Es ist Volkszählung in Bosnien. Die erste seit 1991. Erster bis fünfzehnter Oktober. Seit zwei Tagen rennen Beauftragte mitsamt zwei Kilo Papier an Informationen und Auswertungsbögen durch die Stadt und Fragen ab. Systematisch. Unser Haus von unten nach oben.
Es klingelt um sechs Uhr nachmittags. Gestern. Glücklich, dass uns überhaupt jemand erwischt. Der gute Mann lacht fröhlich und drückt sich sein Bosnisch in Wellen fliegend aus. Wir geben unser bestes aus Brocken Kuchen zu backen. Beziehungsweise ihm einen Kuchen zu backen, was WIR hier tun. Und dass wir keine Bosnier sind, keine fünf Kinder im Hinterzimmer haben die er bitte mitzählen soll. Ein Schüler meinte neulich, dass die selbst dokumentieren müssen wenn jemand angeblich vom Mars komme.
Der Zähler holt Stift und Papier samt dickem Ankreuzbogen und Übersetzungspapieren aus seiner Tasche. Mechanisch dürfen wir auf „Njemački“ (Deutsch) zeigen. Es wird geblättert, vor zurück und wieder vor, wir zeigen hier und da…
„Ambasada?“ ist das letzte. Jaja, die Botschaft weiß, dass wir hier sind!
Schulterklopfen, als hätten wir seinem Sohn über die Straße geholfen. Händeschütteln wie nach Abschluss des Dayton-Vertrags und wieder sind wir alleine. Gezählt.
Heute gehe ich auf dem Nachhauseweg nach zwei Stunden am Gymnasium Obala und Gemüsemarkt Großeinkauf an unserer örtlichen Kopirnica vorbei, wo ich noch eine Mark Schulden für Kopien hatte. Das Mädel, die für ihren Vater den Laden schmeißt, bevor die Uni anfängt, begrüßt mich freundlich, wir reden über das kommende Wochenende, das Wetter, meine Schulden und Ćevapi.
Ob die bei uns denn schon gezählt hätten. Ja, sag ich. Es folgt eine Beschreibung der obigen Geschehnisse.
Dann legt sie los. Locker, aber laut – die bosnische Art.
Bei ihr seien die Zähler auch schon gewesen. Sie hätten Dinge gefragt, wie: Wie viele Leute wohnen in der Wohnung? Wie viele Quadratmeter? Wie groß ist die Küche? Sind Sie bosnisch? Sind Sie muslimisch, orthodox, katholisch? Woher kommen Ihre Eltern? Fragen. Viele Fragen. Und im Endeffekt sei die Angabe der Zahlen sowieso wieder falsch. Die da oben täten doch mit den Zahlen worauf sie gerade Lust hätten. Bosnien zahle 47 Millionen Bosnische Mark (in Euro die Hälfte), Europa steuere noch einmal 70 Millionen dazu. Für Ungewissheit, ib die Zahlen auch wirklich stimmen.
Seit 18 Jahren sei nicht mehr gezählt worden. 91 war die letzte Zählung. Wieviele Bosniaken, Kroaten und Serben es gab, war bekannt. Dann habe der Krieg angefangen. Leute haben Angst, was durch die Zählung alles passiert.
Sie sei zwei Monate alt gewesen, als der Krieg anfing. Alles was sie erinnert: Sie wollte Bananen und es gab keine Bananen. Sarajevo wurde vier Jahre von Serbien belagert. Vier Jahre kam niemand herein oder heraus. Vier Jahre Luftbrückenversorgung. Wie Berlin. Nur eben vier Jahre.
Ihre kleine Schwester wurde während des Krieges geboren, ihre große erinnere sich an alles. Der Schwester wurde ins Bein geschossen. Sie habe zugesehen wie der Nachbar starb. Durchschossen. Weil er sich vor sie geschmissen hat.
In der Stadt stünden jährlich einmal rote Stühle in einer Reihe die Fußgängermeile in die Innenstadt hinein. Für all die Erschossenen des Bosnien-Kriegs. Des mit letzten Krieges innerhalb Europas. Des Krieges, von dem ich niemals ein Sterbenswörtchen während meiner gesamten Schulzeit gehört habe.
Ein neuer Kopierfreudiger kommt durch die Tür. Ich stehe nur da und weiß absolut und hundertprozentig überhaupt nicht mehr, was ich von der Zählung halten soll. Mal sehen, was die Zahlen am Ende sagen.
Ich verabschiede mich, sie läd mich auf einen Kaffee ein. Hier trifft man sich immer, um Kaffee zu trinken.
Zuhause angekommen, lächelt mich das Popis-Plakat in bunten Farben an. Die Ecken sind abgerissen.