Es war warm an dem Tag. Endlich. Der Kalender zeigt Mittwoch, den siebten Mai 2014. Auf alles vorbereitet sitze ich vor der Schule, eine Pita in der Hand, und gucke in die Sonne. Feierabend schon seit 20 Minuten. Doch bis zum Stundenende warten wir noch.
Kurz vor Stundenende. Alles ist still. Alles. Die Vögel zwitschern, die Autos düsen durch schon seit langem grüne Bäume versteckt vorbei, kein Türenklappern, kein Garnichts. Man wartet. Auf die Glocke.
Dann klingelt es. Genauso laut wie immer, genauso schrill wie immer. Nur… hört es nicht mehr auf. Die Milisekunde zu viel. Da, die Erkenntnis. Man hat die Schülergesichter vor sich. Die normale Ruhe, die Überraschung – der Jubel.
Und dann kriegt sich niemand mehr ein. ALLES fliegt aus den Fenstern. Stifte, Schultaschen, Papier verdunkelt den Himmel, die Autos sind nurnoch schemenhafte Schwämme, die vorbeiflitzen, Motoren werden übertönt. Die Schule brüllt vor bosnischem Temperament.
Es donnert, die Treppe wird in Abgang genommen, und da kommt er schon: Der erste Maturant, noch bevor das lange Klingeln aufhört zu läuten. Fliegen tut er, heraus aus der Eingangstür, die der Hausmeister mit Tränen in den Augen offenhält. Fliegen tut er so, dass sein Kopf fast oben am Türrahmen anstößt. Die Arme weit nach Hinten gestreckt, das Gesicht genießerisch in die erlösende Sonne gereckt, den Rucksack links liegen lassend. Drei Sekunden später kommt sie, die Meute. Der letzte Schultag des Abschlussjahrgangs ist vorbei.
Ein Lehrer hatte mir netterweise vorher gesteckt, dass ich doch noch eine Stunde warten soll, bis ich nach Hause gehe. Was sich ausgezahlt hat. Die Straße wurde erstmal blockiert und mit schallenden Liedern besungen und beschrien. Lehrer standen an den Fenstern wie die Schüler auf der Straße, um ihr Lächeln und ihre Tränen noch ein letztes Mal zu zeigen. Diese Schüler bekommt man jetzt nurnoch auf dem Maturantenball und der Abschlussprüfung zu Gesicht.
Die zweite große Glocke schallerte an meiner letzten Schule diesen Freitag. Nur bei weitem nicht so unerwartet. Die restlichen Schüler des Kantons Sarajevo haben seit Freitag offiziell zweieinhalb Monate Sommerpause. Und ich somit auch. Die Unerwartung und somit der geniale Überraschungseffekt, den ich zu meiner großen Freude miterleben durfte, ist nicht wie im Planerdeutschland von vorn herein festgelegt: Man muss genauso viele Unterrichtsstunden abarbeiten, wie am Schuljahresbeginn geplant waren. Wenn alle durch sind, drückt man eben etwas länger auf den Klingelknopf.
Seit Anfang der letzten Woche wird sich verabschiedet, Eis gegessen und beschenkt. Man merkt genau, wer dankbar ist und wer nicht, Schüler wie Lehrer. Ob man sich mit Kollegen nichtmal die Hand gibt oder doch für eine geschlagene Minute in den Armen liegt, zeigt, wo man was wie richtig und was woanders nicht so richtig gemacht hat. Auch, wenn man den Geschenkestapel lieber nicht ale Richtlinie für getane Arbeit sehen sollte.
Meine große Glocke klingelt Anfang Juli. Dann heißt es Aufbruch, mit dem Fahrrad an der Donau entlang nach Hause. Letzte Sachen werden geklärt, die Zeit genossen, Schüler und Freunde werden noch tausend Kaffees und Rakijas trinken müssen, bis sie mich dann doch endlich los sind. Verschwinden wird man aus diesem Schulapparat, nächstes Jahr kommen zum Glück meiner Schüler und Kollegen hier Nachfolger, um den Laden nochmals zu erfrischen. Verschwinden wird man aus diesem Land, zumindest vorest. Verschwinden und nie wiederkommen wird auch die Stimmung dieses Jahres – arbeiten wird man so nicht wieder, leben so auch nicht. So schön. Vielleicht ist es gerade so toll, ein Jahr begrenzt irgendwo zu sein. Da hört man nämlich wirklich mal auf, wenn es am schönsten ist. Wiederkommen aber werde ich. Und ich hab ja jetzt noch drei Wochen.
Nur, dass der Finger erstaunlich bedrohlich über meinem Klingelknopf verweilt. Mir aber noch die Zeit gibt, in Ruhe alles zu packen und diese letzten Monate genussvoll ausklingeln zu lassen.