VIII. Touristin – In Massen

Das Wetter war an diesem letzten Ausflugstag mit den Österreichern immer noch sehr aprilig. Regenschauer wechselten sich mit Sonnenaugenblicken ab, es war frisch, aber nicht kalt. Mit dem Bus ging es wieder heraus aus der Stadt, nach Puschkin. Seitdem ich wusste, dass es einen Stadtteil oder einen Ort namens Puschkin gibt, überlegte ich, ob der Dichter von hierher stammte und deshalb diesen Namen trug, oder ob der Ort nach ihm benannt wurde.

Auch dieses Rätsel wurde heute gelöst, neben der Frage, ob der Palast denn schon geöffnet sei. Interessanterweise sind wir nämlich dorthin aufgebrochen, ohne sicher zu wissen, dass die Sehenswürdigkeiten auch zu besichtigen seien. Denn die russische Internetseite machte dazu keine Angaben und die englischsprachige verkündete die Öffnung am 1. Mai.

Aber in Puschkin – das nach dem Dichter benannt wurde, als der alte Name „Zarendorf“ politisch nicht mehr tragbar war – trafen wir dann die ersten Touristenmassen – und längst nicht nur russische. Es war sogar so voll, dass wir im Ekaterina-Palast regelmäßig unsere Fremdenführerin verloren. Aber auch hier hat die Massenpublikumserfahrung der St. Petersburger Sehenswürdigkeiten etwas Neues auf den Markt gebracht: Jeder Gruppenteilnehmer bekommt einen Ohrstöpsel und einen Empfänger, der mit dem Mikrofon der Fremdenführerin verbunden ist. So kann man die Dame verlieren und trotzdem der Führung folgen. Allerdings hat das Sendesystem eine geringe Reichweite – wenn man nichts mehr hört, sollte man schnell die Gruppe finden, um nicht von japanischen, englischen oder spanischen Gruppen geschluckt zu werden. Weil so viele Menschen diesen Palast genau an diesem Freitag besuchen wollten, mussten wir durch die Räume mehr rennen als schreiten. Zum Glück gab auch irgendwann mein Fotoapparat den Geist auf (denn ich hatte ihn nicht aufgeladen, da ich von diesem Ausflug nichts wusste – ich war in Erwartung eines normalen Freitags in die Schule gekommen…), sonst hätte ich den Gang durch die historischen Räume später anhand meiner Bilder nachvollziehen müssen.

Nur im Bernsteinzimmer war Fotografierverbot. Allerdings lässt sich heute mit Handys recht unauffällig fotografieren, sodass während unserer kurzen Anwesenheit in diesem Raum sicher an die 50 Fotos gemacht wurden… Das Bernsteinzimmer ist wohl mehr Mythos als Attraktion. Natürlich hat es einen unschätzbaren Wert und zeugt von einer umwerfenden Geschicklichkeit der Bernsteinschnitzer, aber die mir bekannten Fotos vermitteln weit mehr Eindruck, als der Raum dann macht (vielleicht bin ich durch die allgemeine Pracht dieser Stadt aber schon abgestumpft…). Die Rekonstruktion halte ich für reine Verschwendung – eine Bild/Fotoausstellung hätte gereicht und den Mythos nicht zerstört. Wer will das „echte“ Bernsteinzimmer denn jetzt noch wiederfinden, sind doch mehrere Millionen Dollar für seine Rekonstruktion ausgegeben worden? Vielleicht kann man es ja auch gar nicht mehr finden…

Auch hier denke ich, dass die Bilder mehr vermitteln als meine Worte.

Einiges sei aber noch erzählt: Der Palast wurde also für die Zarin Katharina gebaut und ist berühmt für seine grellblaue Farbe. Er wurde während der Belagerung sehr zerstört und bis jetzt sind längst nicht alle Zimmer restauriert. So kann man nur die Repräsentationszimmer sehen – Einblicke ins zarische Leben gibt es aber nicht. Warum der Ort nicht mehr „Царское Село“ (Zarskoje Selo=Zarendorf) heißt? In dem zarischen Lyzeum wurde die Elite des Landes ausgebildet, darunter auch ein in literarischer Hinsicht vielversprechender junger Mann namens Alexander Sergejewitsch Puschkin. Dessen Abschlussrede soll einen berühmten Schriftsteller der damaligen Zeit zu der Aussage gebracht haben „Nun kann ich sterben, ein neuer Stern am Himmel der russischen Literatur ist aufgegangen!“. In den anderen Fächern soll der junge Mann aber höchstens durchschnittlich gewesen sein. Ironischerweise breitete sich von diesem Lyzeum der Dekabristenaufstand aus – was sich die Zaren selber zuzuschreiben hatten, da sie als Gastdozenten die geistige und auch freigeistige Elite Europas einluden. Und so kamen postrevolutionäre Franzosen hierher… In der „Chaoszeit“ ab 1918 wurde der Ort „Kinderdorf“ genannt, ob es dafür einen sachlichen Grund gab, oder ob das nur eine Schmähung des ursprünglichen Namens sein sollte, weiß ich nicht. Ab 1937, als das sozialistische Regime seine Herrschaft auf einer Ideologie aufbaute, wurde das Dorf in „Puschkin“ umbenannt, der als Wegbereiter der russischen Literatursprache ein hohes Ansehen genoss.

Der Berliner Stadtteil Neukölln ist Partnerbezirk von Puschkin.

Ich habe einen archäologischen Glücksgriff getan. Nach der Besichtigung hatten wir noch eine knappe Stunde Zeit, uns die Parkanlagen zu erlaufen und da mich die Souvenirmeile nicht reizte, ging ich in den Landschaftspark, der sich in der Nähe des Schlossparks befindet (in dem nämlich so viele Hochzeitsfotos gemacht wurden, dass ich lieber das Weite suchte, denn ich wollte nicht als „Störobjekt“ auftreten.) Das Gesicht gegen den beginnenden Regen dem Boden zugewandt, spazierte ich also über matschige Wege, als ich plötzlich eine Scherbe fand… Interessanterweise ist der Palast geschmückt mit blau-weiß gekachelten Öfen… Ich beschließe, eine historische Scherbe gefunden zu haben… (Das Foto folgt, sobald nachgestellt 🙂 )

Trotz des trüben Wetters war es ein schöner Ausflug. Auf dem Rückweg hielten wir noch bei der Hauptkirche der Romanovs, also der Zarenfamilie. Diese Kirche ist erst seit ein paar Jahren restauriert und noch nicht von den Touristenströmen entdeckt. So war die Dame, die Aufsicht führte, erkennbar genervt von der unfrommen Horde, die hereinpreschte und als der russische Begleiter fragte, ob wir die uralte Höhlenkirche, die sozusagen die Krypta bildet, sehen dürfen, war sie beleidigt und hat nicht geantwortet. Die touristische Ruhe wird aber auch hier in einigen Jahren vorbei sein, denn gegenüber der Kirche liegt ein sehr verfallenes Fort. Es war früher Sitz der zaristischen Polizei und wird jetzt nach und nach restauriert. Dann soll es in den Puschkinbesuchsplan der Reiseveranstalter aufgenommen werden. Die Zeiten ändern sich – auch und vor allem in Russland.

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