In der Nacht von Sonntag auf Montag kam die Austauschklasse der Schule in St. Petersburg an und als sie am Morgen mit ihren Gastgebern aus der 10. Klasse das Haus verließen, hatte es nachts gefroren und es herrschte der unangenehmste Wind, den ich hier bis jetzt erlebt habe. Zum Glück (und anders auch gar nicht möglich wegen der Dimensionen dieser Stadt) unternahmen wir – denn ich kann die Österreicher zum „Touri“-Programm begleiten, um die Stadt dann auch mal kennenzulernen – eine Rundfahrt per Bus. Der Bus war wahrscheinlich extra ausgesucht worden…
Als erstes fuhren wir durch mir bekannte Gebiete: Vorbei an den Хрущёвки (Chruschtschowki), die im Modellbauverfahren die Wohnungsprobleme der 1960er Jahre lösen sollten und nur als Übergangsvariante gedacht waren, vorbei an den „Häusern der Deutschen“, die von Kriegsgefangenen als Reparationsleistung gebaut wurden und auch wegen ihrer Optik sehr beliebt sind. All das findet man in der näheren oder ferneren Umgebung der Schule. Dieses Gebiet wurde während der Belagerung vollständig zerstört und ist deshalb von verschiedenen Stilen der Sowjetzeit geprägt. Hier steht die letzte Leninstatue St. Petersburgs und ein riesiges Monumentalgebäude, das Stalin als Zentrum des „sozialistischen Leningrads“ errichten ließ. In diese Ära fällt auch das Mahnmal oder Denkmal an die Belagerung St. Petersburg. Ich wusste zwar vorher, dass es diese gab, aber mehr nicht.
Darum als Information: 900 Tage wurde St. Petersburg von der deutschen Wehrmacht belagert. Im September 1941 begann die Operation, die die völlige Zerstörung Leningrads zum Ziel hatte. Da sich in der folgenden Zeit (die Belagerung endete im Januar 1944) zeigte, dass der Widerstand der Armee und der Bevölkerung zu groß war, um dieses Ziel zu erreichen, wurde die Stadt isoliert. Die Lebensmittel wurden gleich zu Beginn der Belagerung bei einem Bombenangriff zum Großteil vernichtet und der Winter 1941/1942 war der kälteste seit langer Zeit. Die Versuche, durch Flugzeuge und über den zugefrorenen Ladogasee Lebensmittel in die Stadt zu bringen, waren selten erfolgreich und die Wehrmacht verschärfte die Situation zusätzlich durch das Einschleusen gefälschter Lebensmittelbezugskarten. Während dieser Zeit starben rund zwei Millionen Russen in und um St. Petersburg, die meisten der 750.000 Zivilisten verhungerten.
Das Mahnmal bildet im Prinzip den Mittelpunkt eines Kreisels und befindet sich in der Nähe des Ortes, an dem die Befreiung begann. Hier sind verschiedene Bevölkerungsgruppen symbolisch dargestellt, die die Befreiung ermöglichten. Die Soldaten, die Frauen und Kinder in den Fabriken, die Arbeiter. Im Innenbereich werden die Auszeichnungen der Stadt dargestellt und es brennen ewige Feuer. Dazu wird dramatische Musik abgespielt, meist die Leningrader Sinfonie, die Schostakowitsch während der Belagerung in der Stadt schrieb und die auch noch während dieser Zeit hier uraufgeführt wurde. Überragt wird die ganze Anlage durch einen Obelisken, auf dem die Daten der Belagerung verewigt sind. Es ist vielen St. Petersburgern sehr wichtig, dass von einer „Belagerung“ gesprochen wird, denn dadurch werde das Unrecht deutlicher, dass ihrer Stadt widerfahren sei. Denn „Krieg“ würde aktive Kampfhandlungen der russischen Armee suggerieren, die aber nur die Stadt bewahrt habe.
Bei allem Leid, das die Belagerung mit sich brachte, sind die St. Petersburger aber dankbar, dass ihre Stadt nicht dem Erdboden gleichgemacht wurde. Deshalb kann man heute zwar nicht mehr die alten Paläste aus den Zeiten Peters I. in Strelna sehen, aber die historische Stadtanlage, die unter Katharina der Großen wuchs, ist fast vollständig original erhalten.
Anschließend vollzogen wir einen Zeitsprung und fuhren in den historischen Teil St. Petersburgs. Das Smolny-Kloster, das mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist, wurde als Altersruhesitz für die Zarin Elisabeth I. geplant und gebaut, aber diese verstarb vor der Fertigstellung. So wurde 1764 hier die erste Universität für Frauen gegründet und der Klosterkomplex wurde als Wohnstift für die Studentinnen verwendet. Dem eigentlichen Zweck hat das Gebäude also nie gedient. Auch die Kirche wird heute nur als Konzertsaal benutzt und soll die beste Akustik in St. Petersburg haben. In der Zeit der Oktoberrevolution tagte hier der Arbeiter- und Soldatenrat und in der Sowjetzeit war es Regierungssitz, bis Moskau wieder Hauptstadt wurde.
Eine Zeitreise war auch die Fahrt entlang der Neva. Auf dieser „Lebensader der Stadt“ trieben an diesem Schwellentag zum Frühling die Eisschollen des Ladogasees der Ostsee entgegen und passierten hier exemplarisch die Geschichte St. Petersburgs. Denn hier stehen noch alte Industriegebäude, neue entstehen. Hier steht das Gebäude des Geheimdienstes, in dem während der Stalinzeit unzählige Menschen ohne Prozess interniert wurden und viele starben. Hier passiert man die goldene Spitze der Peter-und-Pauls-Festung und den Panzerkreuzer „Aurora“, der die Oktoberrevolution eröffnete. Hier sind die Paläste des Hochadels der Petersburger Blütezeit und hier steht der Winterpalast der Zarenfamilie. Während wir im Bus saßen, wussten wir oft nicht, ob der Blick nach rechts mehr lohnt als der nach links, sodass der Kopf hin und her schnellte.
Das heutige St. Petersburg erlebten wir bei der Fahrt zum Passagierhafen. Die Dimensionen lassen sich in dieser Jahreszeit nicht erahnen, da keine Megaliner ankern. Aber in der Hauptsaison können hier sechs bis acht der größten Ostseeschiffe liegen. Der Passagierhafen ist ein ehrgeiziges Projekt, dass im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut ist (im übertragenen sicher nicht, da die Branche der Kreuzfahrten wächst und St. Petersburg schön bleibt). Um mehr Land und Baufläche zu gewinnen, wird seit der Gründungszeit Petersburgs Sand aus dem Finnischen Meerbusen an Land aufgeschüttet. Das hat heutzutage für die Schifffahrt auch den Vorteil, dass das Meer tiefer wird, denn unter natürlichen Bedingungen würde der Meerbusen irgendwann verlanden. Es wirkt allerdings surreal, wenn man am ausgeschilderten Pier steht, auch die Uferbefestigung und Poller zum Vertäuen der Schiffe sieht, aber kein Meer. Die Karussells, die sogar in Betrieb waren, krönen das Ganze dann noch, denn hierher wird niemand mehr kommen, um die Aussicht aufs Meer zu genießen.
Nach dieser Fahrt durch Stadt und Zeit waren wir alle erschöpft und durchgefroren, da der Wind eisig war. Da war es sehr angenehm, dass mich von meinem warmen Zimmer nur zwei Metrostationen trennten…