Die 10 Tage in Deutschland vergehen wie im Fluge. Drei Monate und ich habe einen neuen Blick auf all das Altvertraute um mich herum. Waren die Deutschen schon immer so penibel und unentspannt? In Bukarest geht es bei der Sicherheitskontrolle noch sehr lässig zu, während ich in Berlin zwei Extrarunden drehen darf. Mich stört das eigentlich nicht, dafür aber den Sicherheitsbeamten, der – auch wenn gerade überhaupt nichts los ist – unter enormen Zeitdruck zu stehen scheint. Vielleicht muss er mal. Oder mir kommt es auch nur so vor. Ständig beobachte ich mich selber: War das im September auch schon so? Hat sich was geändert? Oder habe ich mich etwa verändert?
Staunend sitze ich dann in Berlin am Gate und frage mich, wann ich das letzte Mal so viele Menschen gesehen habe, denen anzusehen ist, dass sie alles haben, was sie brauchen. Und noch mehr. Sehr viel mehr. Ich denke, das war irgendwann Anfang September 2013.
Gegenwind
Staunen muss ich auch über die sorgenvollen Diskussionen, die in Deutschland gerade geführt werden, weil ab dem 1. Januar 2014 volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren im gesamten EU-Gebiet gilt. Ein Welle von… Ja, wer oder was wird denn jetzt genau befürchtet? Dass in nächster Zeit mit einer stärkeren Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren zu rechnen ist, schadet zu aller erst Rumänien und Bulgarien und nicht Deutschland. Denn meist sind es junge, gutausgebildete Menschen, die sich auf den Weg gen Westen machen, weil sie in ihrem Heimatland für sich keine Perspektive sehen. Mediziner, Ingenieure, Informatiker: Fachkräfte, die in Deutschland händeringend gesucht werden.
Ich habe den Eindruck, dass manch einer in der Debatte Grundlegendes zu vergessen scheint: Der „Gegenstand“ der Diskussion sind Menschen! Menschen, die wie alle anderen auch gewisse Bedürfnisse, Wünsche, Träume und Ängste haben. Und dass es kein Leichtes ist in einem fremden Land ganz neu zu beginnen, auch wenn es noch so verlockend wirkt. Es ist eine schwere Entscheidung und kein leichter Weg, aber wenn die Hoffnung stärker ist als der kalkulierte Verlust, nimmt man das in Kauf. Vermutlich ist es dieser Gedanke, der momentan so viele von Osten nach Westen, von Süden nach Norden bewegt.
Für die größte Irritation und Unsicherheit sorgen wohl die mittellosen Familien, die auf der Suche nach einem besseren Leben per Bus in Städten wie Frankfurt am Main „stranden“. Aus der Ferne betrachtet, wirkt das naiv. Nur, wer in der Heimat nichts hat, nicht mal Hoffnung, der geht. Dass sich momentan nur wenige Deutsche in solch einer Lage befinden, ist reines Glück und wird sich auf kurz oder lang wieder ändern. Sicher ist auch, dass das Ziel der meisten, die in solch einer prekären Situation nach Deutschland kommen nicht ist, die Sozialkassen zu plündern. Wer Sozialhilfe beantragen möchte, muss zuvor gearbeitet und selber eingezahlt haben. Und man muss es wollen. Denn so wie ich es hier erlebe, gehen die meisten nach Deutschland um etwas zu erreichen. Sie wollen sich und anderen beweisen, dass das auch für sie, als Rumänen, möglich ist. Trotz all dem deutschen Gegenwind, der uns sogar noch hier in Craiova um die Nase pfeift. Ein Antrag auf Sozialhilfe wäre ein Zeichen des Scheiterns.
