Archiv der Kategorie: Erlebte Geschichten

Die große Glocke

Es war warm an dem Tag. Endlich. Der Kalender zeigt Mittwoch, den siebten Mai 2014. Auf alles vorbereitet sitze ich vor der Schule, eine Pita in der Hand, und gucke in die Sonne. Feierabend schon seit 20 Minuten. Doch bis zum Stundenende warten wir noch.

Kurz vor Stundenende. Alles ist still. Alles. Die Vögel zwitschern, die Autos düsen durch schon seit langem grüne Bäume versteckt vorbei, kein Türenklappern, kein Garnichts. Man wartet. Auf die Glocke.

Dann klingelt es. Genauso laut wie immer, genauso schrill wie immer. Nur… hört es nicht mehr auf. Die Milisekunde zu viel. Da, die Erkenntnis. Man hat die Schülergesichter vor sich. Die normale Ruhe, die Überraschung – der Jubel.

Und dann kriegt sich niemand mehr ein. ALLES fliegt aus den Fenstern. Stifte, Schultaschen, Papier verdunkelt den Himmel, die Autos sind nurnoch schemenhafte Schwämme, die vorbeiflitzen, Motoren werden übertönt. Die Schule brüllt vor bosnischem Temperament.

Es donnert, die Treppe wird in Abgang genommen, und da kommt er schon: Der erste Maturant, noch bevor das lange Klingeln aufhört zu läuten. Fliegen tut er, heraus aus der Eingangstür, die der Hausmeister mit Tränen in den Augen offenhält. Fliegen tut er so, dass sein Kopf fast oben am Türrahmen anstößt. Die Arme weit nach Hinten gestreckt, das Gesicht genießerisch in die erlösende Sonne gereckt, den Rucksack links liegen lassend. Drei Sekunden später kommt sie, die Meute. Der letzte Schultag des Abschlussjahrgangs ist vorbei.

 

Ein Lehrer hatte mir netterweise vorher gesteckt, dass ich doch noch eine Stunde warten soll, bis ich nach Hause gehe. Was sich ausgezahlt hat. Die Straße wurde erstmal blockiert und mit schallenden Liedern besungen und beschrien. Lehrer standen an den Fenstern wie die Schüler auf der Straße, um ihr Lächeln und ihre Tränen noch ein letztes Mal zu zeigen. Diese Schüler bekommt man jetzt nurnoch auf dem Maturantenball und der Abschlussprüfung zu Gesicht.

Die zweite große Glocke schallerte an meiner letzten Schule diesen Freitag. Nur bei weitem nicht so unerwartet. Die restlichen Schüler des Kantons Sarajevo haben seit Freitag offiziell zweieinhalb Monate Sommerpause. Und ich somit auch. Die Unerwartung und somit der geniale Überraschungseffekt, den ich zu meiner großen Freude miterleben durfte, ist nicht wie im Planerdeutschland von vorn herein festgelegt: Man muss genauso viele Unterrichtsstunden abarbeiten, wie am Schuljahresbeginn geplant waren. Wenn alle durch sind, drückt man eben etwas länger auf den Klingelknopf.

Seit Anfang der letzten Woche wird sich verabschiedet, Eis gegessen und beschenkt. Man merkt genau, wer dankbar ist und wer nicht, Schüler wie Lehrer. Ob man sich mit Kollegen nichtmal die Hand gibt oder doch für eine geschlagene Minute in den Armen liegt, zeigt, wo man was wie richtig und was woanders nicht so richtig gemacht hat. Auch, wenn man den Geschenkestapel lieber nicht ale Richtlinie für getane Arbeit sehen sollte.

 

Meine große Glocke klingelt Anfang Juli. Dann heißt es Aufbruch, mit dem Fahrrad an der Donau entlang nach Hause. Letzte Sachen werden geklärt, die Zeit genossen, Schüler und Freunde werden noch tausend Kaffees und Rakijas trinken müssen, bis sie mich dann doch endlich los sind. Verschwinden wird man aus diesem Schulapparat, nächstes Jahr kommen zum Glück meiner Schüler und Kollegen hier Nachfolger, um den Laden nochmals zu erfrischen. Verschwinden wird man aus diesem Land, zumindest vorest. Verschwinden und nie wiederkommen wird auch die Stimmung dieses Jahres – arbeiten wird man so nicht wieder, leben so auch nicht. So schön. Vielleicht ist es gerade so toll, ein Jahr begrenzt irgendwo zu sein. Da hört man nämlich wirklich mal auf, wenn es am schönsten ist. Wiederkommen aber werde ich. Und ich hab ja jetzt noch drei Wochen.

Nur, dass der Finger erstaunlich bedrohlich über meinem Klingelknopf verweilt. Mir aber noch die Zeit gibt, in Ruhe alles zu packen und diese letzten Monate genussvoll ausklingeln zu lassen.

Von bosnischen (Seminar)fluten

Hier hieß es Land unter die letzte Woche. Sowohl auf meinem Schreibtisch als auch im Rest des Landes: Bosnien und Umgebung erleben Erdrutsche, Überschwemmungen, Heimlosigkeit und (zumindest bis gestern) eine Woche Dauerregen. Da schätzt man es doch sehr, dass unser „BuH lacht“ Seminar alles andere als ein Bauchklatscher in braune Fluten war.

