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Drei Lektionen zum Mitnehmen, bitte.

„Und“, sagte Hannes und rückte seine Brille zurecht „hattest du schon einen Kulturschock?“ Ich zuckte in beeindruckender Entspanntheit mit den Schultern und sagte: „Ne, also, das kann man so jetzt nicht sagen. Ist halt alles sehr anders, eigentlich so sehr anders, könnte man meinen, dass ich gar nicht dazu komme geschockt zu sein.“ Und ich lächle lässig wie es nun mal meine Art ist (oder zumindest meine Art sein könnte, in Indien.) „Aha!“ rief Hannes und erhob seinen Zeigefinger, „du befindest dich noch im Pre-Schock! Ein gar häufig auftretendes Phänomen, bei dem man zu Beginn geflasht durch das Land latscht und dumm–lächelnd an Streetfood nagt. Aber irgendwann, Ariane, irgendwann, da wird dir klar, dass das alles“ und er zeigte mit ausladender Handbewegung auf das uns umgebende

Rickshas rule.

Rickshas rule. (Foto von Florian, dem ollen Haudegen.)

Indien, „dass das alles hier ab jetzt dein Alltag ist.“ Ich nickte immer noch lächelnd und folgte seiner Hand. Er zeigte auf Rickshas die mir in die Hacken fahren und in die Ohren hupen während Kinder mit kleinen Gesichtern und erwachsenen Bewegungen an meiner Kleidung ziehen und betteln. Eine Kuh, mit einem Rücken der aussah als trüge sie ganz Indien auf den Schultern, wogte langsam schreitend vorbei. Der Schweiß stand auf meiner Stirn, meine Ohren waren voll, es roch nach Blumen und vergammelten Eiern, bunte Farben rankten sich über Frauenkörper während ich mittendrin stand und den Smog der Straße inhalierte. „Alltag.“  sagte Hannes. Mein Lächeln fror fest und ich sagte die nächsten zwei Stunden nichts mehr.

(An dieser Stelle möchte ich erwähnen dass Gespräche zuweilen dezent modifiziert sind, auch besteht potentiell die Möglichkeit, dass es sich nicht hundertprozentig so zugetraDSC07480gen hat und die Kuh erst ein paar Tage später an mir vorbeiwogte. Man möge mir verzeihen.)

Die Woche danach wurde zu einem Kampf. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen Delhi und Delhi stemmte zurück. Das Kräftemessen forderte seine Opfer. Ich schrie einen Rickschafahrer an und fluchte beim Einkaufen, beim Schlendern und in Gesprächen. Ich kämpfte mit Krallen und Zähnen, ich fauchte und wischte mir die Tränen aus den Augen.

Doch so kam ich nicht weiter.

Jedes Entgegenstemmen ließ mich abends erschöpft ins Bett fallen, während Delhi nie die Kraft ausging. Eine Stadt wie ein Tier durch dessen Blutbahnen ich immer weiter geschleust werde.

IMG_20151003_161014Und ich lernte die erste Lektion: Hingeben ist nicht gleich aufgeben.

Nach Tagen des Aufstands kündigte ich meine Kapitulation an. Ich atmete tief durch und oh, wie gut Delhi auch riechen kann, nachts, wenn man an blütenschweren Tempeln vorbeifährt. Jede Situation wurde nun angenommen und ich gab mich hin. Lehnte mich zurück in der Autoricksha und betrachtete das bunte Treiben. Trank im Regen Chai während der Bus neu verschweißt wurde. Atmete in der Yoga-Stunde in mich hinein. Hingeben ist nicht gleich aufgeben. Go with the flow, raten alle Indienkundige, und wie leicht man sich fühlen kann wenn man dies endlich tut.

Die zweite Lektion die ich lernte war simpel und wartete auf mich in den menschenvollen Gassen Old Delhis, lauerte auf den tosenden Straßen: Gehe immer weiter. Bleib nicht stehen, niemals, gehe ohne Zögern voran. Wenn du dies tust wirst du plötzlich Teil der Bewegung und fließt durch die Straßen. Deine Hände streichen über bunten Stoff, hinter jeder Tür und jedem Fenster erwartet dich eine neue Szenerie wie ein ewiges Straßentheater. Du lässt dich treiben und staunst und staunst und staunst.

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Old Delhi steht stetig unter Strom.

Das ist auch die dritte Lektion. Die ersten Wochen pulsierte in meinem Kopf ein einziger Satz: „Wie funktioniert dieses Land?“ Menschenmassen und Kühe und Ziegen schieben sich durch Gassen, Hochzeitgesellschaften tauchen mitten auf der Straße auf, so bunt dass ich nicht weiß wie ich hinsehen soll. Ich fülle tausend Dokumente aus um mich in Delhi registrieren zu lassen, ich sehe Kleinkinder auf Motorrädern sitzen und frage verwirrt und verwundert: „Wie funktioniert dieses Land? Wie, wie, wie?!“ Welch bescheuerte Frage. Irgendwie, in all dem Chaos, funktioniert es. Du wirst nie das „Wie“ beantworten können. Lehn dich zurück. Wundere dich. Staune.

Nach ein paar Wochen in meiner Wohnung beschloss ich, dass es Zeit wird auszuziehen. Ohne Mitbewohner und ohne Internet las ich mein zehntes Buch durch und starrte meinen Ventilator an. In der hinteren Ecke des Zimmers lauerte das Heimweh. Ich brauchte Gesellschaft. Und wie in Indien die Dinge manchmal laufen fiel alles in seinen Platz. Ich zog in eine internationale WG im seltsam-künstlichen Partyviertel Delhis, bei dem die Neonröhren mir abends den Weg nach Hause leuchten und immer eine gewisse Aufregung auf die Nacht in der Luft liegt. Wir trinken Bier im Wohnzimmer, sitzen bei spontanen Jamsessions auf dem Rooftop, graben die Finger in selbstgekochtes Essen und frühstücken auf alten Gemäuern. Ich schaue den Mond an und den Stern der sich den Weg durch den Smog gekämpft hat, während Delhis Gerüche und Geräusche um mich fliegen.

Weitergehen. Hingeben. Wundern.

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Neue Hood.

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