Ein durchwachsenes Wochenende in der Küstenstadt Batumi
Anfang Oktober haben wir eine Freiwillige besucht, die nicht in Tbilisi wohnt, sondern in Batumi.
Batumi. Eine große touristische Stadt im Westen Georgiens, direkt am Schwarzen Meer, in der Nähe der türkischen Grenze. Auch bekannt als das „Las Vegas am Schwarzen Meer“, verschmelzen hier Tag und Nacht miteinander. Die Küstenstadt leuchtet und strahlt mit ihren vielen Casinos, Hotels, Apartments, Werbeanzeigen, Clubs und Bars um die Wette. Die Hauptstraßen sind stark befahren – mit schnellen Motorrädern, lauten Autos und sich beeilenden Rollern. Die Menschen tummeln sich an den Uferpromenaden, baden im Meer, gehen in den riesigen Shopping-Malls einkaufen, amüsieren sich an den Spielautomaten oder fahren mit dem bunten Riesenrad am Hafen und genießen den Ausblick auf die dann doch so klein erscheinende Stadt unter ihnen.
Nur nicht fernab der Saison. Anfang Oktober, zum Zeitpunkt unseres Besuchs, war genau das der Fall. Zunächst dachten wir, ein sonniges und warmes Oktoberwochenende erwischt zu haben – und das war es anfangs auch.
Nachdem wir am Freitag direkt nach der Schule mit der Bahn der „Georgian Railway“ fünf Stunden von Tbilisi nach Batumi über Kutaissi, einmal quer durch Georgien, gefahren sind, haben wir uns in das Ein-Zimmer-Apartment der besuchten Freiwilligen einquartiert. Im 25. Stock hatte man einen wunderbaren Ausblick auf das Schwarze Meer, die Uferpromenaden und die breite Hauptstraße, an der sich die vielen Hotels und Casinos mit ihren bunt aufblinkenden Werbeanzeigen reihten.
Am Abend gehen wir in die Altstadt, etwas abseits des hektischen Stadtzentrums. Die Altstadt schlummert regelrecht im Gegensatz zur Innenstadt – mit ihren hübschen und gepflegten Straßen sowie kleinen Gassen. Es gibt leckere Restaurants mit nationalen Gerichten und liebevoll dekorierte Plätze mit Palmen und Lilien-Bäumen. Wir gelangen an eine große Kreuzung mitten in der Altstadt, an dessen vier Straßen eine Bar nach der anderen folgt. In Einer beschließen wir bei Essen und Trinken die Planung für den nächsten Tag. Wir wollen zum Botanischen Garten, der uns von vielen in Tbilisi empfohlen wurde. Doch die Einheimischen vor Ort in den Bars raten uns davon ab. Es ist wohl immer dasselbe mit den Touristen-Hotspots – egal, ob in Deutschland oder Georgien. Der Botanische Garten in Batumi ist der zweitgrößte in ganz Georgien und unserer Meinung nach ganz sicher einen Besuch wert. Einen ganzen Tag sollte man für die lange Wanderung durch die Landschaften des Gartens auf jeden Fall einplanen.
Am nächsten Tag stehen wir zu spät auf. Der Botanische Garten ist gestrichen. Stattdessen verbringen wir den gesamten Tag am Strand – oder zumindest das, was vom Tag noch übrig war nachdem wir verschlafen hatten. Wir badeten im Schwarzen Meer, das wärmer war als gedacht. Zwei Freiwillige haben sich Stand-Up-Paddel ausgeliehen und erkundeten die Weiten des Meeres, während die anderen unter der Sonne einschliefen. Es war ruhig und wenig los. Um uns herum hören wir Mütter auf Russisch nach ihren Kindern rufen. Der Hund einer Dame legt sich zu uns.
Zwei weitere Freiwillige aus Tbilisi sind verspätet zu uns gestoßen. Sie waren in der Nacht von Freitag auf Samstag nach Batumi gekommen, weil der frühere Zug, den wir noch am Freitag Nachmittag genommen hatten, bereits ausverkauft war. Chaotisch, mag man meinen – war es auch –, aber das gehört doch zum Leben eines Freiwilligen in einem fremden Land dazu, nicht? Spontanität gepaart mit Lebenslust. Diese Kombination an Eigenschaften möchte ich auch unbedingt in Deutschland beibehalten.