Ganz im Gegenteil: Wenn nach drei Tagen locker-intensiver Arbeitsatmosphäre eine top Aktion auf der Straße steht, die Gruppe uns selbst als Familie bezeichnet, man nur konstruktives Lob und tränenvolle Blicke zugeworfen bekommt, kann man schon von deutlichem Erfolg sprechen. Nur die Augenringe am Montagmorgen darf man sich nicht angucken, oder gerade: Ich hab mir gesagt, dass die in 20 Jahren bestimmt wie Lachfalten aussehen.

Gelacht haben wir nämlich. Täglich und ausgiebig. Und nur. Nach donnerstägigen Workshops zur allgemeinen Straßenkunstfindung (da ging es los mit der Lacherei und sollte nie wieder aufhören) und Planungen am Freitag, lagen wir Freitag mit unnormal viel Publikum schwarz angezogen und mit Farbe im Gesicht auf dem Boden der Innenstadt rum, nachdem wir uns mit bunten Luftballons blau geprügelt hatten und die Stadt mit weiterer Tanz-Rythmus-Gedicht-Freudeabreißzettel-Prank-Mopperei verzuckert haben. Das stille Abschlussspektakel wurde brav von Romakindern zu einer „Wir klauen die Luftballons“-Schau umfunktioniert: So soll es la schließlich laufen auf der Straße. Die Stadt macht aus uns, was sie will.

Spontan wurde dann noch vorbeifahrenden Autor applaudiert, die haben’s verstanden, die Kids. Freizeit gab es genug, Freiheiten auch, was die ganze Schose sehr angenehm für alle seiten gemacht hat. Soetwas wurde dann mit gemeinsamem Frühstück belohnt, mit dem kleinen Finger hat man gezuckt und schwupps war der ganze Raum wieder sauber.
Nein, alles in allem will ich uns fünf Freiwilligen und vor allem den Schülern wirklich nur selber auf die Schulter klopfen. Gegenseitige Besuche der Schüler sind schon geplant, was ja genau das Zeil war: Sarajevoer, hab Freunde in Banja Luka, mit denen du lachen und das Leben genießen kannst. Und wer weiß, wann man das nächste mal zusammen die Innenstadt rockt. Wie wir da rumgelaufen sind, sieht man hier. Einfach mal durchklicken.

 

Nach diesem Erfolg ging es wettertechnisch weniger erfolgreich weiter. Was einen natürlich noch glücklicher macht, was das Vorgängerwochenende angeht. Den sowieso schon hoch stehenden Flüssen durch den Aprilregen (die Una im Norden Bosnien und Herzegovinas stand am ersten Mai zwei Meter höher als normal) wurde der Rest gegeben. Wir haben es mit den schlimmsten Fluten der letzten 100 Jahre zu tun. Bosnien und Serbien rufen den Notstand aus.
Sarajevo uptown hat es noch gut. Hier liegen die Sandsäcke nur vorsichtshalber am Flussufer, Die widerlich braunen Schlamm-Erdrutschfluten sammeln sich weiter flussabwärts: In Ilidža. In diesem weitläufigen Ex-Römertal fließen gleich drei weitere Flüsse mit der Miljacka zusammen und bilden somit ein wunderbar flutfreudiges Tal. Hier steht alles unter Wasser, wie in weiteren Städten noch viel extremer, die werden von Erdrutschen geplagt. Das Eigenheim, wofür das ganze Leben geschuftet wurde, kann man sich auf einmal vom Ufer aus angucken. Menschen sind jetzt nicht nur job- sondern auch noch heimatlos.
Ein momentan noch aufkommendes Problem versteckt sich jedoch nicht in den Fluten, sondern vielmehr im Verrutschten. Landminen halten 100 Jahre. Der Krieg ist knapp 20 Jahre vorbei. Straßen wurden wegen der Fluten gesperrt und werden auch noch gesperrt bleiben müssen, bis man den Mist durchgesiebt hat.
Eine dieser Straßen ist die Verbindungsstraße Banja Luka – Sarajevo, die seit diesem Wochenende nicht befahrbar ist. Folglich ist der Referent für das für dieses Wochenende angesetzte Seminar „Grammatik und Grammatikvermittlung“ der ZfA in Banja Luka kleben geblieben, ebenso wie ungefähr 40 weitere Lehrkräfte des DSD-Programms in ihren Heimatstädten.
Das Programm (wir waren diesmal nur genervte Teilnehmer – was soll man schließlich 4 Wochen vor Schulschluss noch Grammatik vermitteln übern? Ein wenig spät für uns…) wurde also (zu unserer geteilten Freude) um circa 80 % gekürzt, womit wir heute zumindest einen Tag Wochenende haben, um das letzte Seminar nachzuarbeiten und das für nächstes Wochenende vorzubereiten:
Wie auch schon im Oktober werden die zukünftigen DSD-Schreiblinge und Schreiblinginnen mithilfe eines Vorbereitungsseminars auf den schriftlichen Aufsatzteil der Prüfung vorbereitet. Warum nicht wieder im Oktober? Weil das zu kurzfristig war. Jemand, der in der Jugonostalgie noch nie eine Diskussion geführt hat, kann dies schlecht innerhalb von zwei Monaten lernen. Man braucht dafür zwar ein ganzes Leben, jedoch bietet sich ein halbes Jahr Vorsprung doch deutlich eher an. Einfach, damit die Schüler mal ein Gefühl dafür kriegen, was auf sie zukommt. Samstag geht es an die Struktur des Aufsatzes, Sonntag wird geschrieben und besprochen. Seminiert eben.

