Noch 100 Tage…

Eigentlich müsste ich vom Trip nach Moskau berichten oder von der merkwürdigen Mischung von Zarentum und Demokratie, gewürzt mit einer Prise Sozialismus am Dienstag, aber heute gibt es tagesbedingt einen Zwischenartikel:

Vor einigen Tagen gab es die E-Mail mit der Aufforderung/Bitte zum Zwischenbericht. In 25 Tagen beginnt das Zwischenseminar – und heute sind es noch 100 Tage, die ich in St. Petersburg verbringen werde (für’s erste…)

100 Tage (und auch genau zwei Monate hier) – das hört sich zugleich nach viel und wenig an und ich fühle mich aufgefordert, ein wenig zu reflektieren:

  • Im Moment warte ich. Worauf eigentlich? Ich warte auf den Frühling, auf die Blätter, auf Tulpen und Springbrunnen. Ich warte auf den 11. Mai… Ich warte auf das Erwachen der Stadt. Das scheint komisch, denke ich doch (und das als Stadtkind) fast täglich: „So viele Menschen!“ Die Stadt ist keineswegs ausgestorben oder schläfrig. Aber vielleicht fehlen ihr die Touristen… Denn so viele Angebote, die ein arbeitender Bürger sicher nicht nutzt, stehen da und warten – und ich warte mit. Ich warte auf meine Schwester, dass ich auf den Tag ihrer Anreise warten kann. Ich warte auf das Zwischenseminar und die Mitfreiwilligen und die angekündigten 20 Grad. Ich warte auf Arbeit. Und ich warte sogar schon auf die Ferien, obwohl ich noch nicht weiß, wie die aussehen werden. Dieses Warten ist aber nicht ungeduldig und vielleicht auch nur vom Frühling mitgebracht, denn so einen langen/schneereichen/kalten/fremden/spannenden Winter hatte ich noch nie – da werden die Erwartungen auf das Kommende umso größer.
  • Ich habe viel gesehen, vor allem in der letzten Woche. Aber unabhängig von den touristischen Sehenswürdigkeiten habe ich auch das Leben hier gesehen, wenn auch nur in Ausschnitten: Und es fühlt sich wunderbar an, wenn man einen Weg routiniert immer wieder geht und nicht mehr nachdenken muss über die Anzahl der Kreuzungen. Es ist schön, wenn man ohne Metroplan am Ziel ankommt. Und noch besser ist es, ohne Stadtplan einen Alternativweg zu finden – aber wozu ist diese Stadt denn auch nach Plan gebaut…
  • Mir fallen viele Dinge auf, die ich früher nicht bemerkt habe/hätte. Manches muss man mit anderen Augen oder in einem anderen Zusammenhang sehen: Deutsche Sitten und Ausdrucksweisen, Feinheiten der Sprache, das eigene Verhalten. Folgendes sei weitergegeben: Ich lese einen Text über Frühlingswünsche und stoppe bei der Formulierung: „Die Vögel singen auf den Bäumen“. Dann verbessere ich: „in den Bäumen“. Die Lehrerin ist verwirrt und fragt nach. Da die Autorin des Textes sich wünschte, der Text solle auch im Deutschen poetisch klingen, hielt ich das für die passendere Lösung – aber wieso? Letztendlich kam ich zu der Erkenntnis, dass „auf den Bäumen“ eine rein praktische Ortsangabe sei und man sich vielleicht (wenn man nicht die Beschaffenheit eines Baumes bedenkt) vorstelle, dass die Vögel oben auf dem Baum (so wie eine Wetterhahn auf dem Kirchturm) sitzt. „In den Bäumen“ käme dann dem typischen Vogelverhalten näher. Jetzt kommt mir das Ganze etwas haarspalterisch vor – aber daran habe ich unter anderem gesehen, wie schwer es ist, seine Muttersprache zu erklären. Da man sie doch ohne bewusste Regeln gelernt hat. Noch deutlicher wird es bei Deklinationsübungen – wie dankbar bin ich meinem Lateinunterricht, sonst müsste ich noch länger nachdenken. Und auch so schummle ich: Mit Beispielsätzen wie: „Wem wird das Essen gegeben?“ – „Den Kindern wird das Essen gegeben.“ So bekomme auch ich den Dativ Plural recht schnell hin…
  • Ich lebe (zu) sehr in der Gegenwart. Die nähere Vergangenheit (die hier in Russland) ist keinesfalls verblasst, aber trotzdem wie ein Film, den ich so gut kenne, dass ich ihn nicht mehr schaue und auch nur selten bedenke. Die fernere Vergangenheit ist ein riesiger Schatz und es ist schwer zu verstehen, dass das Leben, zu dem ich so lange gehörte, in Deutschland einfach so weitergeht und ich nicht dorthin zurückkommen werde, wo ich aufgebrochen bin (räumlich gesehen hoffentlich schon…). Dadurch wird die „Heimat“ fast wie eine Überraschung, auf die ich mich jetzt schon freue. Hauptgedankenspiel: Wie sieht der Garten wohl Mitte August aus. Vielleicht sollte ich meine Ideen/Gedankenbild festhalten und dann vergleichen.

    Die Zukunft entzieht sich meiner Gedankenkraft. Ich will ja über langfristige Zukunftsplanungen nachdenken, aber jedes Mal schweifen die Gedanken ab… oder die Hände greifen nach einem Buch… oder das Wetter ist zu schön. So habe ich momentan nur einen Plan, den ich nicht einmal für besonders intelligent oder ausgereift halte. Schlecht, aber es wird sicher. Vielleicht warte ich ja auch darauf?!

    Ein wichtiger Faktor ist sicher mein wunderbares Zimmer. Es ist ein „nach Hause kommen“, es fühlt sich nicht nur so an. Wenn man samstags um 15 Uhr nach Hause kommt und fast drei Stunden Sonne zur Eröffnung des Wochenendes hat, kann man doch nur zufrieden sein.

    Ein bisschen sind auch die Umstände „Schuld“ an meinem Verharren im Augenblick. Planung ist auch in der Schule eher Theorie und Planänderungen eher die Praxis. Ich habe mindestens fünf Präsentationen (auf Bitten der Lehrerinnen) vorbereitet, aber erst eine davon auch verwendet. Ich warte oft vor verabredeten Räumen und renne wenige Minuten später durch die Schule auf der Suche nach einer Klasse… Man sollte lieber nicht planen und auf keinen Fall am Plan festhalten, denn alle um dich herum sind das gewohnt und vielleicht fällt es ihnen gar nicht mehr auf.

Ich könnte lange so weiter schreiben, aber ich befürchte, dass nur wenig aus der Ferne und in so ganz anderen Situationen nachvollziehbar ist, da mir einfach die Worte fehlen, das Erlebte und Gefühlte für andere fühlbar zu machen. Auch diesen Text habe ich in zwei Abschnitten geschrieben und bei der Durchsicht des ersten hätte ich beinahe begonnen, vieles zu verändern…

  • Die Quintessenz im Augenblick ist: Ich bin zufrieden. Nicht vor Glück und Erfüllung euphorisch und nicht verzweifelt und am Ende. Sondern dazwischen. Und das konstant seit meiner Ankunft in dieser Stadt. Und darüber freue ich mich!
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