An diesem Abend zieht es uns ein weiteres Mal in die Altstadt. Dort setzen wir uns in ein georgisches Restaurant. Es gibt Live-Musik und sogar Live-Tanz. Typische georgische Tänze werden in traditionellen Kleidern von einer Frau und zwei Männern der internationalen Belegschaft vorgeführt. Ein ganz klares Highlight, das die Aufmerksamkeit des ganzen Restaurants auf sich zieht. Das Essen ist sehr lecker. Wir probieren neue Gerichte aus, bestellen, essen, quatschen und lachen viel. Es ist ein schönes Beisammensein. In diesem Moment fühle ich mich sehr glücklich und ein wohliges Gefühl des Angekommen-Seins macht sich in mir breit.
Wir bleiben in der Altstadt, weil es hier gemächlicher und ruhiger zugeht als an der Uferpromenade und in der touristischen Innenstadt. In einer Bar, an derselben Kreuzung wie die Nacht davor, lernen wir Jugendliche kennen. Wir bekommen kostenlos Pizza ausgegeben, die Drinks schmecken gut, eine kraftvolle Frauenstimme singt, begleitet von einer von Männerhand geführten Gitarre. Das Wetter ist angenehm. Wir gehen spät, aber glücklich und beschwingt nach Hause.
Der Botanische Garten war nun für Sonntag angesetzt. Doch noch in der Nacht von Samstag auf Sonntag fängt es an, zu schütten. Schnell schließen wir die Fenster, die wir zum Lüften geöffnet hatten. Ein Sturm zieht auf und dicke Regentropfen prasseln gegen die Fenster, gepaart mit starkem Wind, der das Hochhaus zum Erzittern bringt.
Am nächsten Morgen ist es schwül und kalt. Die Luft liegt schwer über der Stadt. Wie eine Wand sehen wir, wie der Regen innerhalb von einer halben Stunde über das Meer zieht und auf uns zukommt. Wir beobachten, wie ein paar Meter von unserem Hochhaus entfernt, Menschen unter Bäume rennen, im Schlamm ausrutschen und hinfallen. Den Regen hören und spüren wir selbst dabei nicht. Dann übermannt auch uns die Regenwand. Wir geraten in den Sturm und schließen wieder die Fenster. Nach einer Stunde entscheiden wir uns gegen den Botanischen Garten. Zu rutschig, zu nass, zu ungemütlich. Als der Regen aufhört, riecht es in der ganzen Stadt, sogar vom 25. Stockwerk des Hochhauses, nach frisch gefallenem Regen. Die Sicht ist glasklar und die Farben leuchten. Der Regen hat die Stadt gereinigt – von den vielen Stoffen und Partikeln, die in der Luft schweben und die Stadt ausbleichen.
Im tröpfelnden und dann doch strömenden Regen laufen wir in ein nahegelegenes Café, um erstmal etwas zu essen und dann noch zu entscheiden, was wir machen wollen. „Auf leeren Magen werden keine guten Entscheidungen getroffen.“ Wir probieren zum ersten Mal ukrainische Pancakes, die aus Quark gemacht werden – auch bekannt als Quarkkäulchen. Sie sind nicht so süß wie die klassischen Pancakes in Deutschland, und nicht für jeden das Richtige. Mir haben sie aber geschmeckt.
Wir bummeln durch die Stadt und schauen uns die Hotels an. In einem hatte die Freiwillige vor Ort für einen Monat als Übergangslösung gewohnt. Wir betreten also eines der „Orbi Twin Tower“, als ob es völlig normal wäre, dass wir hier alle ein Zimmer haben, und fahren mit dem Aufzug in den höchsten Stock. Alle lassen uns vorbei. Wir fallen nicht auf. Es gibt einen Empfang und ein luxuriös aussehendes Foyer mit Marmor-Toiletten und edlem dunkelgrünem sowie goldenem Interieur. Der Aufzug und die Gänge in den einzelnen Stockwerken sehen auch noch vielversprechend aus. Wir können zwar in kein Zimmer rein, aber die Freiwillige, die dort gewohnt hatte, erzählte uns von ihren selbst gemachten Erfahrungen.
„Nicht alles, was glänzt, ist aus Gold.“ Auf den ersten Blick glänzt alles, aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, was ganz typisch für Batumi ist. Schimmel an den Decken, Dreck in den Ecken, teuer aussehende, aber sich billig anfühlende Sofas und Betten. Die Wände sind undicht. Das rasant wechselnde, tropische Wetter hinterlässt seine Spuren. Insgesamt werden eher die Symptome als die Ursachen bekämpft, wenn es darum geht, die Zustände zu beheben. Wenigstens haben wir am Ende des Ganges ein großes Fenster gefunden, das geöffnet werden konnte. Und so reckten die, die keine Höhenangst hatten, ihre Köpfe aus dem Fenster und ließen die Aussicht auf die Stadt unter ihnen auf sich wirken. Hochhäuser an Hochhäusern, Nachbarschaften an Nachbarschaften, Innenhöfe an Innenhöfe, Wohnkomplexe an Wohnkomplexen. Batumi ist in so vielen Aspekten so viel anders als Tbilisi – die eigentliche Hauptstadt Georgiens, neben Batumi aber eher wie ein Dorf wirkt. Hier ist es viel touristischer, überlaufener, größer, schneller, weiter.
Am Abend schauen wir im Kino einer riesigen Shopping-Mall den Film „Joker 2“ auf Englisch – auch deswegen, weil wir keinen besseren auf Englisch finden konnten. Ausgestattet mit Tickets und salzigem Popcorn – es gab kein süßes (!?) – setzen wir uns in den halb gefüllten Saal. Ein sehr interessanter Film und wir konnten sogar viele Parallelen zu Georg Büchners „Woyzeck“ ziehen! Obwohl der Film in den sozialen Medien eher in der Luft zerrissen als gefeiert wurde, fanden wir ihn alle eigentlich gar nicht so schlecht. Im Nachhinein konnten wir uns sogar bei Wendys Burger über die Themen im Film unterhalten, was sehr interessant war, weil jeder etwas anderes im Film erkannt und gedeutet hatte.
Wir wären nicht wir, wenn wir uns nicht dafür entschieden hätten, nach Hause zu laufen anstatt mit dem BOLT zu fahren – obwohl es bereits erste Anklänge von Regen gab. Das war der Fehler. Die kleinen, langsam fallenden Tropfen wandelten sich bald in nicht aufhörende Ströme von schwerem Regen, der uns völlig durchnässte. Ein paar gut vorbereitete Freiwillige zückten ihre Regenschirme, und wir drängelten uns darunter. Auch das konnte uns vor dem Regen nicht mehr retten und so rannten wir mit schnellen Schritten zurück zur Wohnung. Eine rutschte im Schlamm aus, was uns – selbst in Anbetracht des gewaltigen Regens – einen großen Lacher bescherte. Zurück in der Wohnung herrschte erstmal Stille und Erschöpfung. Das war alles zu viel für uns. Wir duschten nacheinander und legten uns dann ins Bett. Um 22 Uhr machten sich eine Freiwillige und ich auf den Weg in einen nahegelegenen Laden, der 24/7 geöffnet hat. Wir kauften Snacks und Wein und stießen zurück in der Wohnung auf den verrückten Tag an – im Dunkeln, damit keine Mücken auf die Idee kamen, uns bei unserem Fest zu stören. Um 24 Uhr verließen uns die zwei Freiwilligen, die bereits am Samstag-Morgen verspätet zu uns gestoßen waren. Sie hatten ihren Zug um 1 Uhr morgens gebucht gehabt – alles andere war bereits ausgebucht. Chaotisch wie eh und je. Und so machten sie sich in nassen Klamotten auf den Weg zum Zug, während wir uns in trockenen Klamotten auf den Weg ins Bett machten.