Danach hab ich dann mal wieder freiere Wochenenden. Aber wie auch zwei Tage im Komplettstress vor Beginn des „lachenden BuHs“ sage ich mir jetzt: Genieße jede Sekunde Stress, geht sowieso alles viel zu schnell vorbei. War letztes Wochenende so und wird auch für die letzten vier Schulwochen so sein.

Ein Liebeslied an die VILSONOVO ŠETALIŠTE

Novo Sarajevo bis Stari Grad. Entlang des Flusses. Ob der Fluss jetzt hässlich ist oder nicht, da läuft sie lang, die Straße namens Vilsonovo Šetalište. Zu Deutsch: Promenade des Wilsons.

Und es ist nicht nur eine Promenade am hässlichsten je gesehenen Fluss (außer der in Bukarest) des Balkans, sondern auch eine gut befahrene zweispurige Einbahnstraße.

Bis 17 Uhr. Wochentags. Ab dann ist die Straße für Autos bis morgens um sechs gesperrt, man kann mitten auf der Straße unter der Lindenalle bis nach Hause laufen, wenn einen kein Rollschuh-Kind umfährt oder kein Rollstuhl-Mensch inklusive Hund und quer über die Straße gespannter Leine dabei ausbremst.

Neulich war es, als sogar die Polizei brav die Raser kontrolliert hat, welche sich nicht von der roten Hundeleine irritieren ließen. Ob man was zahlen musste kann man wohl bei der Koruppiererei kaum erwarten, jedoch halten sich die meisten dran.

Vor allem am Wochenende, wenn die Straße ganztags gesperrt ist. Jetzt, wo das Wetter wider besser wird, sieht man mal, welche bunten Menschen eigentlich in diesen hässlichen grauen Platten wohnen, welche gleich hinter der Sonderstraße rumgammeln. DA kann man sich vor Fahrradfahrern, Joggern, Kindern, Familien und roten Hundeleinen kaum noch retten. Pärchen versuchen schon garnichtmehr, sich zu verstecken sondern nutzen doch recht freizügig die Prakbänke. Ansammeln dazu tut sich natürlich ein Haufen Popkorn, bunte Heliumluftballons, die ab und an doch leider heulend in den Himmel verabschiedet werden müssen. Auch die tollen Fitnessgeräte (gelb, nicht zu übersehen) bleiben von der ein oder anderen Oma nicht verachtet. Schlange stehen Jund und Alt und schwingen auf dem ungebremsten Laufsimulator (keine Angst, nur mechanisch) die Beine. Volksfeststimmung.

Und so kann die von mir als grünste Straße der Stadt thesierte auf voller Länge genutzt werden. Sie bildet eine Fußgängerachse einmal quer durch die Stadt. Und sowas wird hier einfach fürs Wochenende gesperrt. Für das Allgemeinwohl. Da rutscht Deutschland im HDI-Rang immer höher, aber sowas habe ich noch nier gesehen. Eine Verkehrsachse, die einfach lahmgelegt wird, um ein Entkommen aus der Platte zu bieten.

 

So sah sie im Herbst aus.

So sah sie im Herbst aus.

Jetzt muss nurnoch der Abwasserfluss ein Fluss ohne Abwasser werden, ein Renaturierungsprozess in die Gänge gebracht werden, und Eicke ist noch glücklicher.

Der Gruß aus Deutschland…

…kommt eine Woche zu spät. Aus Zeitmangel. Eine Woche ist die Schwester zu besuch, knapp zwei Wochen begleitet man einen Austausch nach Aschaffenburg und jetzt ist schon wieder für zwei Wochen etwas Liebes aus Hamburg da, da steckt man die Tippzeit eben ein bisschen zurück.

Hier die halbe Stunde Kulturschock zusammengefasst.

 Am Flugplatz steht er. In der Sonne, in Sarajevo. Fünf Minuten vor Check-In-Schluss, ganz zeitig, ganz bosnisch. Das viel zu große Handgepäck in Form eines für zwei Wochen gepackten Wanderrucksackes hat schon die Handgepäckmarke – trotz gefühlten Übergewicht. Gut, dass der Blonde nicht aus Deutschland zurück, sondern erstmal hin will.

Nach drei Kaffees und noch ein bisschen herumstehen springt die bosnische Masse von ihren Stühlen, weg von der Check-Im-Warterei. Die Ansagen kommen vertauscht aus der Durchsage – Erst kam der letzte Aufruf für den Flug nach Köln, danach durften Frauen, Kinder und Alte auf die hinteren Plätze. Aber flott sind sie, wenn es losgeht, da steht dann doch der junge Spusi vor der Oma am Schalter. Hat wohl die Lautsprecher nicht richtig gehört.

 In Köln regnet es. Bei 12 Grad. Es ist grau und sauber. Ein Freiwilliger steigt aus dem Flugzeug, ausgehungert. Deutsche Fluggesellschaften verlangen eben sechs Euro fünfzig für ein Mini-Sandwitch. Da ist man entweder arm und halbsatt oder stolz und hungrig, wenn man wieder festen Boden unter den Füßen hat.

