Menschen. Wenn man die Politik dieses Landes, oder gar das Wahlverhalten verstehen will, muss man bedenken, dass mehr als die Hälfte der Bürger indirekt oder direkt von Staat abhängig sind. Und die Geschichte des letzten Jahrhunderts hat das politische Selbstbewusstsein auch nicht so gestärkt, wie das bei uns in Deutschland der Fall war.
Eigentlich hatte ich keinen Exkurs in die russische Geschichte des letzten Jahrtausends vor, aber jetzt hole ich weiter aus – dazu sei Folgendes gesagt: Während ich diesen Artikel schreibe, vergewissere ich mich zwar der Richtigkeit meiner Informationen, soweit möglich, aber wenn ich falsch liege, bitte ich unbedingt um Korrektur. Denn diese Themen sind zu wichtig, als dass man irgendetwas schreibt. Wenn ich außerdem nicht nachvollziehbare Gedankenwege nehme oder unlogische Aussagen mache, bitte sagt auch das!
Für mich ist es unvorstellbar, wie man in diesem Land patriotisch sein kann und das auch anderen Nationen gegenüber vertritt. Und das nicht nur auf der großen internationalen Politikbühne, wo ein Staat natürlich als stabiles Konzept auftreten muss, sondern auch im Privaten. Eine solche Situation habe ich hier erlebt und sie ist der Auslöser dieses Artikels.
Am Mittwoch haben wir alle gemeinsam einen Spielfilm über den Konflikt Russlands mit Georgien um die Provinz Südossetien gesehen. Und mir wurde gesagt, ich müsse es sehen, es sei wichtig – egal, ob ich etwas verstehe oder nicht. Der Film (dessen Titel ich noch herausfinden muss) wurde in Russland mit russischen Schauspielern gedreht, die Hauptpersonen hätten aber auch amerikanische Filmhelden sein können. Dennoch werden die Klischees der russischen Oma mit Kopftuch und Strickjacke oder des betrunkenen jungen Mannes ohne Arbeit bedient (vielleicht sind das auch innerrussische Klischees). Der Film erzählt eine Geschichte der Eskalation zwischen Russland und Georgien 2008 in verschiedenen Erzählsträngen, immer aus russischer Sicht. Hauptsächlich folgte man einer Mutter, die ein sehr westliches Leben in einer Metropole führt und den Sommer mit ihrem Liebhaber verbringen möchte, während der neunjährige Sohn bei seinen Großeltern väterlicherseits in Südossetien ist. Als aber der bewaffnete Konflikt ausbricht, versucht die Mutter ihren Sohn zu erreichen. Während der Junge verstört im Haus seiner Großeltern sitzt, nachdem er zuschauen musste, wie sie und sein Vater von einem Panzer überfahren wurden, kämpft sich die Mutter immer tiefer ins Kriegsgebiet vor. Dass sie allerdings ohne Schaden überlebt, erscheint zu unwirklich, denn der Trupp russischer Soldaten, dem sie als Pressefrau getarnt folgt, wird immer kleiner. Mutter und Sohn kommunizieren via Sprachmitteilung per Handy – immer ist überall Empfang…
Das Irritierendste an diesem Film ist aber, dass regelmäßig animierte Elemente vorkommen. Wenn der Junge statt Menschen Roboter sieht und statt Panzern transformerähnliche Kreaturen, dann kann man das als die Verdeutlichung des kindlichen Vorstellungsvermögens und der Überforderung akzeptieren. Und auch die Animation von Geschossen und Feuer ist noch verständlich. Wenn die Mutter allerdings über eine Stadt fliegt und ein zerbrochenes Handy durch einen Zauberspruch wieder funktioniert, dann kann ich nur eine Botschaft erkennen: Manche Menschen in Russland haben übernatürliche Fähigkeiten. Das ist ja auch denkbar, aber eine Verwendung solcher Effekte in einem Spielfilm über ein tatsächliches Ereignis der jüngsten Vergangenheit finde ich nicht legitim!
Wir haben gelacht bei diesem Film – über lustige Szenen, merkwürdige Effekte und unvorstellbare Szenen. Wir haben Schokolade gegessen und Tee getrunken.
Aber wir in Europa sehen das alles falsch: Nicht Russland hat mit massiver Übermacht und neuster Technologie gegen ein georgisches Heer gekämpft, um die Staatsmacht und das Staatsselbstverständnis zu demonstrieren. Ich habe gesagt, dass die meisten Menschen in Deutschland nur wenig über diesen Konflikt wissen. Aber nein: „It’s true: All germans think that!“
Und nun bin ich auch wieder beim dritten Absatz dieses Artikels angekommen: Man lacht über einen Film, der trotz des Anspruchs, die Wirklichkeit darzustellen, zu tief in die Trickkiste greift und sagt am Endes deutlich, dass dies die Wahrheit war. Ich verstehe das nicht!
Aber wenn man bedenkt, dass die politische Mitbestimmung erst 106 Jahre alt ist und ein Großteil dieser Zeit nur als Farce bestand, dann ist die Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR die freieste und demokratischste Zeit dieses Landes seit Entstehung.
Das Deutschland um 1965 (also rund 20 Jahre nach Kriegsende) würde unsere oder die heutige Generation auch nicht mehr zufriedenstellen. Und das Deutschland, was wir kennen, ist in einem internationalen Kontext „erwachsen geworden“ und nicht in einer weltpolitischen Konkurrenz. Ein Vergleich Deutschlands mit Russland, oder eine Beurteilung dieses Landes mit unseren Wertmaßstäben ist darum unmöglich. Weil wir aber nichts anderes tun können, müssen wir kommen und schauen. Und leben und erleben.
Ich möchte aber auf keinen Fall die politischen oder sozialen Zustände verharmlosen oder leugnen. Aber da unsere private Entrüstung nichts ändert und die internationale Empörung die Fronten nur verhärtet, müssen wir der russischen Gesellschaft Zeit und Vertrauen schenken. Das fällt deshalb wahrscheinlich so schwer, weil Russland groß und bedeutend ist (Malt einmal auf einer Weltkarte Russland rot an! Das ist – ganz grob und subjektiv – 1/5 der Welt!). Aber in einem Land, wo 180km noch Nachbarschaft sind, geschieht das Leben und Entwicklung in anderen Dimensionen.
Was ich geschrieben habe, ist ausschnitthaft, unvollständig, ziemlich subjektiv und vielleicht auch nicht sinnvoll. Auf jeden Fall ist es anfechtbar und zu diskutieren. Aber ich denke, dass es ein Ziel von einem Freiwilligendienst oder einem Aufenthalt im Ausland ist, dass man denkt – neu denkt – anders denkt. Und überdenkt. Und wenn ich in einem Monat oder einem Jahr diesen Text lese, schreie ich vielleicht: „Nein!“ und greife mir an den Kopf – oder ich nehme den Rotstift und verändere und ergänze. Oder es gibt diesen Text gar nicht mehr…
Hier kann man nachlesen, sich informieren: