Mein Wecker klingelt um 3.50 Uhr und zehn Minuten später laufe ich im Gänsemarsch den anderen Gästen des kleinen Homestays an Keralas Nordküste hinterher. Das Meer kann ich in der Dunkelheit der Nacht nicht sehen, aber deutlich höre ich das Rauschen und rieche seine Nähe salzig in der Luft. Vor uns blinkt ein Licht; es ist einer unser gebuchten Rikschafahrer. Mit Taschenlampen leuchten wir uns den Weg bis zu den drei wartenden Rikschas und steigen ein. Ratternd rauschen wir durch die Nacht, der Fahrtwind lässt mich meinen Schal aus der Tasche kramen. Die Luft ist kühl.
Wir fahren zu einem Theyyam. Theyyam ist ein prähinduistisches Ritualtheater, das seit mindestens 1500 Jahren existiert. Es hat Bestandteile aus Tanz, Mimk und Musik. Verschiedene Tänzer schlüpfen in eine von mehr als 450 Rollen und erzählen die Geschichten nach. Während der Aufführung erreichen die Tänzer eine Art Trance-Zustand und nehmen so die Rolle des in dem Moment verehrten Gottes an. In diesem Moment ist der Tänzer die Gottheit.
Hindu-Priester stammten normalerweise aus der Brahman-Kaste, Angehörige dieser Kaste hatten im alten System die meisten Privilegien. Die Theyyam-Tänzer dagegen kamen von je her aus den niedrigeren Kasten. So hat Theyyam immer die Möglichkeit für nicht-Brahmanen zu direkter Verehrung geboten.
Die Theyyam-Tradition begrenzt sich auf das Gebiet von Nordkerala und ein wenig des Süden Karnatakas. Und so begreife ich diesen Abend als einzigartige Möglichkeit, diese Tradition zu erleben. Die Rikschas halten vor einem Holztempel und wir steigen aus. Das Theyyam ist schon seit Stunden zugange und ich sehe einen Tänzer im Vorhof. Ich hatte mir vorher Bilder im Internet angeschaut und bin trotzdem sprachlos, dass das Kostüm und das Make-Up genau so sind, wie ich es dort gesehen habe. Neben dem Tänzer stehen Musiker, mehrere Trommeln und eine Schalmei füllen den Hof mit lauter, rhythmischer Musik.
Im ersten Moment wirkt es, als leite der Schalmei-Spieler den Tänzer an. Auf den zweiten Blick merke ich aber, dass es genau anders herum ist. Die Initiative geht stets vom Tänzer aus und Trommeln und Schalmei folgen einen Herzschlag später nach. 
Ein Stuhl wird bereitgestellt und der Tänzer setzt sich hin; ihm wird Luft zugefächert. Die Nacht ist kühl, doch das Kostüm wirkt schwer und warm. Um die Ecke an der Seite des Tempels brennt ein Lagerfeuer. Die anderen Besucher des Theyyams – alles Bewohner der Umgebung – sammeln sich langsam dort. Wie ich es in religiösen Kontexten schon häufiger erlebt habe, stehen Männer und Frauen getrennt; hier jeweils eine Gruppe auf einer Seite des Feuers. Weil ich gelernt habe, dass es immer schlau ist, das zu tun, was mir die indischen Frauen vormachen, setze ich mich zur Frauengruppe. Hinter mir steht ein großes Zelt, vor dem ein weiterer Tänzer fertig gemacht wird.
Am Feuer sind nun Männer tätig geworden, sie entfernen die brennenden Holzstücke, so dass nur noch glühende Kohle übrig bleibt. Der Tänzer, der hinter mir vorbereitet wurde, tritt in den Hof. Geleitet von einem kleinen Mann, den ich in meinem Kopf als Priester betitel, läuft er herum, fängt an zu tanzen, immer hinter diesem Priester her. Die Musik ist laut, das Feuer warm und meine Augen brennen vor Müdigkeit und vielleicht auch vom faszinierten Schauen. Ich verliere mein Gefühl für Zeit. Irgendwann wird ein meterhoher Kopfschmuck auf den Tänzer gesetzt, dann eine überdimensionale Kopfmaske über sein Gesicht gestülpt. Die Wirkung ist faszinierend, der Tänzer ist auf eine Art entmenschlicht und ich beginne zu verstehen, wie der Tänzer für ein paar Stunden zu einer Gottheit wird.

Das Ritual geht weiter. Nach Minuten oder vielleicht auch einer halben Stunde setzt sich der Tänzer hinter die Frauen. Vereinzelnd oder in kleinen Grüppchen treten Frauen an ihn heran und lassen sich etwas ins Ohr flüstern. Ich stelle mir vor, dass er ihnen die Zukunft deutet. 
Plötzlich geht die Flutbeleuchtung aus. Am Horizont deutet sich schon der Sonnenaufgang an, doch noch ist der Himmel dunkel. Das einzige Licht kommt von dem Gluthaufen und Öllampen, die den Tempel beleuchten. Aus dem Zelt hinter mir kommt plötzlich ein weiterer Tänzer hervorgestürmt. Der kleine Priester von vorhin leitet ihn mit einer Öllampe um den Hof, schwenkt sie hin und her, der Tänzer folgend. Zwei weitere Männer unterstützen ihn, der kleine Priester schwankt schon mit dem ganzen Körper, steht nicht sicher auf den Beinen. Plötzlich fängt er an zu zucken, die zwei Männer nehmen ihn auf ihre Arm und tragen in in den Hintergrund. Der Tänzer wird wild, stürmt auf den Kohlehaufen zu und springt mitten hinein. Er kickt dabei die Kohle weit von sich, mitten in die Männergruppe hinein. Die Männer weichen mit einem kollektiven Aufschrei nach hinten, nur um dann wie ein Welle wieder an den Rand zurückzuschwappen. Helfer kehren die Kohle wieder zusammen und wieder springt der Tänzer hinein. Mehrmals wiederholt sich das, die Männergruppe gezwungen sich vor und zurück zu bewegen; ein bisschen wie das Meer das ich Stunden zuvor gehört habe. Langsam bricht der Tag an und der Himmel färbt sich in Vorbereitung auf die Sonne. Meine Kamera habe ich zu diesem Zeitpunkt schon längst weggesteckt; manche Dinge kann ich nicht in Bilder packen. Ich spüre das Adrenalin, das bei jeden Sprung ins Feuer aufs Neue durch meinen Körper gepumpt wird.
Langsam ändert sich der Theyyam. Der Tänzer führt nun einen Mann nach dem nächsten um die Reste der Glut. Offensichtlich kann er nicht gut sehen, manchmal treten er oder seine Begleitung in das Feuer. Mein Puls beruhigt sich langsam und das Adrenalin wird durch Müdigkeit ersetzt. Ich blicke zu den anderen, mit denen ich gekommen sind. Ich sehe in ihren Gesichtern, dass sie in den letzten Stunden ähnliches gedacht haben wie ich; vielleicht sogar wie ich der Zeit keine Beachtung geschenkt haben.
Für uns ist das Theyyam vorbei und wir machen uns wieder auf den Rückweg. Ich stelle mir vor, wie die restlichen Besucher gemeinsam in dem Essenszelt essen, an dem wir beim Verlassen des Geländes vorbei gehen. Die Tradition lebt hier.
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Für mehr Informationen und einen ersten Einblick empfehle ich den deutschsprachigen Wikipedia-Artikel, der tatsächlich ausführlicher ist als der englische. Die Bilder lohnen sich auch.