Es fällt der Mamorboden auf. Es fällt der Geruch auf. Es fallen die Mülleimer auf. Und die Passkontrolle, wo ein EU-Deutscher 700 mal so schnell durchkommt als ein Bosnier.

Mit der S-Bahn zum Bahnhof. Auf dem Weg dorthin…

 

…könnte doch so langsam-    Ah, da ist ein Schild.

Und wo-    Ah, hier steht es doch, die Treppe runter.

Wann fährt denn-   „Auf Gleis 2 fährt ein die S-Bahn nach Köln Hauptbahnhof.“

Danke Deutschland, danke System. Ja, System. Da kann man sich drin bewegen, sich zurechtfinden. Man kommt vom Flughafengrenzkontrollsystem in das Gepäckabholsystem (was ich erfolgreich auf der Fast-Lane um gehen konnte, dank nur Handgepäck) in das Gangleitungssystem in das Fahrkartenkaufsystem in das Zugsystem.

Die Bahn fährt an. Zumindest sieht es so aus, weil sich draußen der Bahnsteig bewegt. Man hört nämlich nichts, man fühlt nämlich nichts. Man merkt nur dieses leichte Stupsen, wenn der Magen lieber ein Stück dichter an die Wirbelsäule will. Fachgemäß und geschult wird kontrolliert, offen und ehrlich die Verspätung zugegeben, viereinhalb Minuten. Genau.

In Köln am Hauptbahnhof. Bäckergeruch vom Coffee-to-go. Oder besser noch vor dem Hauptbahnhof. Da stehen Demo-Leute mit Megaphon und keiner guckt hin. Da steht dieser dusselige Blonde mit dem Übergepäckrucksack mitten in Köln vorm Hauptbahnhof und guckt sich erstmal um. Da sind so viele Leute. So viele Leute. So viele. Die rennen hin und her, die Treppe zum Dom hoch und wieder runter, im Businesslook mit dem Telefon an der Backe, mit Studentenlook und dem Brötchen in der Hand, mit normal-bürgerlichem Arbeitslook und dem Coffee-to-go. Und alle am Sprinten. Noch schnell die Regionalbahn nach Bonn kriegen, die hat ja genau drei Minuten Verspätung, die kriegt man noch. Und wenn ich im gehen meinen Kaffee trinke kommt das Koffein bestimmt schneller ins Blut? Lauft alle, lauft!

Der Übergepäckrucksack steht in einem Café namens Antheum. Hier gibt es Antiquitäten und Kaffee. Neben dem Rucksack sitzt dieser komische Mensch, der vorhin noch den gesamten Bahnhofsplatz blockiert hat und nachher noch im Buchladen Loriot lesen und im Museumsladen Postkarten kaufen wird. Der Zug fährt nämlich erst in ein paar Stunden weiter. Den ganzen schönen deutschen Laden hat der aufgehalten, er, der Dreckfleck im Bahnhofseingangssystem. Der, der in Bosnien immer alle überholt beim sprinten, wird hier eiskalt abgehängt und liegt überrundet und stolz auf dem letzten Platz.

Meine Anschlussverbindung hat Verspätung. 21 Minuten. Eigentlich sind nur 15 Minuten Zeit zum umsteigen. Wie schön, dass der zweite Zug auch 17 Minuten Verspätung hat, da kann man dann seine Zigarette noch im gelben Quadrat rauchen, und muss sich das Nikotin nicht im Gehen zwischen Smartphone, Autoschlüssel und Rollkoffer auf hohen Schuhen durch die Zähne saugen…

Toll sind sie, die Deutschen!

Geteilte Stadt im bosnischen Frühling?

Es ebbt alles langsam ab. Es schwindet. Aus den Medien, aus den Gesprächen, aus dem Straßenbild. Nurnoch vereinzelt kommen Proteste vor, nurnoch vereinzelt fährt die Tram mich nicht zur Arbeit. Was war da los? Was ist da passiert?

Steine folgen, Krankenhäuser haben sich gefüllt. Minister flüchten nach Kroatien und steigen ab. Der Plakatwunsch nach einer neuen Regierung scheint zu kommen.

Initiiert sei das ganze von den 200 Parteien der Opposition, sagen Einige. Die Proteste seien geplant, um das Unkönnen der Regierung bloßzustellen. Andere sind einfach nur geschockt. Es sei der Anfang von allem. Nein, es koche nur einmal hoch und dann beruhigen sich alle wieder. Es werde wieder Kriege geben, ganz sicher sei das. Und weg will man, das ist die Lösung.

Fakt ist, dass dies die größten bosnischen Ausschreitungen seit dem Krieg waren. Und noch sind. Nur weil man nichts mehr hört, heißt das nicht, dass sich irgendetwas geändert hätte, das sich irgendetwas verbessert hätte. Dass irgendjemand jetzt beruhigt wäre. So gut wie jeder hier unterstützt die Proteste. Nur nicht die Gewalt. Gewalt schockt die Menschen hier. Gewalt gehört nicht in den Alltag, Gewalt tut man nicht.

Stille Proteste wirken jedoch nicht, man bedenke die Blokaden an der Miljacka (hier ein Artikel dazu). Die Situation hier schreit nach Eskalation. Und wenn man sich die Bilder aus der Ukraine anguckt, erscheint einem das alles garnichtmal so fern.