Der Spagat
Einerseits bin ich sehr froh an Weihnachten daheim zu sein, aber andererseits ertappe ich mich auch immer wieder bei der Frage: „Und wie ist es gerade zu Hause?“ Dass ich Craiova inzwischen als mein neues zu Hause ansehe, wird mir während dieses Besuchs besonders deutlich. Ich stehe zwar mit beiden Beinen auf deutschen Boden, aber mit einem Fuß bin ich mental 1000 Meilen weiter östlich unterwegs. Es ist also wieder dieser Spagat vom Anfang, den ich während der 10 Tage vollbringe und der jetzt noch sehr viel mehr zieht als im August. Mit der einen Fußspitze in Frankfurt, mit dem anderen Fuß in Craiova und der Kopf ist irgendwo dazwischen.
Am 30. Dezember mache ich mich gemeinsam mit einer Freundin und der Deutschen Bahn wieder auf in Richtung Süd-Osten. Unsere erste Etappe ist Sankt Pölten/Österreich, wo wir in einen österreichischen Railjet umsteigen. Der Railjet macht seinem Namen in so fern alle Ehre, weil er wirklich extrem schnell ist. Allerdings ist er auch wahnsinnig voll. Entweder ist beim Ticketverkauf ordentlich etwas schief gelaufen oder aber der Railjet ist jung und braucht das Geld. Ansonsten wären in einem reservierungspflichtigen Zug wohl kaum doppelt so viele Passagiere wie Sitzplätze. Das kriegt die rumänische Bahn eindeutig besser hin. Diese fährt zwar meistens nicht so schnell, dafür hat man aber immer einen kuscheligen Sitzplatz. Vor allen Dingen, weil die recht sparsame Sitzplatzbemessung oft keine andere Wahl lässt als mit seinen Sitznachbarn in Körperkontakt zu treten.
Budapest
Budapest gefällt mir auf Anhieb. Auch wenn es schon dunkel ist, als wir ankommen. Die kleine Wohnung, die wir uns in den nächsten Tagen mit anderen „kulturweit“-Freiwilligen teilen, ist in einer ruhigen Straße, zu der wir mit der Tram fahren. Auch die ungarische Sprache gefällt mir wegen ihren ewiglangen Wörtern und ihrem warmen Klang. Nur Forint, die ungarische Währung, verwirrt mich sehr. Aber auch das mag ich.
Die Stadt sprudelt regelrecht vor Energie und Kreativität. Später am Abend erkunden wir noch ein bisschen das Nachtleben: viel multikulti und Gedränge auch an einem Montagabend. Den nächsten Tag beginnen wir in der großen Markthalle in Pest. Frischer Fisch, bestickte Tischdeckchen, Souvenirs: Hier gibt es alles, was das Herz begehrt. Vor allen Dingen natürlich das Touristenherz.
Denn im Gegensatz zu Bukarest, mit dem Budapest oft in einem Atemzug genannt oder auch vertauscht wird, ist Ungarns Hauptstadt eine echte Touristenhochburg. Schnell ist klar, dass wir nicht die einzigen Deutschen in dieser Stadt sind. Sowohl bei Kulturinteressierten älteren Semesters, als auch bei jungen Hipstern ist Budapest beliebt. Bei Ersteren wohl vor allen Dingen wegen den Schlössern, der Burg, der Donau, den alten Stadthäusern und anderen geschichtsträchtigen Gemäuern wie der Markthalle, in der wir gerade stehen. Bei den jungen, auf das sorgfältigste gekleideten Herren vermutlich auch aufgrund der vielen alternativen Bars und Clubs und dem internationalen Publikum. Hier spürt man gerade so viel Balkan, dass man nicht vergisst und darauf stolz sein kann, sich weiter in den Osten gewagt zu haben als die Freunde und Verwandten. Diese sind vermutlich gerade in Berlin, Rom, Wien, Paris und London unterwegs.
In den nächsten Stunden führt uns Aliena, die Freiwillige in Budapest, ein Mal durch die ganze Stadt: Das jüdische Viertel samt Synagoge, der Budapester Weihnachtsmarkt, wo wir Langalló probieren, die Basilika, der Heldenplatz und die Burg. Zum Entspannen treffen wir uns anschließend in einem Café, in dem man während man an seinem Kaffee nippt, angeblich mit hier lebenden Katzen kuscheln kann. Die Katzen haben allerdings wenig Lust auf Streicheleinheiten und schlafen lieber auf den Tischen.
