Archiv für den Monat: Januar 2015

Straßentransport

Bangalore ist eine Two-Wheeler-City; die Busse sind vielleicht die stärksten Verkehrsteilnehmer, die unzählbar vielen Scooter und Motorräder aber die heimlichen Könige der Straßen. Wie vermutlich viele andere Menschen, die bislang ihr Leben vorrangig in Nordeuropa verbracht haben, erstaunt mich tagtäglich, was alles auf einen Motorroller passt.

Das kann man auf einem Motorroller transportieren (alles schon gesehen):

– einen Fahrer

– einen Fahrer plus 1-3 Beifahrer

– einen Fahrer plus einen Beifahrer plus mehrere Kisten

– einen Fahrer plus einen Beifahrer plus zehn Kricket-Schläger

– einen Fahrer plus 20 Plastikeimer

– einen Fahrer plus mehrere Weidenkörbe

– eine Kleinfamilie

– einen Fahrer plus 1-3 Schulkinder inklusive Schulranzen

– einen Fahrer plus einen Beifahrer plus drei lebende Ziegen

– einen Fahrer plus 15 lebende Hühner

Was man nicht auf einem Roller transportieren kann:

– einen Elefanten. Dafür braucht man dann schon einen Laster. Sieht in etwa so aus:Elefant auf der StraßeElefant auf der StraßeElefant auf der StraßeElefant auf der Straße_____

Fotocredits gehen an dieser Stelle an die wunderbare Rike.

Theyyam.

Mein Wecker klingelt um 3.50 Uhr und zehn Minuten später laufe ich im Gänsemarsch den anderen Gästen des kleinen Homestays an Keralas Nordküste hinterher. Das Meer kann ich in der Dunkelheit der Nacht nicht sehen, aber deutlich höre ich das Rauschen und rieche seine Nähe salzig in der Luft. Vor uns blinkt ein Licht; es ist einer unser gebuchten Rikschafahrer. Mit Taschenlampen leuchten wir uns den Weg bis zu den drei wartenden Rikschas und steigen ein. Ratternd rauschen wir durch die Nacht, der Fahrtwind lässt mich meinen Schal aus der Tasche kramen. Die Luft ist kühl.TheyyamWir fahren zu einem Theyyam. Theyyam ist ein prähinduistisches Ritualtheater, das seit mindestens 1500 Jahren existiert. Es hat Bestandteile aus Tanz, Mimk und Musik. Verschiedene Tänzer schlüpfen in eine von mehr als 450 Rollen und erzählen die Geschichten nach. Während der Aufführung erreichen die Tänzer eine Art Trance-Zustand und nehmen so die Rolle des in dem Moment verehrten Gottes an. In diesem Moment ist der Tänzer die Gottheit.

Hindu-Priester stammten normalerweise aus der Brahman-Kaste, Angehörige dieser Kaste hatten im alten System die meisten Privilegien. Die Theyyam-Tänzer dagegen kamen von je her aus den niedrigeren Kasten. So hat Theyyam immer die Möglichkeit für nicht-Brahmanen zu direkter Verehrung geboten. TheyyamDie Theyyam-Tradition begrenzt sich auf das Gebiet von Nordkerala und ein wenig des Süden Karnatakas. Und so begreife ich diesen Abend als einzigartige Möglichkeit, diese Tradition zu erleben. Die Rikschas halten vor einem Holztempel und wir steigen aus. Das Theyyam ist schon seit Stunden zugange und ich sehe einen Tänzer im Vorhof. Ich hatte mir vorher Bilder im Internet angeschaut und bin trotzdem sprachlos, dass das Kostüm und das Make-Up genau so sind, wie ich es dort gesehen habe. Neben dem Tänzer stehen Musiker, mehrere Trommeln und eine Schalmei füllen den Hof mit lauter, rhythmischer Musik. TheyyamIm ersten Moment wirkt es, als leite der Schalmei-Spieler den Tänzer an. Auf den zweiten Blick merke ich aber, dass es genau anders herum ist. Die Initiative geht stets vom Tänzer aus und Trommeln und Schalmei folgen einen Herzschlag später nach. Theyyam