In der Schule behandele ich Stellungnahmen zu aktuellen Themen im Unterricht. Die bringen Nachrichten mit, die sie selbst interessieren, die aktuell sind. Die letzte Doppelstunde ging es um die Proteste. Ich habe einen Haufen gelernt, einen Haufen Neues gehört.

So zum Beispiel, dass Sarajevo eine geteilte Stadt ist. Wir haben hier die Republika Srpska und die bosnisch-kroatische Föderation. 90 % der Stadt gehören zum Kanton Sarajevo, einer der zehn Kantone der Föderation. Ostsatajevo hingegen wird von der Republika regiert. Eine Stadtregierung gibt es irgendwo, der Bürgermeister sei aber nur Sprechrohr bei offiziellen Anlassereien. Und da wundert man sich noch, warum nichts funktioniert? Der kroatische Minister wurde während der Proteste in Mostar, in der katholisch dominierten Herzegovina empfangen; der serbische in Banja Luka, der Hauptstadt der Föderation. Was war gleich nochmal die Hauptstadt? Man mag diese Situation mit DDR und BRD vergleichen. Nur, dass die Teilung hier quasi in der Verfassung steht. Quasi, weil es keine Verfassung gibt. Man regiert nach dem Friedensabkommen von ’95, einem fast 20 Jahre alten Wisch, wonach Roma und Atheisten keine Präsidenten werden können. Nur bitte drei Präsidenten zur Zeit, einen serbischen, einen kroatischen und einen Bosniaken. War eben das Beste. Vor 20 Jahren.

Das wäre jetzt wohl das erste, was man angehen sollte. Ein Staat ohne Verfassung? Regierungswechel hin oder her – Geldwäsche ist laut Mund-zu-Mund der größte politische Verdienst, es läuft hinten und vorne, oben und unten schlichtweg nichts. Demokratische Strukturen waren irgendwo mal. Arbeitslosigkeit geht auf 40 % zu. Korruption ist Alltag, vom Minister hin zum Fahrkartenkontrolleur.

Was Deutschland davon erzählt? Kaum etwas, passt nichtmehr in die Tagesthemen. Will keiner sehen. Kiew sieht doch momentan viel interessanter aus.

EUROPA, GUCK HIN!

Keine Panik, uns geht es gut. Da brennt aber trotzdem was. Da raucht auch trotzdem was. In Tuzla, in Bihać, in Zenica, in Sarajevo… Die kantonalen Regierungsgebäude stehen in Flammen. Gerade lese ich, dass die ersten Minister zurücktreten. Und dabei fing heute morgen alles so strahlend an.

Gestern noch gehe ich über genau den Platz, wo heute Tausende Menschen brüllen und Molotows werfen. Mit Schülern bin ich da langgelaufen. Zur schulischen Ausstellung im Nationalmuseum; zum 30-jährigen Jubiläum der Olympiade, hier in Sarajevo. Ein Grund zum Feiern. Sich an die tolle Zeit zu erinnern. Das muss so gewesen sein, wie das deutsche Fußballfieber 2006. Weil die Stadt kein Geld hat, bereitet das Gymnasium Obala die Ausstellung vor. In einem gefühlt zehn Grad kalten Raum. Neben Schülerhänden rücken auch die meinen Exponate in staubigen Kästen zurecht, alles von der Schule gesammelt, von Schülern und deren Eltern ausgeliehen. Morgen um 12:30 h ist die Eröffnung.

Gestern Abend lese ich von Tuzla in den Nachrichten: 60 Verletzte, Unternehmen sind pleite, noch mehr Arbeitslose. Da gings wohl hoch her. Relativ beruhigt haue ich mich aufs Ohr.

 

Heute Morgen strahlt die Welt. Ohne Jacke laufe ich zur Schule, genau an der kantonalen Regierung vorbei. Die Stadtgärtner scheinen optimistisch, erste Primeln werden gepflanzt, aus einer mir misteriös erscheinenden finanziellen Quelle. Auf dem Platz nichts los. Auf dem Mini-Grünfleck vor der Schule sitzen Schüler in der Sonne. Ein jeder glaubt an den Frühling, Wenn schon kein Schnee zum Skifahren liegt.

In der Doppelstunde geht es um Olympia in Sotschi. Leitideen des IOC und Reibungspunkte mit deren Prinzipien werden in Form von Artikeln bearbeitet und anschließend diskutiert. Erfolgreich. Genau, wie ich alles geplant hatte.

Freistunde. Ich will das Projekt Monats-Tramkarte endlich mal abschließen. Trotz des schönen Wetters sind alle Schüler drinnen auf den Fluren. Gesabbel, Gekreische, Geschnatter – alles ganz normal, denke ich. Begleitet vom üblichen Geräuschpegel quetscht sich ein Freiwilliger aus dem Massendunkel der Halle in die helle Februarsonne. Vorbei am türblockierenden Pförtner und drei Lehrern durch den Grünstreifen bis zum Schultor auf die Straße. Keine Autos. „Please be careful!“, sagt mir die dort postierte Lehrerin. Polizeipräsenz. Leute laufen ganz normal die Uferpromenade entlang. Nur nicht so viele wie sonst. Ich schaue Richtung Regierungsgebäude. Nichts hört man, nichts sieht man. Die Regierung versteckt sich in einem nach hinten, aus der Straßenflucht heraus, versetzten Gebäude. Davor der Platz, auch nicht sichtbar.