Und dann sind es nur noch wenige Stunden bis zum neuen Jahr, in das wir mit einem sagenhaften Blick auf die Donau gemeinsam hinein feiern.
Boldog Ùj Évet Kívánok! La mulți ani! Ein frohes neues Jahr 2014!
Die folgenden zwei Tage verbringen wir mit essen (ungarische Wurst und Palatschinken!), Kofferpacken, Schlittschuhlaufen und mal wieder: bahnfahren.
Weiter geht es nach Arad, von wo ich mich nach einem kleinen Zwischenstopp und einer schnellen Stadtführung auf den Weg zurück nach Craiova mache. Weitere sieben Stunden Fahrt bieten viel Zeit um die gesammelten Eindrücke und Bilder der vergangenen, unglaublich ereignisreichen zwei Wochen Revue passieren zu lassen. Meine Sitznachbarin versorgt mich in der Zwischenzeit ganz selbstverständlich mit selbst gebackenen Kuchen. Für solche Momente lohnt es sich, sich auf den Weg zu machen. Auch wenn ich unglaublich müde bin, als draußen in der Dämmerung das Eiserne Tor an der serbischen Grenze vorbeizieht, bin ich sehr dankbar dafür, was ich alles in dem letzten Jahr und in den letzten drei Monaten erlebt habe. Mein Horizont hat sich erweitert, ich bin wesentlich strapazierfähiger und neugieriger geworden. Es ändert sich gerade vieles, was nicht immer leicht ist. Aber wie heißt es so schön: Du musst dein Ändern leben.
Verändert hat sich auch das Aussehen dieses Blogs. Etwas unfreiwillig zwar, aber mit einem letztendlich zufriedenstellenden Ergebnis. Und welche großen Veränderungen sind schon groß geplant?
Viele Grüße aus Craiova!
Jelena! Wieder mal ein sehr kluger Beitrag von dir. Vielen Dank dafür.
Allerdings komme ich nicht umhin, meinen bulgarischen Senf zur „Zuwanderungsdebatte“ dazuzugeben. Schuldigung. :-)
Der Kommentar etwas weiter oben führt mir einmal mehr vor Augen, dass Bürokratie in Deutschland dafür sorgt, dass alles seine Richtigkeit und Ordnung hat. Was ist typisch deutsch? Beamtendeutsch! Versteht keiner, weder Deutsche, noch Menschen aus anderen Regionen der Welt.. Mannheim, Dortmund, Berlin und Co zeigen mir, wie man in der sogenannten „Westlichen Welt“ auf hohem Niveau jammert. Als Detroit im Sommer 2013 pleite war. wollte Washington die Stadt mit einem Kredit in Höhe von 400 Millionen Dollar retten. Man hat es ja. Genützt hat es trotzdem nichts. Und so würde es vielleicht auch mit deutschen Städten passieren, die unter dem Zustrom aus dem Ausland „leiden“. Zum Beispiel könnte Deutschland ja mal die 3,1 Milliarden aus dem Europäischen Sozialfond nutzen, um diesen Städten zu helfen. Das Geld ist da, steht Deutschland zu, wird aber nicht abgerufen.
Naja, das wars eigentlich schon. Bitte nicht böse sein. Ich mecker halt nur so gerne rum.
LG aus Bulgarien und noch ´viel Spaß in Craiova, was gar nicht so weit weg von Shumen ist. Zwinke Zwinker.
Liebe Jelena,
ich freue mich, dass Du so viele interessante Erfahrungen machen konntest und offenbar auch viel Spaß hattest.