Ein Stuhl wird bereitgestellt und der Tänzer setzt sich hin; ihm wird Luft zugefächert. Die Nacht ist kühl, doch das Kostüm wirkt schwer und warm. Um die Ecke an der Seite des Tempels brennt ein Lagerfeuer. Die anderen Besucher des Theyyams – alles Bewohner der Umgebung – sammeln sich langsam dort. Wie ich es in religiösen Kontexten schon häufiger erlebt habe, stehen Männer und Frauen getrennt; hier jeweils eine Gruppe auf einer Seite des Feuers. Weil ich gelernt habe, dass es immer schlau ist, das zu tun, was mir die indischen Frauen vormachen, setze ich mich zur Frauengruppe. Hinter mir steht ein großes Zelt, vor dem ein weiterer Tänzer fertig gemacht wird.TheyyamAm Feuer sind nun Männer tätig geworden, sie entfernen die brennenden Holzstücke, so dass nur noch glühende Kohle übrig bleibt. Der Tänzer, der hinter mir vorbereitet wurde, tritt in den Hof. Geleitet von einem kleinen Mann, den ich in meinem Kopf als Priester betitel, läuft er herum, fängt an zu tanzen, immer hinter diesem Priester her. Die Musik ist laut, das Feuer warm und meine Augen brennen vor Müdigkeit und vielleicht auch vom faszinierten Schauen. Ich verliere mein Gefühl für Zeit. Irgendwann wird ein meterhoher Kopfschmuck auf den Tänzer gesetzt, dann eine überdimensionale Kopfmaske über sein Gesicht gestülpt. Die Wirkung ist faszinierend, der Tänzer ist auf eine Art entmenschlicht und ich beginne zu verstehen, wie der Tänzer für ein paar Stunden zu einer Gottheit wird.TheyyamTheyyamTheyyamDas Ritual geht weiter. Nach Minuten oder vielleicht auch einer halben Stunde setzt sich der Tänzer hinter die Frauen. Vereinzelnd oder in kleinen Grüppchen treten Frauen an ihn heran und lassen sich etwas ins Ohr flüstern. Ich stelle mir vor, dass er ihnen die Zukunft deutet. TheyyamTheyyamPlötzlich geht die Flutbeleuchtung aus. Am Horizont deutet sich schon der Sonnenaufgang an, doch noch ist der Himmel dunkel. Das einzige Licht kommt von dem Gluthaufen und Öllampen, die den Tempel beleuchten. Aus dem Zelt hinter mir kommt plötzlich ein weiterer Tänzer hervorgestürmt. Der kleine Priester von vorhin leitet ihn mit einer Öllampe um den Hof, schwenkt sie hin und her, der Tänzer folgend. Zwei weitere Männer unterstützen ihn, der kleine Priester schwankt schon mit dem ganzen Körper, steht nicht sicher auf den Beinen. Plötzlich fängt er an zu zucken, die zwei Männer nehmen ihn auf ihre Arm und tragen in in den Hintergrund. Der Tänzer wird wild, stürmt auf den Kohlehaufen zu und springt mitten hinein. Er kickt dabei die Kohle weit von sich, mitten in die Männergruppe hinein. Die Männer weichen mit einem kollektiven Aufschrei nach hinten, nur um dann wie ein Welle wieder an den Rand zurückzuschwappen. Helfer kehren die Kohle wieder zusammen und wieder springt der Tänzer hinein. Mehrmals wiederholt sich das, die Männergruppe gezwungen sich vor und zurück zu bewegen; ein bisschen wie das Meer das ich Stunden zuvor gehört habe. Langsam bricht der Tag an und der Himmel färbt sich in Vorbereitung auf die Sonne. Meine Kamera habe ich zu diesem Zeitpunkt schon längst weggesteckt; manche Dinge kann ich nicht in Bilder packen. Ich spüre das Adrenalin, das bei jeden Sprung ins Feuer aufs Neue durch meinen Körper gepumpt wird. Theyyam TheyyamLangsam ändert sich der Theyyam. Der Tänzer führt nun einen Mann nach dem nächsten um die Reste der Glut. Offensichtlich kann er nicht gut sehen, manchmal treten er oder seine Begleitung in das Feuer. Mein Puls beruhigt sich langsam und das Adrenalin wird durch Müdigkeit ersetzt. Ich blicke zu den anderen, mit denen ich gekommen sind. Ich sehe in ihren Gesichtern, dass sie in den letzten Stunden ähnliches gedacht haben wie ich; vielleicht sogar wie ich der Zeit keine Beachtung geschenkt haben.

Für uns ist das Theyyam vorbei und wir machen uns wieder auf den Rückweg. Ich stelle mir vor, wie die restlichen Besucher gemeinsam in dem Essenszelt essen, an dem wir beim Verlassen des Geländes vorbei gehen. Die Tradition lebt hier.