Am Montag blieben wir in Batumi. Es war ein verlängertes Wochenende für uns alle – dank eines georgischen Feiertages. Obwohl wir einen Ausflug in die umliegenden Nationalparks geplant hatten, fiel auch dieser aufgrund des Wetters wortwörtlich ins Wasser. Zwar regnete es nicht mehr in Strömen wie an den Tagen zuvor, aber es nieselte – was fast noch ekliger und unangenehmer ist als richtiger Regen. In einer Regenpause liefen wir die wie ausgestorbene Uferpromenade auf und ab. Wir trafen auf keine Menschenseele, außer auf zwei deutsche Familien – und das unabhängig voneinander! Für uns alle gilt anscheinend: „Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung.“ Wir aßen in einem israelischen Restaurant mit Falafel, Hummus und Shakshuka zu Mittag und machten uns dann auf den Weg zu unserem Bus.
Auf dem sechsstündigen Heimweg fuhren wir an kleinen Dörfern vorbei – abgelegen und abgeschottet -, aber alle von ihnen haben ihren eigenen Charme. Wir durchquerten tropische, gemäßigte, kontinentale und alpine Klimazonen und kamen nachts, in der Dunkelheit und bei 10 Grad Celsius, in Tbilisi an. Es war ein langes und trotz des Wetters ereignisreiches Wochenende.
Batumi hat seinen ganz eigenen Charme. Es ist so ganz anders als Tbilisi. Touristischer und voller – abseits der Saison jedoch ruhiger und verlassener. Es ist aufgeräumter und sauberer als Tbilisi. Die Straßen sind hübscher und an den Seiten wachsen Palmen, Oleander, Lilien, Granatäpfel. Es ist nicht ganz so traditionell und einheimisch, auch weil Batumi ein großes Reiseziel für Russen, Türken, Armenier und Europäer ist. Die Altstadt ist jedoch liebenswert und charmant. Es gibt viele Kirchen und Museen zu entdecken. Das Meer ist im Sommer ein Traum – ganz abgesehen vom Steinstrand – „aua“. Die Hochhäuser wachsen um die Wette, genauso wie das Leuchten der Casinos, Hotels und Werbeanzeigen.
Batumi hat aber auch den Anschein einer Stadt, die für den „schnellen“ Tourismus existiert. Es werden immer neue Projekte für Hotels und teure Apartments angegangen, ohne dass das vorherige Projekt abgeschlossen wurde. Von außen blättert der Putz von den Wänden ab. Die Wände wurden nie verkleidet, man sieht noch überall den Beton. Die Eingänge der Wohnkomplexe sind aus Marmor und dekoriert mit riesigen griechischen Säulen. Dahinter verbirgt sich aber ein Ort, der nach Unfertigkeit regelrecht schreit. Die Treppenhäuser haben keine Fenster, es ist kalt. Die Wände sind mit Graffiti besprüht. Hier und dort erkennt man ein Hakenkreuz. Und dann noch eins, das aber mit noch mehr Graffiti überschmiert wurde. An den Wänden ist Schimmel. Überdeckt mit Tapeten und Farbe – als ob die den Schimmel verschwinden lassen würden. Lichtschalter funktionieren nicht. Der Aufzug wackelt bedrohlich. Nichts ist fertiggestellt – immer nur angefangen. Stattdessen erwachsen immer neue Hochhäuser aus dem Boden. Große, luxuriöse Hotelketten haben sich hier niedergelassen: Ramada, Radisson Blu, Sheraton, Hilton, Wyndham, JRW Welmond, Best Western, Marriott. Sie alle ziehen eine exklusive, internationale Kundschaft an und verführen Touristen nach Batumi.
Batumi ist ein spannender Ort, der eine Mischung aus glamourösem Urlaubsziel und noch nicht ganz ausgereifter Stadtentwicklung bietet. Die Kontraste zwischen den glitzernden Hochhäusern und den teils maroden Gebäuden, die unter der Oberfläche immer noch an „Unvollständigkeit“ leiden, gehören zum Flair der Stadt.
Batumi ist ein Abenteuer und eine Stadt, die Erinnerungen hält: an die kleinen, persönlichen Momente – wie dem gemeinsamen Abendessen, den unerwarteten Begegnungen oder der Schönheit der Natur nach einem Sturm. Noch immer in einer Übergangsphase steckend – sowohl in Bezug auf ihre touristische Entwicklung als auch auf ihre Identität – muss man sich auf die Mischung aus Glanz und Unvollständigkeit einlassen, um diese Stadt wirklich verstehen zu können.
Denn es hält viele ungeahnte Schätze bereit – für die, die bereit sind, diese zu entdecken.