Neuanfang / Tag 1 bis 3

Jetzt ist für mich Neuanfang.

Ich habe Hummeln im Hintern, Projekte in meinem Kopf, bin voller Tatendrang und möchte so vieles noch machen.                    Die Schüler sind davon allerdings meilenweit entfernt. Deren Köpfe verhalten sich nach einem langen Schuljahr ungefähr so wie hängengebliebene CDs, die immer wieder an dieselbe Stelle zurück springen.  Ferien, Ferien, Ferien.IMG_20140623_133206

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Neuanfang – Tag 1:

 Sonntag, 1. Juni. Ich sitze im Zug von Frankfurt/Main nach Gütersloh. Das letzte Mal, als ich mich auf Schienen begab, war das auf der Strecke Craiova – Sibiu. Diese ist zwar 40 Kilometer kürzer als die Entfernung, die ich heute zu überwinden habe, allerdings rechnet die rumänische Bahn dafür bis zu drei Stunden mehr ein.

40 Minuten zuvor am Frankfurter Hauptbahnhof herrscht Chaos. Woher kommen bloß alle diese Menschen? Und oh, mein Zug fährt heute wegen Gleisarbeiten von Frankfurt/Flughafen. Ich wende mich an den Herrn am Service-Schalter. Dieser wirft einen kurzen Blick auf mein Ticket, haut dann ordentlich in die Tasten, druckt etwas aus, unterschreibt und meint schließlich zu mir: „Ihr Zug fährt auf Gleis 1 in zehn Minuten. Später steigen Sie dann um. Einen schönen Tag noch.“ Das war                    deutsche Minimalkommunikation in ihrer reinsten Form: herzlich, sachlich und auf das aller Notwendigste beschränkt.               In Rumänien wären in einer solchen Situation wahrscheinlich mehr Emotionen im Spiel gewesen. In Deutschland gehört es zum guten Ton sich und seine Gefühlswelt nicht allzu wichtig zu nehmen, doch in Rumänien habe ich häufig das Gegenteil erlebt. In einer verfahrenen Situation öffnete sich mir dann eine Tür, wenn ich offen zeigte, wie wütend, traurig, verletzt oder besorgt ich war. Oder wenigstens so tat, als ob ich es wäre. Ein wenig Show gehört dazu!

Ich eile zum Gleis, verabschiede mich in aller Hast von meiner Familie und denke wehmütig daran, was ich in einer solcher Situation am Bahnhof in Craiova gemacht hätte: warten, lesen, ein wenig mit der Person am Schalter plaudern, ein bis zehn Tassen Kaffee trinken und stundenlang gemütlich auf die Anzeigetafel starren. Von Gemütlichkeit ist an diesem 1. Juni weit und breit keine Spur. Ich schaue alle zwei Minuten auf meine Uhr, lausche den Daueransagen zu den verpassten Anschlüssen und renne zusammen mit meinem Abteil beim Umsteigen in Düsseldorf um die Wette. Während der Zugfahrt herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Ich sitze nicht länger als eine Stunde neben derselben Person, ich bekomme keine Gelegenheit meinem Proviant zu teilen und erfahre auch keine Namen meiner Mitreisenden. Angekommen in Gütersloh, werde ich mit dem Fahrrad abgeholt. Mit dem Fahrrad. Ja, ich bin eindeutig in Deutschland und nicht in Rumänien.

Abends trudelt auch Holger mit zehn Deutsch-Schülern des C.N. Elena Cuza ein. Uns alle hat es wegen der bevorstehenden Austauschwoche an der Janusz Korczak – Gesamtschule, hierher, nach Ostwestfalen verschlagen. 10 deutsche, 10 rumänische Schüler, zwei Lehrer der JKG, Holger und ich: Wir sind in dieser Woche ein Team.

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 Tag 2:

Montagmorgen sitzt dieses Team gemeinsam mit einer polnischen Schulgruppe, die ebenfalls diese Woche zum Austausch da ist, in der Schulmensa. Wir frühstücken und lernen uns ein wenig besser kennen. Dabei jonglieren wir fröhlich mit den Brötchen und den vier Sprachen, die durch den Raum wuseln. Außerdem nutze ich die Gunst der Stunde, um den Deutschen und den Polen „kulturweit-bewegt“ vorzustellen. Nach dem Erfolg und Spaß, den wir mit unserem Flashmob in Craiova hatten, haben wir kurzer Hand beschlossen, die Aktion in Deutschland fortzusetzen.

An dieser Stelle, vielleicht lest ihr es ja: Danke an Hang, Lina und Jan! Dafür, dass Ihr auf die geniale Idee gekommen seid, „kulturweit-bewegt“ wieder aufleben zu lassen! Das hat mir in den vergangenen Monaten viele schöne Momente bereitet (:

Anschließend bekommen wir eine Schulführung durch die JKG: bunt bemalte Wände, ein Spieleraum, das „grüne Klassenzimmer“ draußen im Schulgarten, die Teestube und ein großer Sportplatz, der in den Pausen von den Schülern genutzt werden darf. Auch wenn sie cool wirken, man merkt es ihnen trotzdem an: Die Schüler von Elena Cuza sind beeindruckt und ich bin es auch. Schließlich liegt das, was wir hier sehen auch über deutschem Standard. Nur ein Mal verliert Alex kurz die Fassung, nämlich beim Anblick des Billiardtisches in der Teestube. „Boah, das ist toll!“ Als ich ihn frage, wie es wäre so etwas in „Elena Cuza“ zu haben, grinst er breit. „Gut! Und stellt euch mal vor, wie es wäre so einen Tisch in jedem Klassenzimmer zu haben…“ Hinzu kommt, dass die JKG eine integrative Gesamtschule ist. Behinderte und Nichtbehinderte lehren und lernen hier gemeinsam. Letzteres kommt an rumänischen Regelschulen zwar auch ab und zu mal vor, Ursache dafür ist aber wohl eher der Mangel an Alternativen, denn der politische oder gesellschaftliche Wille.

