Ich bin gerade Gast in einem Land. Ich war schon oft Gast in Ländern, wurde in Familien aufgenommen und an gedeckte Tische gesetzt. Meine Freunde und ich, wir schultern selbstverständlich unseren Rucksack und betreten fremde Welten. Wir müssen vor keinen Türen verharren, sie werden geöffnet, wir müssen in keine Kofferräume, sondern strecken die Beine in Flugzeugen aus, wir schlemmen und pennen und ruhen im Warmen, im Trockenen, im verlockend Fremden.
Ich bin gerade Gast in einem Land. Und ich sehe anders aus. Meine Haut ist weiß. Kinder zeigen auf mich, Männer pfeifen mir hinterher, Frauen streichen über meine Haare. Zu Anfang fühlte ich mich wie ein Fremdkörper, meine Andersartigkeit steckte in meinen Poren. Mein westlicher Reichtum klebte an meiner Haut und ich schämte mich, obwohl ich mich bedeckte, entblößte mich meine Hautfarbe. Doch irgendwann lösen sich Farben auf und werden zu Gesichtern.
Ich bin gerade Gast in einem Land. Und erzähle gerne von meiner Heimat. Man hört mir zu, wenn ich davon erzähle, hakt nach und wundert sich zuweilen. Mein Deutschsein kommt in Kulturkollisionen zum Vorschein, wenn Indien an Deutschland prallt und sich beide Parteien verwirrt betrachten. Ich kann meine Kultur dehnen und verändern, sie ausschmücken und vermischen. Aber ein Kern bleibt gleich, irgendetwas tief vergraben in mir gibt mir Orientierung. Oh, deutsche Sprache, du seltsamste von allen. Du bist immer bei mir.
Doch in den vergangenen Wochen hadere ich. In was für ein Deutschland werde ich in drei Monaten zurückkehren?
Ich verfolge in virtuellen Welten, dass sich Lager bilden. Dass hysterische Untertöne sich in Kommentare und Diskussionen schmuggeln. Dass Halbwahrheiten die Unklarheiten übertönen. Geflüstertes über Menschen, die wie ich in Indien, optisch als Fremdkörper wahrgenommen werden. Doch ihnen werden keine Komplimente hinterhergerufen. Menschen, die ihre Familie verloren haben und im neuen Land keine finden. Die nicht an gedeckte Tische eingeladen werden, sondern deren Essen kritisch beäugt wird.
Wir suhlen uns in Privilegien. Deutsche Auswanderer sind Abenteurer und werden mit Reality Soaps belohnt. Wir nehmen uns Sabbaticals und reisen um die Welt. Wir markieren auf Karten die Länder, in denen wir schon waren.
Studieren bis tief in unsere 20er-Jahre hinein, schnabulieren Wissen und fabulieren Geschichten.
Vor 400 Jahren kam mein Urahn aus der Türkei nach Deutschland und schlug dort Wurzeln, die sich bis in meinen heutigen Nachnamen weiterranken. Das Familienwappen wird zuweilen stolz herumgezeigt, ach, was für eine exotische Geschichte doch durch unsere Adern fließt!
Und ich sitze 400 Jahre später mit Privilegien behangen an einem Schreibtisch in einem anderen Land.
Ich habe keine Angst, dass sie mir genommen werden. Sondern hoffe, sie so einzusetzen, dass sie sich vermehren und auf Andere ausbreiten. Eine Ansteckungshoffnung. Mein Deutschsein schenkt mir Möglichkeiten. Freiheiten, die ich seit 25 Jahren gierig nutze. Wandernd, studierend, erlebend. Und die Zeit ist nun gekommen, bei der ich sie auch für andere nutzen kann. Helfend. Einladend. Ein Versuch zu verstehen.
In drei Monaten kehre ich nach Deutschland zurück. Mit einem frischen Käsebrot in der Hand werde ich aus dem Flughafen treten. Den Kopf aufrichten (der voll von Erinnerungen der letzten sechs Monate sein wird.) Das Herz beruhigen (gefüllt von Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz). Die Privilegien nutzen.
Denn was sollen wir sonst unseren Nachgeborenen berichten?