Ende Februar startet endlich das seit langem geplante Deutschprojekt mit dem Deutschclub. Zehn Tage später ist schon wieder alles vorbei. In dieser Zeit haben die Schüler den Besuch des PASCH-Maskottchens Treffi an unserer Schule gestaltet und dokumentiert. Ziel des Besuches ist es anderen Deutsch-Schülern ‚Elena Cuza‘, Craiova und ein wenig von der rumänischen Kultur zu zeigen. PASCH ist das Netzwerk von über 1700 Schulen weltweit, an denen der Deutschunterricht einen besonders hohen Stellenwert hat. Die Zeit vergeht rasend schnell und es passiert so unglaublich viel!
Montag
In der Schule trifft ein Paket ein. In ihm liegt ein grünes Etwas mit Knopfaugen, Krawatte und schwarz-rot-goldenen Ohren. Es ist Treffi, der von PASCH-Schule zu PASCH-Schule reist. Der beiliegende Reisepass verrät, dass er ein echter Globetrotter ist. Eine ganze Kollektion von Stempeln unter anderem aus Argentinien, Deutschland, Irland, Tansania, Usbekistan und Lettland ziert die Seiten des Passes. Zur Begrüßung in Rumänien gibt es Cosonac (traditioneller Hefekuchen) und Limonade. Eine Schülerin trägt eine Ie, die traditionelle weiße Bluse. Als ich abends nach Hause komme, sehe ich im Internet Scharen von Menschen durch Janukowitschs leer stehende Residenz laufen. Kiew schwebt für einen Moment in einer hoffnungsvollen Ungewissheit. Nach den blutigen letzen Wochen ist jetzt alles offen. Im rumänischen Fernsehen flimmern Bilder von dem Blumen- und Kerzenmeer auf dem Maidan über den Bildschirm.
Dienstag
‚cause I’m on top of the world, ‚ay, I’m on top of the world, ‚ay, waiting on this for a while now, paying my dues to the dirt‘
Ich schneide den Clip zu unserem Flashmob. Das Wetter draußen ist grau und regnerisch, das Wetter hier drinnen auf meinem Bildschirm ist sonnig. Immer und immer wieder tönt ‚On Top of the World‘ von Imagine Dragons an diesem Tag aus meinen Lautsprechern. Der Liedertext erzählt von den Höhen und Tiefen des Lebens, von Enthusiasmus und Schmerz. Ich muss an die Bilder von gestern Abend denken. Das Ziel scheint zum Greifen nah: eine Übergangsregierung wird gebildet und die Ukraine bekommt finanzielle Hilfe zugesichert. Nur von wessen Ziel ist hier eigentlich die Rede? In den rumänischen und deutschen Medien liegt der Fokus noch immer auf Kiew.
Mittwoch
Mitten im Getümmel im Stadtzentrum von Craiova schlendern wir über den Märzchenmarkt. Am kommenden Samstag ist nämlich der 1. März, an dem man in Rumänien, Bulgarien und der Republik Moldau den Frühlingsanfang feiert. Überall gibt es Schmuck und Blumen zu kaufen.
Etwas mehr als 500 Meilen von hier brodelt es im Schwarzen Meer. Wie kleine Wassermoleküle triften Menschen auseinander und reiben sich aneinander auf. Und plötzlich fällt auf: die Ukraine ist ganz schön groß. Kiew ist für manche Ukrainer unglaublich weit weg und der Wandel den eine Mehrheit in der Hauptstadt fordert, scheint nicht für alle Regionen das Beste zu sein.
Donnerstag
Was ist eine Ausbildung? Wie viel verdient eigentlich eine Krankenschwester? Was ist dieser 400€-Job und was ist nochmal eine WG? Im Sommer macht die 12. Klasse ihren Schulabschluss und es stellt sich die Frage: und was nun? Es führen viele Wege nach Rom und mindestens genauso viele nach Deutschland für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Arbeitsplatz. Nur welcher ist der beste? Oder der passendste? Und der günstigste? Fragen über Fragen, die ich versuche bestmöglich zu beantworten ohne selber den roten Faden in diesem Labyrinth der Möglichkeiten zu verlieren.
500 Meilen von hier scheint das Labyrinth der aktuellen Möglichkeiten verwirrender denn je. Ist das der richtige Ausgang? Ist das Freiheit? Oder nur eine Sackgasse? Ist es gut quer zu denken und in die entgegen gesetzte Richtung zu gehen? Oder einfach nur egoistisch? Die ganze Welt schaut staunend auf die Krim. Immer wieder hatten deutsche Kommentatoren in den letzten Tagen betont, dass sie ein Auseinanderbrechen der Ukraine für unwahrscheinlich halten. Und jetzt? Jetzt werden viele eines Besseren belehrt , denn die Stimmen nach einem Anschluss an Russland werden immer lauter.