Zu dem , was Du bezüglich der „deutschen“ Befürchtungen speziell zur Einreise von rumänischen und bulgarischen Staatsbürgern geschrieben hast, kann ich Dir sagen, dass diese selbstverständlich als Mitbürger der europäischen Gemeinschaft ALG II beantragen und erhalten können. Die Voraussetzung ist, dass man grundsätzlich arbeitsfähig ist oder Mitglied einer Familie (als Kind) bei jemandem, der arbeitsfähig ist und natürlich muss die Hilfebedürftigkeit vorliegen. Dies stellt für die wenigsten Kommunen ein Problem dar, für einige wenige aber ein sehr großes, wie beispielsweise für die Stadt Mannheim. Und dies ist der Fall, weil so viele gekommen sind und weiterhin aufgrund der Kontakte immer mehr nachkommen. Die Stadt trägt Kosten für die Unterhaltung der vielen sehr armen Menschen, die sie aufgrund ihrer sowieso außerordentlich schwierigen Haushaltssituation allein nicht stemmen kann. Ich erlebe aber hier in der Region, dass die Befürchtungen und Irritationen auf realistische Füße insofern gestellt werden, dass genau betrachtet wird, wie hoch der Anteil der Rumänen und Bulgaren, die nach Deutschland kommen, tatsächlich ALG II und da gibt es klare Hinweise auf das, was Du auch schilderst, dass eben die gut ausgebildeten, jungen Menschen kommen und hier auch Arbeit finden. Nichtsdestotrotz ist Mannheim mit der anderen Gruppe der Menschen aus diesen Ländern, die eben nichts haben und deshalb nach Deutschland kommen momentan sehr allein überlastet und es muss eine Regelung überdacht werden, die Integration ermöglicht (ansonsten gibt es hier auch keine Hoffnung, weder für die Menschen die kommen, noch für die, die hier Hilfe anbieten), die Kommunen dabei nicht allein lässt und EU-konform ist.
Ich erhoffe und wünsche für Dich viele weitere herausfordernde Erfahrungen und grüße Dich herzlich aus Heidelberg.
Annette
Vielen, vielen Dank für eure ausführlichen und kritischen Kommentare! Denn was helfen all die geschrieben und gedachten Worte meinerseits, wenn auf sie keine Reaktionen und neuen Ideen folgen?
Dass so eine Veränderung immer auch Probleme hervoruft, ist selbstverständlich. Das menschliche Zusammenleben ist keineswegs einfach, oft konfliktreich und im stetigen Wandel. Sich dagegen sperren und Konflikten aus dem Weg gehen zu wollen, ist praktisch unmöglich. Aber genau diese zwar sehr menschliche, aber auch naive Verhaltensweise war in der letzten Zeit in den deutschen Debatten zur aktuellen Zuwanderungspolitik immer wieder zu beobachten. Wie kann man glaubhaft über die Perspektivlosigkeit anderer reden und berichten, wenn der eigene Blick nur bis zur eigenen Landesgrenze und nicht darüber hinaus reicht? Natürlich waren auch andere Stimmen zu hören, die sich kritisch und vielseitig mit dem Thema befassten. Dazu gehören auch Berichte aus Städten wie Mannheim, Frankfurt, Essen und Hamburg, die scheinbar eine echte Herkulesaufgabe zu bewältigen haben. Doch meiner Meinung nach, waren diese oft viel zu leise und eher die Ausnahme als die Regel.
In dem Beitrag versuche ich einen Eindruck von der Perspektive derjenigen zu geben, die in all den Diskussionen viel zu selten zu Wort gekommen sind: nämlich der Rumänen (und Bulgaren). Und umm diese geht es doch letztendlich!
Liebe Jelle, endlich wieder Lesestoff in „neuem Format“, aber mit vertrautem Tiefgang…..weiterhin Mut, Wachheit, Wärme, Liebe, Vertrauen, Langmut, dickes Fell, ….und alles, was sonst noch nötig ist beim und für´s und zum „Ändern leben!“ :-)
Liebste Grüße Deine M
…macht immer wieder Spaß, hier vorbeizuschauen :) Hab noch eine tolle und spannende Zeit in Rumänien! Liebe Grüße aus Hanaoi, Sarah
Danke, liebe Sarah! Ein frohes neues Jahr nach Hanoi (: