Vorbemerkung:
Der Besuch bei Hanna ist inzwischen zwei Monate her, es war im Mai. Erst jetzt, kurz vor dem Ende ihres Aufenthaltes ist unser Eltern-Gastbeitrag doch noch fertiggeworden. Der Wechsel des Schriftschnitts (kursiv/nichtkursiv) entspricht den verschiedenen Betrachtungsweisen des einen und der anderen.
„Und da war eine Stadt. Die schönste Stadt auf dem Antlitz der Erde.“Joseph Brodsky, Erinnerungen an PetersburgEin ZIEL war St. Petersburg schon lange, theoretisch. Die Eremitage, Geschichte und Kultur geballt, weiße Nächte, die Schilderungen Brodskys, die Interesse weckten. Doch bislang waren die Hürden zu hoch: Man braucht einen Pass, Einladung und Visum, die fremde Sprache – alles Aspekte, die einem Städtetrip, gar einem spontanen, entgegenstanden. Nun aber eröffnete Hannas Aufenthalt in der Stadt uns Eltern die Möglichkeit, den Besuch der Tochter und der Stadt zu verbinden. Und auf einmal passte auch eins zum anderen: Eine feststehende Ferienwoche im Frühjahr, ein VHS-Kurs „Russisch in 24h“(!) im März und die sehr entlastende Feststellung, dass wir für das Touristenvisum nicht selber zum Hamburger Generalkonsulat fahren müssten; dafür gibt es Dienstleister, die sogar die obligatorische Einladung als Kauf-Leistung anbieten. Auch die letzte Hürde überwanden wir: Wir wollten die Stadt eigenständig und unabhängig erkunden, nach eigener Neigung und im eigenen Tempo und möglichst nah dran sein am „normalen“ Leben. Via Internet fanden wir eine private Unterkunft, im Zentrum, an der Fontanka.
Frühling – die zweite …
Es soll ja Menschen geben, die (einmal oder sogar öfter) einen zweiten Frühling erleben – wir hatten die Möglichkeit, durch unseren Besuch in St. Petersburg dem Frühling 2012 zweimal zu begegnen. Am 11. Mai flogen wir aus dem frühlingsgrünen Hannover mit Mantel und Mütze via Kopenhagen ins noch kalte und gerade vom Eise befreite St. Petersburg. Vom Flughafen holte uns unsere Tochter ab und wir lernten als Erstes durch Erklären und Gebrauch den öffentlichen Nahverkehr kennen. Wir hatten zwar „Russisch in 24 Stunden“ gelernt (immer wurde geschmunzelt, wenn wir das in Deutschland berichteten, es waren aber tatsächlich vier mal sechs Stunden an zwei Wochenenden), freuten uns aber trotzdem über die Hinweise in der Metro (U-Bahn) auch in lateinischer Schrift. Nach ein paar Tagen „sprachen“ dann die kyrillischen Zeichen zu uns, aus Buchstabieren wurde Silbenlesen und Wörtererkennen, gut für die Fahrstrecken-Tafeln an den Bussen.
Nicht nur Land und Sprache waren fremd und neu, neu war auch die Konstellation: Die Eltern kommen zur Tochter, Hanna weiß und weist die Wege, führt und erschließt uns die Stadt.
Zurück zum „Frühlingserwachen auf Russisch“: In Hannas Begleitung (wann immer es ihr zerstückelter Stundenplan erlaubte) besuchten wir den Katharinenpalast im „Zarendorf“ Puschkin. An der Metrostation ‚Avtowo‘ suchten wir die richtige Bushaltestelle, die sich am Rand des weitläufigen viereckigen Platzes befinden sollte. Ganz deutlich war in der Mitte des baumumstandenen Platzes das Lenin-Standbild zu sehen. Als wir einige Tage später von dort nach Peterhof, dem Sommerpalast der Zaren fuhren, war diese mächtige Figur ganz von den inzwischen voll entfalteten Blättern der Bäume verdeckt. Eine zweite Tulpenblüte erlebten wir ebenfalls: Bei unserer Ankunft noch geschlossene Knospen, die kaum die Farbe erahnen lassen, Tage nur später alles aufgeblüht, in den Parks in kunstvollen Anordnungen und Farbmustern.
Mit dem kleinen Dumont-Reiseführer in der Tasche erkundeten wir die Stadt und sammelten Eindrücke. Wir besuchten – natürlich – viele der „klassischen“ Ziele, mal mehr, mal weniger intensiv, aber nie flüchtig: die Peter- und Paulfestung, den Turm der Isaakkathedrale, Peterhof, Puschkin, Kirchen und Kathedralen, die opulenten Metrostationen der roten Linie, Peters Kunstkammer, die Friedhöfe beim Alexander-Newski-Kloster mit „großen“ Toten. Einmal zog uns ein orthodoxer Gottesdienst in Bann, wir blieben lange. Einen Tag verbrachten wir in der Eremitage – ein besonderer, vielleicht der Höhepunkt. Nur ein Tag. Aber auch eine Woche oder ein Monat hätten nicht gereicht….
