Bevor mir die Erlebnisse davonlaufen und der Regen alles fortspült, will ich berichten. Darum wird sich das Illustrieren noch ein bisschen verzögern.
Um es kurz zu fassen: Am 20. April habe ich viel gelernt:
- St. Petersburg war früher sehr klein: War doch die Festung auf der Haseninsel die ganze Stadt! Das vergisst man heute schnell, wenn man von Peter dem Großen und seinen Verdiensten um die Stadt spricht. Ist sein Palast heute zwar am Rande der Stadt, aber dennoch gut erreichbar, lag er früher weit ab vom Lebenszentrum. Ähnlich wie beim Kreml in Moskau gab es erst einen kleinen, umfriedeten Raum, in dem sich das ganze Leben abspielte. In Moskau siedelten sich schnell rundherum Menschen an – in St. Petersburg war dort allerdings Wasser und Sumpf. Dennoch hatte die Stadt (immerhin Hauptstadt eines großen Reiches) alles, was die Zivilisation ausmacht. So werden auch heute noch 85% des Münzgeldes ganz Russlands auf der Peter-und-Paulsfestung geprägt! Insgesamt wirkt die Anlage wie eine Verkleinerung einer viel größeren Stadt oder vielleicht auch wie eine exemplarische Ausstellung St. Petersburgs.
- Die St. Petersburger Zaren scheinen recht humane Gefängnisse gehabt zu haben. Das ist natürlich ein heikles Thema: Aus der Distanz scheint es mir, als zeige man in Ausstellungssituationen vor allem der jüngeren Vergangenheit alles Grausame und Schlechte besonders deutlich und explizit, damit deutlich wird, dass sich die Nation bewusst mit der Vergangenheit auseinandersetzt und diese ausarbeitet. Hier in St. Petersburg erlebe ich Stolz: Auf die Stadt, auf die Geschichte, auf die Entwicklung und den Istzustand. Etwas anderes erwartet man als Touristin in einer großartigen Stadt auch erst einmal nicht. Aber wenn es dann um Gefängnisse und Haftbedingungen geht, dann fängt man doch an, nachzudenken. Als erstes fiel mir also im Gefängnis auf der Festung zuerst auf, dass die englischsprachigen Exponatinformationen so knapp wie möglich gehalten waren. Ohne die Führung wäre mir vieles verborgen geblieben. Als zweites irritiert, dass die Zellen, die wie in der Zarenzeit ausgestattet sein sollen, mit Streifentapete ausgekleidet sind. Auf Nachfrage wurde wiederholt, dies sei die Originaleinrichtung. Drittens sind alle Spuren an die Sowjetzeit getilgt worden. Keine Wachanlagen wie in Hohenschönhausen oder anderswo. Auch wenn die zur Veranschaulichung ausgestellten Puppen in Lebensgröße recht sozialistisch uniformiert aussehen. Und im übrigen sei nur die Zeit bis zu den 20er Jahren erforscht, die Zeit bis 1951, von der man theoretisch wisse, werde noch im Archiv bearbeitet. Ende, wir müssen schnell weiter.Aber nun rein informativ: Zuerst hatten die Gefängnisinsassen Holzbetten, die aber nach einem Aufstand, bei dem mit Holzlatten auf Wärter eingeschlagen wurde, gegen im Boden verankerte Metallbetten ausgetauscht wurden. Jede Zelle verfügte über ein Fenster, einen Tisch, eine Waschschüssel (später auch einen Wasseranschluss) und ein abdeckbares Miniplumpsklo. Man durfte einige private Gegenstände mitnehmen, Verwandte durften Essen bringen und gegen Aufpreis bekam man eine Extraration. Zwei Zellen teilten sich einen Ofen – Hofgang war jeden Tag für 15 Minuten. Man muss zu dieser Schilderung sagen, dass sie die vom Lehrer aus dem Russischen übersetzten Worte wiedergibt und leider nicht zu überprüfen ist. Und das Gefängnis wurde vor allem für die Untersuchungshaft verwendet, also galten andere Maßstäbe als in der Haft nach Verurteilung.
- Alle Romanows (Zarenfamilie aus St. Petersburg) sind auf der Peter-und-Paulsfestung begraben.Wer nicht in St. Petersburg starb, wie die letzte Zarenfamilie, die in Jekaterinburg ermordet wurde, wurde hierher umgebettet. Diese Familie ist allerdings in einer Sonderkapelle untergebracht, da die russisch-orthodoxe Kirche bezweifelt, dass es sich bei den 1998 beigesetzten Knochen wirklich um adlige handelt und deshalb eine Anerkennung verweigert. Auch die Frau von Zar Alexander III., die nach der Oktoberrevolution in ihre Heimat Dänemark ausgesiedelt war, wurde 2006 hierher überführt, weil ihr Platz in der Gruft von Roskilde benötigt wurde.Natürlich sind nicht alle Kinder und Kindeskinder in dieser Kirche begraben. Aber dass hier 53 Grabstätten sind, lässt die Größe der Kirche auch nicht vermuten.
- Diese russisch-orthodoxe Kirche hat eine Kanzel: Daran sieht man, wie sehr Peter der Große von der europäischen Kultur geprägt war. Sicher hatte er in Holland Kanzeln gesehen und so etwas auch für seine Kirche vorgesehen. Die hiesigen Priester wussten nichts damit anzufangen, sodass die der Legende nach nur einmal verwendet wurde: Als Leo Tolstoi exkommuniziert wurde.
- Irgendwann muss ich um 12 Uhr auf der Festung sein: Denn dann wird jeden Tag ein Kanonenschuss abgegeben, angeblich ununterbrochen seit Gründung der Stadt (oder Installierung der Kanone…) Das finde ich ziemlich skurril – aber die Geschichte hat die Petersburger vor weiterer Kanonisierung bewahrt: So wurden früher bei der Geburt eines Zarensohnes 301 und bei der Geburt einer Zarentochter immerhin 101 Salutschüsse abgegeben.
- In einer Ecke der Festungsmauer, aber außerhalb der Anlage, also direkt am Ufer der Neva stehen fast jeden Tag zwei Männer, die sich sonnen – und das nicht nur bei Sonnenschein. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!
- Wind macht müde: Dieser Tag war so windig wie kein anderer seit ich hier bin. Dabei herrschten weniger einzelne heftige Böen, sondern ein steter, starker Wind. Obwohl ich weder viel gelaufen, noch andere kräftezehrende Aktivitäten unternommen habe, fühlte ich mich nachmittags ausgelaugt – oder vielleicht auch leergepustet…
Das war eigentlich weniger praktisch, da es doch nachts/über Nacht nach Moskau gehen sollte. Aber statt vorzuschlafen habe ich mit Zuhause videotelefoniert und leckeren Salat gegessen. Ein bisschen Bananenkuchen aus dem Topf. Um 23:30 Uhr habe ich mich dann auf den Weg zum Bahnhof nach Moskau (denn die einzelnen Zielrichtungen haben hier eigene Bahnhöfe) gemacht, der netterweise in Fußnähe liegt – fast wie früher…
- Russische Liegewägen sind toll! Nachdem ich statt bei den Lehrern bei drei Schülerinnen einquartiert worden war (denen ich mich dann doch noch näher fühle), staunten wir über das „Hygienepaket“: Einfache Latschen (die allerdings für die Toilette mehr als nötig waren), Zahnbürste, Zahnpasta, Erfrischungstuch…Aber das gehört hier eigentlich gar nicht mehr hin, denn der Zug fuhr um 00:40 Uhr am 21. April ab…