Im noch nicht genug gelobten Sonnenschein laufe ich zur Verkehrsbund-Hütte in der Stadt; alles läuft viel besser als jemals erhofft. Nach zehn Minuten habe ich meine Karte. Bosnische Prämiere – für mich zumindest. Auf dem Rückweg laufe ich am Nationalmuseum vorbei, eine Kamera wird aufgestellt, Dreharbeiten für die olympische 30-Jahr-Feier. Der Ganze Platz ist geschmückt und geziert mit Flaggen dieser Welt. Ich treffe eine Bekannte. Nach kurzen Smalltalk ruft ihre Mutter an. Eine Journalistin. „That was my mom who just called. She said that they’re throwing Molotows onto the kantonal government building and told me to get my butt home. I should propably call my dad. And you should better not go that direction.“

Tu ich aber. Muss ich auch.Zurück zur Schule oder nach Hause – ist sowieso die gleiche Richtung. 500 Meter weiter immer weniger Leute. Menschenmassen hört man gröhlen, vom unsichtbaren Platz.

Im Lehrerzimmer nur aufgebrachtes Kollegium. die Sonne ist nicht die einzige, die durch die Fenster knallt. Lehrer wie Schüler stehen und blinzeln durch die Sonnenstrahlen in die… Ja, da ist sie – die Menge.

„Boah, ich hasse dieses Land!“, „Ich auch, ich will zurück nach Deutschland! Ich hätte da bleiben können, aber ich wollte nicht. Ich wollte zurück nach Bosnien“

„Und das ganze da draußen macht es ja nicht besser. Da kommen nur die Holigans zum Randalieren, das bringt überhauptnichts. Totale Scheiße ist das!“

Im Unterricht funktioniert nichts. Wir brechen mit dem Hörtext ab, hört sowieso keiner zu. Lehrerorgan rastet aus, alle stehen an den Fenstern. Es ist schwer, die Kids unter Kontrolle zu halten. Einige werden von den Eltern angerufen. Andere gucken in die Ecken, dritte sind total aufgedreht und vierte schnattern wie eh und je. Wir zwei Lehrende klicken uns durch den lahmen Computer bis klix.ba durch.

„So sieht’s da draußen aus. So eine Scheiße, wirklich. Die evakuieren jetzt die Minister, ist ja klar…“. Brennende Autos im Computer neben Gebrülle von draußen. Eine Durchsage der Rektorin. Zur eigenen Sicherheit sollen alle im Gebäude bleiben, der Nebeneingang anstatt dem Haupteingang benutzt werden. Wenn die Situation nicht besser wird, müssen die Schüler wohl von ihren Eltern abgeholt werden. Es klingelt zur Pause.

Auf dem Flur treffe ich Jasmina aus dem Sekretariat. Stolz zeige in ihr meine Tramkarte, dessen Besitz ih ihr zu verdanken habe. High Five.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie geplant auf einen Kaffee in die Altstadt und dann zum Training oder lieber gleich nach Hause? Ich soll den Hinterausgang nehmen und eine SMS schicken wenn ich zu Hause bin.

Vor dem Ausgang qualmt es unglaublich. Erste Flammen. Einen Anruf vom ZfA-Berater bekomme ich, als ich gerade an der Filmfreude vorm Nationaltheater vorbeikomme. Wir sollen uns bei der Botschaft melden, damit die unsere Daten haben, die sie natürlich schon längst haben. Schön bunt wehen die, die Flaggen. Bunt heißt auf bosnisch übrigens Aufstand. Es knallt. Sirenen überall.

Nach dem Kaffee gehe ich zum Training. Beziehungweise wollte ich gehen. Die Straßen sind leer. Polizei, einige Passanten. Sirenen. Selbst der Platz vor dem Nationaltheater ist leer. Wie ausgefegt, nach all der Feierei. Dämmerung. Die Flaggen leuchten in der Abendsonne. Es riecht nach Rauch. Schwaden sieht man über den Dächern. Zur Halle traue ich mich jetzt wirklich nichtmehr.

Von der anderen Flussseite sieht man die Bescherung. Das ganze Regierungs-Ding steht in Flammen. Autos liegen abgebrannt im Wasser. Blaulicht überall. Gewusel und rennende Menschen neben Schaulustigen.

Heute brennt wohl weit mehr als nur die olympische Flagge.

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Dennnoch: Bitte kein Grund zur Sorge, die Botschaft kümmert sich prächtig. Es sind bisher nur Dämonstrationen, nichts weiter. Uns geht es gut. Wäre meine Schule nicht so dicht dran, hätte ich von dem ganzen deutlich weniger mitbekommen!

 

Demokracija?

Auf der Suche nach einem Schlüsselmacher. Wolkig grau. Schietwetter. Nach drei Wochen Sonne und 20 Grad kann man sich nicht beschweren. Nein, man sollte Luftsprünge machen. Eine Straßenecke weiter. Am sprunghöhepunkt. Die Demowolke. Nich viele, aber immerhin einige. Wie die Fußballmasse vom WM-Einzug quetscht diese sich durch die Straßen. Genauso laut, nur aus anderem Grund. Was auf den Bannern steht – keine Ahnung.