Freitag
Ich versuche den Deutschclub-Schülern meine Kindheitshelden näher zu bringen: Erich Kästner, Ottfried Preußler, Christine Nöstlinger, Michael Ende und Peter Härtling. Strahlend baue ich vor ihnen im Deutschen Lesesaal einen Stapel aus ‚Der 35. Mai‘, ‚Jim Knopf und die Wilde 13‘, ‚Neues vom Franz‘, ‚Oma‘ und ‚Das kleine Nachtgespenst‘. „Da müsst ihr unbedingt mal reinlesen!“ Über den Rand des Bücherstapels hinweg werde ich kritisch beäugt. Mein Enthusiasmus scheint nicht überzuspringen. Letztendlich findet dann doch jeder etwas zum Lesen, Stöbern, Lauschen oder Sehen. Warum zwischen den ganzen Büchern auch ein grüner Mob mit Augen liegt, ist dem Bibliothekar auch nach zwei Stunden und mehreren Erklärungsversuchen noch nicht ganz klar.
Es wird ernst, obwohl die Lage gestern eigentlich schon ernst genug war. Überall auf der Krim sind Uniformierte zu beobachten, die durchgreifen. Ob das nun gut oder schlecht ist, hängt stark von der Perspektive ab. Und es fällt auf: In der Ukraine gibt es sehr viele unterschiedliche Perspektiven auf die aktuellen Geschehnisse. Dass liegt natürlich an der Größe dieses Landes, aber damit einhergehend vor allen Dingen an der ethnischen und sprachlichen Vielfalt. Wobei letzteres logischerweise nicht unbedingt etwas mit der politischen Einstellungen zu tun hat, jedoch für weitere Verwirrung sorgt.
Samstag
Heute ist der 1. März. Was feiern wir heute nochmal? Den Frühling? Wirklich?! Letztendlich wird es eher ein Fest zum Ende des Winters, denn zum Frühlingsanfang. Es stürmt und regnet und ich hetzte durch das übliche Verkehrschaos in Richtung Schule. Als ich in der Sporthalle eintreffe, ist dort leider nur der extra anberaumte Basketballtrainer, allerdings kein einziger Schüler zu sehen. Die Lage bleibt 25 Minuten unverändert, dann trudeln nach und nach alle ein. Die Auffassung, dass man auch mit einer halbstündigen Verspätung noch als pünktlich gilt, teile ich nach wie vor nicht.
Zur Begrüßung verteilt der einzige Junge in der Gruppe rot-weiße Armbänder und Broschen an die Mädchen. Dies sind die Marțișoare (Märzchen), mit denen man(n) Frauen und Mädchen Glück wünscht. Danach bleiben 10 Minuten Zeit um doch noch ein wenig Basketball zu spielen. Trotz miserablem Wetter halten wir an dem Plan fest einen Frühlingssparziergang im Park zu machen. Lange halten wir das allerdings nicht aus. Zum Abschluss gibt es noch Pizza nach rumänischer Machart. Pofta bună!
In Bukarest landet ein Flugzeug. Gestartet war es in Kiew. Die Zwölf Passagiere an Bord sind Demonstranten, die während der blutigen Auseinandersetzungen auf dem Maidan verletzt wurden.
Sonntag
Gegen Mittag treffen wir uns im Einkaufszentrum. Nach dem Parcul Romanescu rangiert dieses in den Augen der meisten Schüler auf Platz zwei der Sehenswürdigkeiten Craiovas. Deswegen muss auch Treffi dort ein Mal gewesen sein. Im Laufe dieser Woche hat sich etwas getan: War es die ersten Tage noch unglaublich peinlich sich mit der quietschgrünen Handpuppe auf der Straße zu zeigen und sich dann auch noch dabei filmen zu lassen, so genießt die Truppe nun die Aufmerksamkeit, die man mit so einem außergewöhnlichen Begleiter geschenkt bekommt und beantwortet Fragen zu dem Projekt. Das freut mich wirklich sehr, denn es ist nicht immer leicht bei antrainierter Passivität und pubertärer Sensibilität sich die Nerven und den eigenen Schwung zu bewahren.
Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Ernst dreinschauende Politiker und Experten kommentieren die Lage in den Nachrichten- und Spezialsendungen zu der ‚Krim-Krise‘. Inzwischen ist klar: Europa befindet sich mitten in einem Konflikt, der nur eine Armlänge entfernt ist zu einem handfesten zu werden.
Montag
Die Aulatür öffnet sich. „Was wollt ihr denn?“ „Wir würden hier gerne etwas filmen…“ „Und was genau?“ „Ehm tja, eigentlich den hier..“ Der Blick der Putzfrau wandert zwischen uns und unserem knopfäugigen Besucher hin und her. „Und wofür?“ „Für ein Deutschprojekt“ „Für ein Deutschprojekt, soso…“ Ein letzter kritischer Blick und wir dürfen endlich rein.
Kein Europäer kann meiner Meinung nach mehr glaubwürdig behaupten, die Geschehnisse in der Ukraine beträfen sie oder ihn nicht. Aus den Mündern von Briten, Spaniern und Deutschen würde mich eine derartige Aussage nicht allzu sehr wundern, auch wenn sie nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Ukraine scheint aus westeuropäischer Sicht zwar nah, aber auch sehr fern. Dass das allerdings auch viele Rumänen so sehen, irritiert mich dann doch ein wenig. Der Konflikt in dem großen Nachbarland ist kaum ein Thema auf der Straße und in der Schule.
