Der Weihnachtsbaum

Pünktlich zum 1. Dezember wird der Tannenbaum ins Foyer gebracht. Er ist aus Plastik, ist zusammensteckbar und wird außerhalb der Adventszeit im Keller aufbewahrt. Er bekommt den Platz neben der Tür zum Lehrerzimmer zugewiesen und zwei Kollegen machen sich daran ihn zu schmücken. Amüsiert verfolgen die andere Praktikantin und ich den Fortschritt und jedes Mal, wenn ich ins oder aus dem Lehrerzimmer gehe, muss ich ein wenig mehr grinsen. Schon bei Deepavali, dem Hindu-Äquivalent zu Weihnachten, habe ich gelernt, dass die Liebe zu leuchtenden und blinkenden Lichtern in dieser Gesellschaft tief verankert ist. Das spiegelt sich auch in unserem Weihnachtsbaum wider. Zusätzlich zu Weihnachtskugeln, kleinen Weihnachtsmännern und nicht zuletzt Zuckerstangen aus Plastik (die ich persönlich ja eher aus us-amerikanischen Weihnachtsfilmen als von deutschen Weihnachtsbäumen kenne) werden dem Baum mehrere Lichterketten verpasst. Die Krönung kommt ganz am Schluss mit einer Lichterkette in Weihnachtsmannoptik. Sie blinkt. Die andere Praktikantin und ich bekommen uns vor Lachen nicht mehr ein. Es gibt Dinge, die sind so großartig, dass selbst eine Beschreibung ihnen nicht gerecht wird. Dieser Baum ist eines davon.

Ein paar Tage später haben wir die Weihnachtsfeier für die Sprachstudenten. Dafür wird der Baum ein Stockwerk höher in die Veranstaltungshalle getragen. Wie es sich für eine Party gehört, wird der Baum von uns weiter aufgebrezelt und bekommt noch eine Runde Weihnachtskugeln sowie eine Tonne Lametta verpasst. So steht er die gesamte Party über dezent im Hintergrund und macht sich gut als Deko-Element.

Am nächsten Tag wird der Baum wieder an seinen alten Platz neben der Lehrerzimmertür gebracht. Aber etwas ist ein wenig anders als vorher. Ich stehe vor dem Baum und versuche die Welt wieder in die Gerade zu bringen. Nachdem ich meinen Kopf nach rechts gekippt habe, geht mir auf, dass der Baum ziemlich schief steht. Der Baum sieht aus, als hätte er auf der Party einen über den Durst getrunken.

Ich sitze am Computer und arbeite, als es plötzlich im Foyer laut kracht. Der Baum ist umgekippt. Helfer springen herbei und richten ihn wieder auf. Der Vorteil von Plastikkugeln ist, dass sie beim Runterfallen nicht kaputt gehen. So werden sie wieder an den Baum gehängt. Der Baum selber lehnt mittlerweile mit der oberen Hälfte an der Wand.

„Er kann nicht mehr alleine stehen“, sage ich zu einer Kollegin. „Ja“, sagt sie, „er sieht aus, als hätte er zu hart gefeiert und ist in Partyklamotten eingeschlafen.“ Ich nicke. „Er war einfach zu betrunken um sich abzuschminken“, sage ich. „Trauriger Anblick“, sagt die Kollegin. Wir fangen an zu lachen.

Ein paar Stunden später kippt der Baum zum zweiten Mal um. Jemand erbarmt sich und trägt ihn wieder in den Keller. Da darf er jetzt seinen Rausch ausschlafen. Bis zur nächsten Weihnachtsparty.

Ein Gedanke zu „Der Weihnachtsbaum

  1. Mama

    Schade, dass Du ihn nicht fotografiert hast – ich habe noch niemals einen „betrunkenen“ Weihnachtsbaum gesehen, blinkend schon auf La ReUnion, Du erinnerst Dich(?) – aber „überfeiert“????
    xxx Mama

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