Bolivien – wenn du mich vor einer Woche gefragt hättest, wie die Menschen hier wohnen, welche Pflanzen hier wachsen oder welchen Sport sie gerne spielen, ich hätte die Fragen nicht beantworten können. Und ich denke nicht nur mir, sondern ganz vielen anderen geht es ähnlich. Bolivien ist das Land in Südamerika, dass man gerne vergisst, wenn man die Länder in Lateinamerika aufzählen möchte. Und genau das sollte sich für mich ändern.
Aber fangen wir von vorne an… Als ich mich im Dezember letzten Jahres dafür entschied, mich für ein FSJ im Ausland zu bewerben, konnte ich noch nicht ahnen, wohin mich diese Reise führen würde. Da ich gerne mein Spanisch verbessern wollte, bewarb ich mich mit der Präferenz, nach Südamerika oder Spanien zu reisen. Im April bekam ich dann das Platzangebot für das „Colegio Alemàn“ (die deutsche Schule) in Oruro, Bolivien, welches ich trotz teils negativer Berichte, von ehemaligen FSJ-lerinnen aus den Jahren zuvor, annahm. Ganz nach dem Motto „ich werde wachsen, egal was passiert“.
Am 12. September fand ich mich dann, nach zahlreichen Arztbesuchen und Impfungen, viel zu viel Papierkram, nervenzehrenden Visumsanträgen und einem tollen Vorbereitungsseminar, dass ich aufgrund eines Corona-Ausbruchs leider früher verlassen musste, im Flugzeug nach Oruro wieder. Nach über 27 Stunden landete ich im 260 000 Einwohner großen Oruro auf 3,700 Meter Höhe, allerdings mit einem Gepäckstück weniger, als ich in Frankfurt gestartet bin. Erst jetzt realisierte ich, dass ich diesen Ort für die nächsten 5 Monate mein Zuhause nennen würde.
Oruro ist für bolivianische Verhältnisse eine relativ kleine Stadt, dafür mit umso mehr Tradition und Kultur. Ca. 90% der Einwohner*innen Oruros sind von Indigenem Ursprung, wodurch es in kaum einer Stadt in diesem Land „Bolivianischer“ werden kann.
Mit eines der ersten Dinge, die mir in Bolivien aufgefallen sind, ist die unglaubliche Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, mit der einem die Menschen hier gegenübertreten (die Erfahrung, die die Deutschen so oft machen und sich auch mal eine Scheibe von abscheiden dürfen :)). Außerdem erlebe ich die Bolivianer (in wieweit auch immer ich das nach einer Woche beurteilen kann) als sehr großzügig und zufrieden.
In meinem „neuen Zuhause“ lebe ich mit einer super netten Gastfamilie, in einem sehr großzügigen Zimmer, das weder isoliert noch beheizt ist, was bei den Minusgraden, die es auch im Sommer nachts erreicht, eine sehr spannende Erfahrung ist, besonders wenn morgens kein Wasser aus dem Wasserhahn läuft, weil es eingefroren ist. Verwöhnt von Zuhause, fror ich also in meiner ersten Nacht sehr, doch an die Kälte gewöhnte ich mich schnell und auch die Höhe machte mir nur kaum zu schaffen. An das Essen hingegen werde ich mich vermutlich so schnell nicht gewöhnen. Doch auch die traditionellen Gerichte, die meist mir Fleisch zubereitet werden, gehören zu meinen Erfahrungen dazu. Anders als in Deutschland, leben die Tiere in Bolivien, bevor sie auf dem Teller landen, nicht in Massentierhaltung. Daher ist das Unverständnis einem veganen oder vegetarischen Lebensstil gegenüber umso größer, zumal eine tierfreie Ernährung hier nahezu unmöglich ist.
Ein erstes Bild von der Stadt konnte ich mir an meinem ersten Schultag machen. Ich fuhr also mit meinen Gastschwestern mit dem Taxi durch die von Bussen und Autos überfüllten Straßen Oruros, vorbei an Kindern in Uniform, kleinen Ladenständchen am Straßenrand, Märkten, traditionell gekleideten Frauen und ausgebauten Vans oder Autos, die als Busse fungieren. Aufgrund des chaotischen Verkehrs kamen wir an meinem ernsten Tag schon zu spät in die Schule. Daran sollte ich mich auch gewöhnen, denn von der deutschen Pünktlichkeit muss ich mich wohl für die nächsten fünf Monaten erst einmal verabschieden.