Weiter den gewohnten 34-Minuten-Arbeitsweg vom Gimnazija Obala nach Hause. Weiter am Fluss entlang. Weiter an den gewohnten Zeltburgen vorbei. Ja, Zeltburgen. Auch die Banner sagen mir nicht viel. Und fotographieren und zu Hause übersetzen, wenn gerade das Fernsehen einen Mann in Gummistiefeln, Wollmütze und Handschuhen interviewt… Nein, danke. Nach dem fünften Mal passieren (auch schon relative drei Wochen her) hab ich mal nachgefragt. Beim Sprachkurs. Die antwort sah im Groben folgendermaßen aus:

„Das sind bosniakische (muslimische) Familien aus einem Dorf aus der Republika Srpska. In dem Dorf leben zu bestimmt 99 % Moslems. Nun gehen die alle auf eine Schule, wo aber nur serbisch und somit das kyrillische SChriftbild vermittelt wird. Die werden nur von serbischen Lehrern unterrichtet und ihnen wird verboten, die bosnische Sprache zu benutzen. Deswegen sind die hier. Und ich meine, die haben jedes Recht zu protestieren. Die fühlen sich eben bosnisch und nicht serbisch. Die Kinder gehen eben aus Protest seit dem Schulanfang nicht zur Schule.“

Und sitzen am Autoreifen. Spielen Karten. Oder mit Hunden. Seit einiger Zeit wird das dortige Flussufer auch von zwei Dixiklos gesäumt. Eins ist gelb, das andere blau. Die sieht man auch von der anderen Seite. Wie sie durch die Bäume schimmern, sich im Wasser spiegeln.

Ob die Erfolg hatten? Ob die Demonstrationen hier etwas bringen? Ob die Medien schweigen, kann ich mit meinem Bruchbosnisch nicht sagen. Jedenfalls sind die wohl äußerst neutral (so in etwa muss sich ein mir erzählter Dialog abgespielt haben):

„Wer macht hier eigentlich die Zeitungen?“ „Unabhängige“
„Und wie finanzieren die sich?“
 „Die eine zahlt glaub ich so ein Politiker“

 

Bosnien auf Goldkurs – Der WM-Einzug

Vor einer Woche, 4:1 gegen Lichtenstein. 0:1 gegen Littauen am Dienstag. Damit ist dieses wunderschöne Land mit gelben Sternen auf blau mit 25 Punkten Qualifikations-Erster der Gruppe G. Punktemäßig auf Platz vier.

In Sarajevo war am Dienstag angeblich die Hölle los. „As if they just won the whole championship! The first time in our entire history!“, so meine Sprachlehrerin gestern. Wir waren in Mostar, in der Herzegovina. Hier wurde nicht ganz so ausgiebig gefeiert. Das Spiel am letzten Freitag war für mich als über Fußballbegeisterten (…) schon spannend genug. Leinwandübertragung in der Innenstadt. Eine Stunde nach Abfiff in der Bar knallt es draußen wie Hölle. Alles dreht sich um, und weil die ausländischen Deppen sich mal wieder nicht zu schnell zurückdrehen, flogender Kommentar der Kellnerin:

„Don’t worry, the war’s not restarting. We just won.“

Das „we“ bleibt dann doch irgendwie hängen. Dass in einem Land, welches noch vom Friedensabkommen von vor 18 Jahren und drei Präsidenten regiert wird, von „uns“ gesprochen wird, kann man sich als problemorientierter Deutscher ja schonmal garnicht vorstellen. Eine Schülerin postet auf facebook etwas wie „The whole of Bosnia finally united“ mit etwa 30 likes. Ob in Bosnien das Sommermärchen 2014 ansteht?

Ein aus meiner Sicht recht informativer Artikel zur Hintergrundaufklärung:

http://www.taz.de/Fussball-in-Bosnien-und-Herzegowina/!125783/

POPIS – Die Volkszählung

Es ist Volkszählung in Bosnien. Die erste seit 1991. Erster bis fünfzehnter Oktober. Seit zwei Tagen rennen Beauftragte mitsamt zwei Kilo Papier an Informationen und Auswertungsbögen durch die Stadt und Fragen ab. Systematisch. Unser Haus von unten nach oben.

Es klingelt um sechs Uhr nachmittags. Gestern. Glücklich, dass uns überhaupt jemand erwischt. Der gute Mann lacht fröhlich und drückt sich sein Bosnisch in Wellen fliegend aus. Wir geben unser bestes aus Brocken Kuchen zu backen. Beziehungsweise ihm einen Kuchen zu backen, was WIR hier tun. Und dass wir keine Bosnier sind, keine fünf Kinder im Hinterzimmer haben die er bitte mitzählen soll. Ein Schüler meinte neulich, dass die selbst dokumentieren müssen wenn jemand angeblich vom Mars komme.

Der Zähler holt Stift und Papier samt dickem Ankreuzbogen und Übersetzungspapieren aus seiner Tasche. Mechanisch dürfen wir auf „Njemački“ (Deutsch) zeigen. Es wird geblättert, vor zurück und wieder vor, wir zeigen hier und da…

„Ambasada?“ ist das letzte. Jaja, die Botschaft weiß, dass wir hier sind!

