Über das Städtchen Wyborg im Norden St. Petersburgs, beinahe in Finnland, wird gesagt, dass die St. Petersburger hierher nicht gerne kämen, denn dann müssten sie sich eingestehen, dass ihre Stadt nicht die europäischste Russlands ist.
Dorthin brachen wir also am 10.7. nach ein paar wirklich heißen Sommertagen bei idealem Reisewetter auf. Auf der knapp zweistündigen Zugfahrt regnete es zwar, aber am Zielort war es dann fast perfekt: Nicht zu warm, nicht zu kalt, leicht windig und gegen Abend immer schöner. Einen Stadtplan hatten wir leider nicht, aber der Stadtplan am Bahnhof bot abfotografiert eine gute Alternative…
Die Geschichte von Wyborg war ob seiner geographischen Lage sehr wechselhaft. So richtig deutlich wurde das, als wir um 12 Uhr Kirchenglocken hörten. Das gibt es in einem orthodox geprägten Land eher nicht. Dass das Wechselvolle der Geschichte sowohl Schatten- als auch Sonnenseiten hat, wird beim Rundgang durch das Städtchen deutlich, auch wenn heute vor allem die Spuren der jüngsten Vergangenheit auffallen.
Eine kurze Geschichtsstunde mit Bildern:
Im Mittelalter war Wyborg eine bedeutende Handelsstadt und schwedisch geprägt. Damals wuchs die Stadt als Siedlung am Fuß der Burg. Heute kann man die Burg besichtigen: Eintritt auf das Gelände: 10 Rubel (ca. 25 Cent). In den westlichen Ländern fände man in so einer Location diverse Andenkenläden mit immer den gleichen Souvenirs – hier nur die Reste eines Mittelalterfestes am vorherigen Wochenende.
Der Aufstieg auf den Turm kostet dann noch einmal 50 Rubel (1,25 €), dafür wird man mit einem tollen Blick über die Stadt und die Wälder ringsum belohnt – und mit viel Wind.
Im Krieg gegen die Herrscher des Novgoroder Russes (des Vorgängers Russlands) war die Stadt militärischer Stützpunkt der Finnen und lange uneinnehmbar. 1710 wurde Wyborg dann russisch – auch hier setzte Peter der I. ein Zeichen. Die Statue ihm zu Ehren steht in Wyborg allerdings etwas abseits, aber es gibt sie auch hier. In den nächsten Jahrhunderten, als das Finnland, was wir heute kennen, vollständig russisches Staatsgebiet war, kamen die Wyborger dennoch nicht zur Ruhe. Im Russisch-Schwedischen Krieg war die Stadt Stützpunkt, in Friedenszeiten wurde gebaut: Schnell war die Befestigungsanlage den wachsenden Hafenanlagen und Wohngebieten im Weg und die alte Bebauung gefährdete die Stadt, sodass es mehrere verheerende Brände gab. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt deshalb umgeplant: Die Befestigungsanlagen wurden abgerissen und die Straßenzüge neu unter veränderten infrastrukturellen Bedingungen geplant. Dennoch wurde hier nicht nur russisch gebaut, sodass man in Wyborg Gebäude aller Stile finden kann.
Nachdem 1917 die Region wieder zum nun unabhängigen Finnland gehörte, führte man nicht nur die Modernisierung weiter voran, sondern begann recht früh – finde ich – über das Bewahren und Weiternutzen alter Bausubstanzen nachzudenken. Im oben abgebildeten runden Turm wurde so schon 1923 ein Café eröffnet und auch die teilweise verschütteten alten Gewölbe längst aufgegebener Klosteranlagen wurden – wenn nicht konserviert – genauestens gezeichnet und das gleich in zweifacher Ausführung, sodass die Zeichnungen heute noch in Helsinki existieren, obwohl das Wyborger Heimatmuseum in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges abbrannte.
Tragischer Weise stand das Wyborger Leben 1939 in seiner vollsten Blüte. Nachdem Japan die Austragung der Olympischen Spiele 1940 zurückgegeben hatte und Helsinki als neuer Austragungsort festgelegt worden war, erweiterten Wyborger Hotels ihre Kapazitäten, denn hier hätten viele Fußballspiele stattgefunden. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges führte dazu, dass viele Bauvorhaben gestoppt wurden, da viele Betriebe aus der Stadt in das Kernland Finnlands zogen. Als am 30. November 1939 die sowjetische Armee begann finnische Städte zu bombardieren, verließen alle Bewohner die Stadt, sodass sie schon im Februar 1940 entvölkert war.
Der Friedensvertrag zwang Finnland dann zur Abgabe von ca. 10 Prozent seiner Landfläche und so wurde die Stadt Viipuri russisch und heißt seitdem (wieder) Выборг. Natürlich hat auch diese Zeit ihre Spuren hinterlassen: Es gibt einen roten Platz mit Leninstatue, es gibt ein Denkmal für die Helden des Großen Vaterländischen Krieges… all das, was eine sozialistisch geprägte Stadt als solche erkennbar macht.
Heute fällt vor allem auf, wie leer die Stadt ist. Vielleicht liegt es an der Sommerzeit, aber trotz der idyllischen Lage an den nordöstlichsten Zipfeln der Ostsee und der relativen Nähe zu Finnland und der Metropole St. Petersburg scheint die Stadt zu schlafen. Und nicht nur das, auch zerfallen viele der auf dem Übersichtsschild am Bahnhof aufgeführten Sehenswürdigkeiten unaufhaltsam. Die „Klosterruine“ haben wir gar nicht mehr wiedergefunden und ein frisch gestrichenes Herrenhaus mit zerschlagenen Fensterscheiben verkommt erneut auf einem gepflasterten Platz, der von Unkraut zurückerobert wird. Und die „Kirche“, die wir als die Entsenderin des Stundenschlags um 12 Uhr identifiziert hatten, ist nur noch ein Turm mit goldener Uhr und Birken im Gemäuer. Ganz neu ist allerdings die „Filiale“ der Eremitage St. Petersburg. An etwas skurriler Stelle (mit Ausblick auf rostige Hafenkräne) wirkt dieser Bau beinahe futuristisch und deplatziert.
Der Ausflug nach Wyborg hat sich auf jeden Fall gelohnt: Nach ca. 140 Tagen in St. Petersburg war es gut zu sehen, dass Russland mehr als diese Stadt ist. Und die die Stadt gab erneuten Anlass zur Geschichtsforschung und Reflexion und erst hier fiel wieder auf, wie laut St. Petersburg ist.
Wer gerne mehr von Wyborg sehen möchte kann das auf dieser Seite tun, die auch zu einem virtuellen Rundgang im Wyborg um 1939 einlädt.