Überwältigend, wenn dort die großen europäischen Maler nicht nur mit ein paar Werken zu sehen sind, sondern viele Räume füllen. Unzählige, an Pracht kaum zu überbietende Wohnräume und Festsäle aus der Zarenzeit.
Beinahe erschlägt einen die Masse, die Klasse.
Gemälde, die bei uns, entsprechend inszeniert, Mittelpunkt und Magnet von Sonderausstellungen wären, führen dort fast eine Nischenexistenz. Nicht, weil sie nicht geschätzt würden, nein, es gibt einfach zu viel. Die beiden Leonardo-Madonnen bemerken wir, weil sich knipsende koreanische Touristen darum scharten.
In der Stadt wird das Kontrastprogramm gegeben: die Fülle an öffentlichen Arbeitsplätzen, viele doppelt besetzt oder als Aufsicht über Automaten oder selbst mit automatenähnlichen Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Ausgeben von Metro-Fahr-Münzen am Schalter. Auf der Straße Handykarten-Verkäufer und „fliegende“ Gemüsehändler überall, alte Leute mit umgehängten Reklame-Tafeln oder -Lautsprechern, als Prospektverteiler, ganztägig stehend. Alle suchen ihre Gelegenheit, ihre Chance. Niemand bettelt öffentlich. Viel Einwegplastik, aber immer in den Müllbehältern, die jeden Morgen geleert sind. Kein Kaugummi, keine Kippen auf der Straße, nirgends. Alles ist frisch gestrichen, blitzt und strahlt, Mülleimer, Parkzäune, Straßenlampen. Die Straßen und Fußwege werden regelmäßig abgespritzt. Auf den Fahrbahnen eine permanente Geländewagenausstellung. Viel, zuviel Autoverkehr. Und die Fußgängerzahl, zumal in der Hauptzeit, ist so groß, dass sie unbeschadet bei Noch-Rot oder Schon-wieder-Rot als Menge über die Straße gelangt. Gewohnt wird hinter Türen mit Wohnungsnummer, die zusätzlich zur Hausnummer immer mit zur Anschrift gehört. Namensschilder an Klingel oder Tür – das gibt es nicht.
Eine schwere Stahltür, vierfach verriegelt, führt in den Flur der ehemaligen Großwohnung, die, wie alle im Haus, jetzt in mehrere kleinere aufgeteilt ist. Eine weitere Stahltür und eine Holztür, dann sind wir in der WG, bei Irina und Lena. „Unser“ Zimmer gehört Irina, die mit der Vermietung einen Teil ihres Lebensunterhaltes bestreitet. Hat sie Gäste, so zieht sie zu Lena ins Nachbarzimmer. Sieben Tage partizipieren wir hier ein wenig am russischen Alltag – in der WG, beim Einkaufen in der Markthalle oder bei Норма, das 24 Stunden geöffnet hat, beim Kochen morgens und abends in der spartanischen Küche, auch beim Bewegen im Viertel – Irina hat uns die Abkürzung durch die Hinterhöfe und den Schleichweg durch den Park gezeigt. Mit Hanna stimmen wir uns ab, einige Male sind wir mit ihr zusammen unterwegs oder treffen uns. An den Tagen, an denen sie im benachbarten Sprachinstitut Russisch lernt, kommt sie zum Abendessen zu uns. Und wir sind Gast bei ihr, besuchen sie in ihrem Zimmer, werden festlich bewirtet. So ist „Hanna in Russland“ nicht länger Gedankenkonstrukt und bloße Fantasie. Wir erleben, mit welcher Selbstverständlichkeit und Sicherheit unsere Tochter hier jetzt zu Hause ist, ihr Leben, die Aufgaben und Zeit organisiert und gestaltet. Wie und mit welcher Intensität sie sich dem fremden Land, der Stadt und ihrer Geschichte nähert. Schön! Anerkennung und Respekt. Auch dafür, dass und wie sie mit der wenig befriedigenden Situation in der Einsatzstelle umgeht. Es ist gut, dass Hanna JETZT HIER ist, in dieser so besonderen Stadt. Und es ist gut, dass wir, aufgewachsen in der Hoch-Zeit des Kalten Krieges, spannende erste Erfahrungen in Russland gemacht haben.
„Do swidanija Rossija!“
Welch schöne Idee, die Eltern einen Gastbeitrag schreiben zu lassen. Und dann noch so ein schöner! Bis bald am Werbellinsee…
Philipp
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass das nicht meine Idee war. Habe ich auf irgendeinem Blog einer „früheren Generation“ gelesen… und einfach mal ausgeliehen 🙂