Schulterklopfen, als hätten wir seinem Sohn über die Straße geholfen. Händeschütteln wie nach Abschluss des Dayton-Vertrags und wieder sind wir alleine. Gezählt.

 

Heute gehe ich auf dem Nachhauseweg nach zwei Stunden am Gymnasium Obala und Gemüsemarkt Großeinkauf an unserer örtlichen Kopirnica vorbei, wo ich noch eine Mark Schulden für Kopien hatte. Das Mädel, die für ihren Vater den Laden schmeißt, bevor die Uni anfängt, begrüßt mich freundlich, wir reden über das kommende Wochenende, das Wetter, meine Schulden und Ćevapi.

Ob die bei uns denn schon gezählt hätten. Ja, sag ich. Es folgt eine Beschreibung der obigen Geschehnisse.

Dann legt sie los. Locker, aber laut – die bosnische Art.

Bei ihr seien die Zähler auch schon gewesen. Sie hätten Dinge gefragt, wie: Wie viele Leute wohnen in der Wohnung? Wie viele Quadratmeter? Wie groß ist die Küche? Sind Sie bosnisch? Sind Sie muslimisch, orthodox, katholisch? Woher kommen Ihre Eltern? Fragen. Viele Fragen. Und im Endeffekt sei die Angabe der Zahlen sowieso wieder falsch. Die da oben täten doch mit den Zahlen worauf sie gerade Lust hätten. Bosnien zahle 47 Millionen Bosnische Mark (in Euro die Hälfte), Europa steuere noch einmal 70 Millionen dazu. Für Ungewissheit, ib die Zahlen auch wirklich stimmen.

Seit 18 Jahren sei nicht mehr gezählt worden. 91 war die letzte Zählung. Wieviele Bosniaken, Kroaten und Serben es gab, war bekannt. Dann habe der Krieg angefangen. Leute haben Angst, was durch die Zählung alles passiert.

Sie sei zwei Monate alt gewesen, als der Krieg anfing. Alles was sie erinnert: Sie wollte Bananen und es gab keine Bananen. Sarajevo wurde vier Jahre von Serbien belagert. Vier Jahre kam niemand herein oder heraus. Vier Jahre Luftbrückenversorgung. Wie Berlin. Nur eben vier Jahre.

Ihre kleine Schwester wurde während des Krieges geboren, ihre große erinnere sich an alles. Der Schwester wurde ins Bein geschossen. Sie habe zugesehen wie der Nachbar starb. Durchschossen. Weil er sich vor sie geschmissen hat.

In der Stadt stünden jährlich einmal rote Stühle in einer Reihe die Fußgängermeile in die Innenstadt hinein. Für all die Erschossenen des Bosnien-Kriegs. Des mit letzten Krieges innerhalb Europas. Des Krieges, von dem ich niemals ein Sterbenswörtchen während meiner gesamten Schulzeit gehört habe.

Ein neuer Kopierfreudiger kommt durch die Tür. Ich stehe nur da und weiß absolut und hundertprozentig überhaupt nicht mehr, was ich von der Zählung halten soll. Mal sehen, was die Zahlen am Ende sagen.

 

Ich verabschiede mich, sie läd mich auf einen Kaffee ein. Hier trifft man sich immer, um Kaffee zu trinken.

Zuhause angekommen, lächelt mich das Popis-Plakat in bunten Farben an. Die Ecken sind abgerissen.

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Die Geschichte vom Penner und dem Polizisten

Vor drei Tagen. Drei Stunden am Gymnasium Obala verbracht, Feierabend. Auf dem Weg stadteinwärts, auf den Markt. Einkaufen. Was man eben so braucht. Die Sonne scheint, Drei Uhr nachmittags. Dieser typische Farbtonwechsel von Mittags- zu Nachmittagssonne.

Zwischen sich färbenden Bäumen und besonnten angeschossenen Hausfassaden, gegenüber von Cafés und neben dem Straßenhund stehen Mülltonnen. Groß. Offen. In sie gebeugt, ein Obdachloser. Gegenüber, auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite ein Polizist. Oder einer von der allgemeinen Sicherheit des ihm im Rücken  lehnenden Gebäudes.

Der im Müll Wühlende verändert seine Haltung in Richtung Stand und seine Gestiken lassen nicht an einem Aufbruch zweifeln. In seiner Hand: Eine Decke. Grau, alte Wolle. Zerfressen. Es hat heute Nacht zum ersten Mal gefroren.

Sich den Mülltonnen abwendend bleibt der Gute in seinen Bewegungen stecken, aufgehalten von einem befehlsartigen Zuruf der Sicherheit vor dem Gebäude. Ernste Miene. Sehr ernste Miene. Obrigkeitsbewusst dreht der Obdachlose um, auf den Polizisten zu. Bleibt vor dem Bürgersteig stehen. Die Hände fragend, unterwürfig, entblöst von sich gestreckt. Der Polizist streckt wortlos den Arm aus. Der Penner auch. Eine kurze Berührung. Ein Hauch. Kurz sieht man das Blitzen der Münzen in den noch wärmenden Sonnenstrahlen, bevor sie in der Tasche des Empfängers verschwinden. Der Polizist nickt ihm kurz zu. Gleiche Miene. Polizistenmiene. Die Situation löst sich auf.

Was bleibt sind Häuser, Sonne, Cafés und Straßenhund.