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Für mehr Informationen und einen ersten Einblick empfehle ich den deutschsprachigen Wikipedia-Artikel, der tatsächlich ausführlicher ist als der englische. Die Bilder lohnen sich auch.

Tempelumzug

Zum Abendessen lande ich in einem Dosa-Restaurant; nach Aussage meiner Begleitung werden dort die besten Dosas Keralas serviert. Wir essen und als wir gerade wieder aufbrechen wollen, hören wir Trommelrhythmen vor der Tür. Wir treten auf die Straße und werden Teil einer Menschenmasse. Ich bleibe auf dem Bürgersteig stehen. An mir gehen ungefähr zwanzig Musiker vorbei. Sie tragen alle einen weißen Lungi, eine Art Wickelrock und die traditionelle Männerkleidung Südindiens. Die Hälfte von ihnen tragen Perkussionsinstrumente und ich mache vor allen diverse Trommeln und verschiedene Becken und Gongs aus. Die andere Hälfte spielt eine Art Trompete, die ich tatsächlich noch nie vorher gesehen habe. Sie sind lang, kreisförmig nach hinten gebogen und die Trichter sind nach hinten gebogen. Die Musiker bleiben stehen und stellen sich in zwei Reihen gegenüber auf, und so ist der Schall direkt auf die Zuschauer gerichtet. Die Perkussionsinstrumente und die Trompeten zusammen sind ohrenbetäubend.Tempelumzug

Ich schaue nach links und mir bleibt erstmal der Mund offen stehen. Da kommen langsam drei Elefanten auf mich zu. Auch sie bleiben stehen und so stehe ich nun ziemlich genau zwischen der Musikergruppe und den Elefanten.Tempelumzug

TempelumzugEs sind Tempelelefanten; sorgfältig geschmückt, mit Reitern auf den Rücken, ihren Trainern neben sich und mit Kette an den Füßen. Diese Tiere sind weder frei noch sehen sie besonders glücklich aus. Aber ich komme in diesen Minuten nicht aus dem Staunen heraus, die dieses Erlebnis in mir auslöst; und so schiebe ich meine Tierschutzgedanken erstmal zur Seite.Tempelumzug

Meine Begleitung schreit mir ein paar Erklärungen ins Ohr. Es ist ein Tempelumzug eines Brahmanen-Tempels. Die Kaste der Brahmanen stellte in der Vergangenheit die Priester und war bzw. ist (je nachdem, ob der Mensch, den du fragst, das Kastensystem ernst nimmt oder nicht) die höchste Kaste des Systems. (Und aus solch oberflächlichen Infos setzt sich mein Wissen über das Kastensystem derzeit zusammen Sehr viel mehr weiß ich nicht. Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass es ein sehr sensibles Thema ist. Ich würde wahnsinnig gerne mehr darüber wissen, möchte aber gleichzeitig nicht nachfragen, da die doch sehr wenigen vier Monate, die ich bislang in Indien bin, mich bei weitem nicht dazu berechtigen solch ein sensibles Thema anzusprechen. In solchen Momenten merke ich, wie wenig ich von der Gesellschaft hier verstehe und auch auf absehbare Zeit nicht verstehen werde, weil mir unter anderem schlichtweg ein umfassendes sozio-politisches und geschichtliches Wissen fehlt. Ich arbeite dran.)

Warum bleiben sie ausgerechnet hier stehen, frage ich. Meine Begleitung zuckt die Achseln und meint dann, dass vielleicht der Besitzer des Restaurants ein Unterstützer des Tempels sei. Und tatsächlich verteilt genau dieser Mann zwischenzeitig heißen Masala-Tee an die Musiker und Priester. An der These ist meiner Meinung nach also etwas dran.Tempelumzug

Die Trompeter machen immer wieder Pausen und ich sehe den Schweiß über ihre Oberkörper rennen. Es ist auch um 20.00 Uhr noch unbeschreiblich heiß und die Instrumente sehen aus, als müssten sie mit viel Zwerchfellunterstützung gespielt werden. Kurz gesagt: Das Ganze sieht sehr anstrengend aus. Immer bei der gleichen musikalischen Phrase halten die Jungen auf den Rücken der drei Elefanten ihre weißen Puschel in die Höhe (und lösen damit bei mir die Assoziation mit Cheerleadern aus).Tempelumzug