Dienstag
Der Bildschirm flimmert. Meine Nachbarn müssen mich inzwischen hassen und sich fragen, ob ich in den nächsten Monaten auch nur ein Lied in Bruchstücken und Dauerschleife hören werde. 500 Meilen von hier ist alles so unglaublich verwirrend. Ich versuche den Überblick zu behalten und schaffe es nicht.
Mittwoch
Zum Abschluss des Deutschprojektes besuchen wir das Oltenische Museum. Wir entscheiden uns für den naturhistorischen Bereich und bestaunen eine Stunde lang Fossilien und Knochen, die in Oltenien (der Süd-Westen Rumäniens) gefunden wurden. Später bekommen wir noch eine exklusive Planetariumsvorstellung. Bei einem Stück Torte verewigen wir uns anschließend in Treffis Reisepass und verabschieden uns von ihm.
Die Spannungen, die die Krim erzittern lassen, sind inzwischen auch hier, 500 Meilen entfernt, ganz deutlich zu spüren.
Donnerstag
Endlich ist der Clip zu dem „kulturweit-bewegt“ – Flashmob fertig!
500 Meilen von hier
Während ich in Craiova meinen Alltag lebe, passieren nicht weit von hier Dinge, die mich mit ihrer Radikalität und Komplexität erschrecken. Gleichzeitig bekomme ich im Alltag nur wenig davon mit. Nur durch die Medien beginne ich – Teil einer Generation, die den Kalten Krieg nur aus Geschichtsbüchern kennt – in den letzten Tagen zu ahnen, welch eisiger Wind Jahrzehnte lang durch Europa pfiff.
Ich lebe zur Zeit in einem Land, dass sich stolz zeigt Teil der EU und der NATO – kurzum – Teil des Westens zu sein. Rumänien beruft sich regelmäßig auf seine römische Vergangenheit und die engen sprachlichen Bande zum Französischen, Spanischen, Katalanischen und Italienischen. Überall prangt das EU-Emblem. Man hat sich klar positioniert. In rumänischen Krankenhäusern werden verletzte Maidan-Demonstranten behandelt und die NATO schickt Flieger an die rumänisch-ukrainische Grenze um von dort die Lage in der Ukraine besser beurteilen zu können. Vorgänge ähnlich denen, die momentan auf der Krim zu beobachten sind, scheinen absolut undenkbar für Rumänien. Und doch: Seit Jahren kommt es immer wieder zu Konflikten in dem kleinen Nachbarn, der Republik Moldau. Einst zu Rumänien gehörig, leben nun auf deren Territorium sowohl rumänischsprachige Moldawen, als auch Ukrainer und Russen – letztere überwiegend russischsprachig – sowie die Minderheit der Gagausen und der Bulgaren. Seit dem Zerfall des Ostblocks gab es im östlichen Teil der Republik unter der russischen Bevölkerung starke separatistische Bestrebungen. 1990 wurde deswegen Transnistrien zur quasi autonomen Region, deren Autonomie völkerrechtlich allerdings nie anerkannt wurde. Auch wenn eine Wiedervereinigung Moldawiens mit Rumänien momentan nicht ernsthaft zur Debatte steht, so ist Rumänien doch zumindest an guten Beziehungen interessiert. Dass in den vergangenen Tagen Stimmen aus Transnistrien zu vernehmen waren, die eine Annektierung auch dieser Region an Russland fordern, lässt die Nervosität weiter steigen. In Rumänien ist ähnlich wie in Polen die Sorge groß, dass die Krim erst der Anfang ist. Und was das genau bedeuten könnte, möchte man sich hier anscheinend lieber nicht so genau vorstellen.
Viele Grüße aus Craiova!
Liebe Jelena, Deine Berichte waren wieder sehr interessant. Auch wir verfolgen die Vorgänge in der Ukraine mit sehr gemischten Gefühlen.
Ich habe wieder einen Brief an Deine Schuladresse geschickt. Bitte teile kurz mit, ob Du ihn erhalten hast. Wir denken viel an Dich und grüßen Dich. Opa S. un d Oma D.
Liebe Jelle, ich habe heute morgen interessiert-wie immer :-) deinen Blog gelesen, vor allem deine Gedanken zu den Vorgängen in deinen momentanen Nachbarländern. Welche/r Durchschnitts-Europäer/in hat tatsächlich präsent, dass es einen Staat namens Transnistrien gibt, der eventuell bald jedoch, so steht zu befürchten, in Vieler Munde sein wird. Die Gräben zwischen Nord und Süd, Ost und West reißen weiter auf und unser Wohlstand und unser Frieden, in dem wir uns in Deutschland sicher glauben, ist einmal mehr keine Selbstverständlichkeit, auf der wir uns ausruhen können. Umso wichtiger über diese Gräben hinweg in kleinen und großen Gesten zur Verständigung, zum gegenseitigen Respekt und Verständnis beizutragen. Hut ab vor Euch jungen Menschen, die sich trauen dorthin zu gehen, wo´s wehtut.
Herzliche Grüße Deine M