Auch die Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr unterscheiden sich stark von denen in Deutschland. So saß ich an meinem ersten Tag in Bolivien auf dem Weg vom Flughafen zu meinem Haus mit meinen beiden Gastschwerstern und meiner Gastmutter zusammen auf der Rückbank des Taxis, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Bis jetzt habe ich auch noch niemanden angeschnallt in einem Auto gesehen und Verkehrszeichen scheint es auch nicht zu geben. Denn wieso sollten Verkehrsschilder den Verkehr regeln, wenn es eine Hupe gibt?
Neben dem Taxi (Taxi fahren ist hier sehr verbreitet und kostet umgerechnet nie mehr als 3€) sind Busse das Hauptverkehrsmittel. Diese fahren allerdings nach keinem festen Fahrplan und halten auch an keinen Haltestellen. Wenn du Bus fahren möchtest stellst du dich an den Straßenrand, um einem Bus mit der entsprechenden Nummer zuzuwinken, damit du einsteigen kannst. Zum aussteigen rufst du „Ich steige aus“ und der Busfahrer hält für dich an. Alleine in einen Bus zu steigen habe ich mich bis jetzt jedoch noch nicht getraut.
Aufgrund von den wenigen Touristen in Oruro, fällt man als europäische Frau besonders auf. So fiel es mir in den ersten Tagen besonders schwer einzuschätzen, was es bedeutet als weiße Frau alleine durch die Straßen zu laufen. Da ich auf der Straße nicht unbedingt ein Handy benutzen soll und mein Orientierungssinn eine 0 von 10 ist, war ich in den ersten Tagen stark abhängig von meiner Gastfamilie. Mittlerweile komme ich ganz gut zurecht, doch unbemerkt werde ich nie durch die Straßen laufen können. Die Bedeutung meines Aussehens wurde mir besonders in der Schule vor Augen geführt. Und auch die Bedeutung von Deutschland oder deutsch für die Schule war zunächst sehr ungewohnt.
In der Schule wurde ich von allen super höflich begrüßt und während die ganze Schule bereits meinen Namen kennt und mich beim vorbeigehen grüßt oder tuschelt, kenne ich vielleicht 5 Namen. Besonders die kleinen Kinder sind sehr neugierig, doch auch die älteren Schüler*innen zeigen viel Interesse an mir. Diese Erfahrung ist zwar sehr ungewohnt, doch hilft dies auch dabei, mit Bolivianer*innen in Kontakt zu treten. Und dennoch fühle ich mich oft noch etwas verloren. Die komplett neue Kultur, eine fremde Umgebung und das plötzliche „alleine“ sein stellte für mich in den ersten Tagen eine besonders große Herausforderung dar. Und trotzdem habe ich in meiner ersten Woche schon viel erlebt, gesehen und gelernt. So war ich z.B. an meinem ersten Wochenende mit meiner Gastfamilie bei einem Basketballspiel „Alemán“ (Oruro) gegen „Sansibar“ (La Paz). Wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass wir uns ein Spiel der Männermannschaft anschauen würden, doch neben dem Fakt, dass überall die Deutschlandfahne zu sehen war, spielte zu meiner Überraschung eine Frauenmannschaft. Ich erwische mich selbst noch oft dabei, in Vorurteilen zu denken, doch der Sport für Frauen scheint in Bolivien eine genauso große Rolle zu Spielen wie für Männer, Deutschland kann sich da mal was von abgucken.
Erste Kontakte zu gleichaltrigen konnte ich in der Schule knüpfen. Dadurch habe ich bereits das Schwimmbad und das Kino in Oruro kennengelernt und heute erwartet mich meine erste bolivianische Party. Da jedoch viele junge Menschen aus Oruro wegziehen, gibt es nur wenige Orte, an denen man gleichaltrige kennenlernen kann und auch internationale Menschen sind eine Fehlanzeige in Oruro. Daher bin ich viel mit meiner Gastfamilie unterwegs. Zu meinem Überraschen gehen wir sehr oft Essen und obwohl es für deutsche Verhältnisse sehr billig ist, summieren sich die Ausgaben dennoch. Durch meine Gastfamilie erlebe ich aber die bolivianische Kultur auf eine ganz andere Art und tauche somit in das „normale“ Leben einer Familie in Bolivien ein.
Mittlerweile bin ich seit etwas über einer Woche in Bolivien und obwohl ich noch etwas verloren bin, fühlt es sich irgendwie schon viel länger an, ob das etwas Gutes ist, darfst du dir überlegen. Für heute habe ich aber erstmals genug geschrieben und bin gespannt, was die nächste Zeit mit sich bringen wird. Welche Orte werde ich noch erkunden? Wie werde ich mich als Lehrerin schlagen? Und werde ich mich doch noch an das Essen gewöhnen? Vielleicht wird all das einen Platz in einer meiner nächsten Blogeinträge (falls es weitere geben sollte) finden. Bis dahin esse ich viel Fleisch und denk an euch.