Nach einer halben Stunde setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Langsam gehen die drei Elefanten an mir vorbei. Ich schaue ein wenig sprachlos an diesen Tieren hinauf. Einige der Menschen neben mir berühren sie leicht mit der Hand, als müssten sie sich vergewissern, dass sie tatsächlich existieren. Ich schaue ihnen hinterher. In meinen Ohren klingelt es, ein nachträglicher Effekt der Musik, und ich weiß selber nicht genau, was ich empfinde. Vielleicht eine Art Sprachlosigkeit und vielleicht auch eine wenig Erfurcht angesichts einer Tradition, die sich vermutlich so oder in sehr ähnlicher Form seit hunderten von Jahren gestaltet.Tempelumzug

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In Karnataka (der Bundesstaat, in dem ich lebe) ist das Halten von Tempelelefanten übrigens aus Gründen des Tierschutz gesetzlich verboten. Ich habe so das dumpfe Gefühl, dass sich dieses Gesetz in den nächsten Jahren nicht in Kerala durchsetzten wird. Dazu erschien mir dieser Umzug zu sehr Teil des religiösen Alltags. Ich weiß nicht, wie der gesetzliche Rahmen in den anderen Staaten Indiens aussieht.

Der Weihnachtsbaum

Pünktlich zum 1. Dezember wird der Tannenbaum ins Foyer gebracht. Er ist aus Plastik, ist zusammensteckbar und wird außerhalb der Adventszeit im Keller aufbewahrt. Er bekommt den Platz neben der Tür zum Lehrerzimmer zugewiesen und zwei Kollegen machen sich daran ihn zu schmücken. Amüsiert verfolgen die andere Praktikantin und ich den Fortschritt und jedes Mal, wenn ich ins oder aus dem Lehrerzimmer gehe, muss ich ein wenig mehr grinsen. Schon bei Deepavali, dem Hindu-Äquivalent zu Weihnachten, habe ich gelernt, dass die Liebe zu leuchtenden und blinkenden Lichtern in dieser Gesellschaft tief verankert ist. Das spiegelt sich auch in unserem Weihnachtsbaum wider. Zusätzlich zu Weihnachtskugeln, kleinen Weihnachtsmännern und nicht zuletzt Zuckerstangen aus Plastik (die ich persönlich ja eher aus us-amerikanischen Weihnachtsfilmen als von deutschen Weihnachtsbäumen kenne) werden dem Baum mehrere Lichterketten verpasst. Die Krönung kommt ganz am Schluss mit einer Lichterkette in Weihnachtsmannoptik. Sie blinkt. Die andere Praktikantin und ich bekommen uns vor Lachen nicht mehr ein. Es gibt Dinge, die sind so großartig, dass selbst eine Beschreibung ihnen nicht gerecht wird. Dieser Baum ist eines davon.

Ein paar Tage später haben wir die Weihnachtsfeier für die Sprachstudenten. Dafür wird der Baum ein Stockwerk höher in die Veranstaltungshalle getragen. Wie es sich für eine Party gehört, wird der Baum von uns weiter aufgebrezelt und bekommt noch eine Runde Weihnachtskugeln sowie eine Tonne Lametta verpasst. So steht er die gesamte Party über dezent im Hintergrund und macht sich gut als Deko-Element.

Am nächsten Tag wird der Baum wieder an seinen alten Platz neben der Lehrerzimmertür gebracht. Aber etwas ist ein wenig anders als vorher. Ich stehe vor dem Baum und versuche die Welt wieder in die Gerade zu bringen. Nachdem ich meinen Kopf nach rechts gekippt habe, geht mir auf, dass der Baum ziemlich schief steht. Der Baum sieht aus, als hätte er auf der Party einen über den Durst getrunken.

Ich sitze am Computer und arbeite, als es plötzlich im Foyer laut kracht. Der Baum ist umgekippt. Helfer springen herbei und richten ihn wieder auf. Der Vorteil von Plastikkugeln ist, dass sie beim Runterfallen nicht kaputt gehen. So werden sie wieder an den Baum gehängt. Der Baum selber lehnt mittlerweile mit der oberen Hälfte an der Wand.

„Er kann nicht mehr alleine stehen“, sage ich zu einer Kollegin. „Ja“, sagt sie, „er sieht aus, als hätte er zu hart gefeiert und ist in Partyklamotten eingeschlafen.“ Ich nicke. „Er war einfach zu betrunken um sich abzuschminken“, sage ich. „Trauriger Anblick“, sagt die Kollegin. Wir fangen an zu lachen.

Ein paar Stunden später kippt der Baum zum zweiten Mal um. Jemand erbarmt sich und trägt ihn wieder in den Keller. Da darf er jetzt seinen Rausch ausschlafen. Bis zur nächsten Weihnachtsparty.