Nach dem Mittagessen in der Kantine, laufen wir mit Geocashern ausgerüstet in Richtung Stadtzentrum. Da das eine Weile dauert, bleibt viel Zeit um über den ersten Eindruck von Deutschland zu sprechen. „Und Alex, wie gefällt es Dir bisher?“ „Sehr gut!“ Nach einer kurzen Pause: „Ich glaube, ich habe mich in Deutschland verliebt!“ „Ehm, oh…! Auf den ersten oder zweiten Blick?“ „Direkt auf den ersten!“ Als Holger ihn später danach fragt, was ihm bisher am besten gefällt, nennt er die Tatsache, dass in seiner Gastfamilie die Mineralwasserflaschen aus Glas sind. Ich finde diese Antwort großartig, denn sie erinnert mich an meine ersten Wochen in Rumänien. Wie fasziniert war ich da von der Vielfalt gefüllter Croissants, einzeln verpackt, die scheinbar jeder Rumäne dauernd für einen spontanen Snack dabei zu haben schien! Inzwischen weiß ich, dass dem nicht so ist. Aber es ist ein gutes Beispiel dafür, wie unverhältnismäßig wichtig solche kleinen Details in einer fremden Umgebung wirken und wie daraus manchmal amüsante Fehleinschätzungen resultieren. Im Gütersloher Stadtpark finden wir dann schließlich den Cash, tanzen ein wenig später über den alten Markt und verabschieden uns schließlich am späten Nachmittag voneinander.

 Tag 3:

Am Dienstag werden wir von der Sonne geweckt. Im Fahrradkeller der JKG rüsten wir uns mit Rädern und Helmen aus und dann geht es los in Richtung Rietberg. In einer langen Karawane bahnen wir uns unseren Weg. Auch wenn die Strecke bestens mit Fahrradwegen ausgestattet ist, zur Herausforderung wird sie trotzdem. Fahrradfahren ist in Rumänien nach wie vor ungefähr so populär wie Einradfahren in Deutschland. Weshalb der ein oder andere eine kleine Warmfahrphase benötigt. Letztendlich erreichen wir aber doch unser Ziel, den Kletterpark auf Rietbergs Landesgartenschaugelände. Von Müdigkeit will nach dem Anlegen der Klettermontur niemand mehr etwas wissen. Auf sieben Parcours hangeln sich Schüler und Lehrer in den nächsten Stunden gemeinsam von Plattform zu Plattform. Ironischerweise wird ein Teilstück des höchsten Parcours in 13 Metern Höhe auf einem Fahrrad zurückgelegt, indem sich die Kletterer von einer Seite zu anderen strampeln. „Und, wie ist es?“, rufe ich hoch. „Besser als auf einem echten Fahrrad auf dem Boden!“, schallt die Antwort hinunter. Da trifft es sich ja prima, dass unser Tagesziel, das Schloss Rheda, noch ganze zehn Kilometer von uns entfernt ist und wir dorthin sicherlich nicht fliegen werden.

Nach einer kleinen Mittagspause in der Sonne am (künstlichen) Sandstrand in diesem großen westfälischen Garten, treten wir wieder kräftig in die Pedalen. Und dennoch zieht sich diese letzte Etappe wie Kaugummi. Die deutschen und auch ein paar rumänische Schüler fahren energisch vorne weg, während es sich der Rest am Ende unseres Zuges gemütlich macht. Ein bisschen Schwung kommt in die Truppe, als sich ein Drahtesel samt Reiter in den kleinen Graben am Wegesrand verirrt. Beide finden unverletzt, etwas schlammig und mit einer bleibenden Erinnerung ausgestattet auf den rechten Weg zurück. Am späten Nachmittag machen wir es uns im Anschluss an die Führung durch das Rhedaer Schloss im Schlosspark bei einem Picknick gemütlich. Das Programm ist beendet und wir sind fix und fertig. „Habt ihr heute noch was Schönes vor?“ „Ja, schlafen.“

Die Fortsetzung im nächsten Beitrag „Eine Schachtel Pralinen / Tag 4 bis 11“!

1 Comment

  1. Barbara/Mama

    Liebe Jelli,
    sooo schön wieder deine geistreichen, genauen und amüsanten Beschreibungen des „Zusammenpralls“ der Kulturen zu lesen. Diese kleinen Details, die Du mit Bedeutung füllst. Freue mich schon auf „die Schachtel Pralinen/ Tag 4 bis 11!!!
    Herzliche GRüße aus dem endlich wieder sonnigen Deutschland ins hoffentlich auch wieder sonnige Rumänien.
    Deine M

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