In Riga habe ich ein neues Zeitgefühl entwickelt. Vielleicht liegt es daran, dass das Reisen viel Zeit braucht. Es gibt keine schnellen Schnellzüge und es gibt auch keine Autobahnen. Wer sich um seine Zeit sorgt, der muss das mit dem Reisen gar nicht erst anfangen. Amüsant ist auch, dass man von Riga aus in fast jede andere große Stadt im Baltikum ziemlich genau 4h (zumeist mit dem Bus) braucht. Nach Ventspils (6. größte Stadt Lettlands), nach Liepaja (3.größte Stadt Lettlands), nach Vilnius (Hauptstadt Litauens), nach Daugavpils (2.größte Stadt Lettlands), nach Tartu (2. größte Stadt Estlands), nach Tallinn (Hauptstadt Estlands) immer fast 4h. Da kommen einem diese vier Stunden in die nächste größere Stadt so alltagstauglich vor, ganz anders wie die vier Stunden, die ich von Bamberg nach Berlin mit dem ICE gebraucht habe. Man reist langsam, aber dafür auch billiger und weil es auch keine teurere, jedoch schnellere Alternative gibt, nimmt man es, wie es ist und zwar mit viel Geduld ohne es überhaupt noch als solche wahrzunehmen, denn den Anspruch schnell und pünktlich zu sein, der bei nicht Eintreffen Geduld verlangt, der ist irgendwann auf der Strecke geblieben, jedoch ohne dass es weh getan hätte. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob in Lettland die Leute wirklich alles mit mehr Ruhe angehen als in Deutschland. Irgendwann war ich mir klar, dass es entweder keinen Unterschied gibt oder dass ich die Einstellung übernommen hatte, denn ich fühlte mich nicht mehr in der Lage, es beurteilen zu können. Dass ich, als ich über Weihnachten in Deutschland war, dann zu aller erst meinen ICE verpasste, kam dann aber doch nicht so überraschend und der Verdacht, ich sei ein noch zeitweilenderer Mensch geworden, verhärtete sich. Ich glaube nicht, dass ich prinzipiell unpünktlicher geworden bin, sondern Zeit liebender, Zeit akzeptierender. Wenn ich in Lettland in einen kleineren Ort fahre, wo alle drei/vier Stunden ein Zug/Bus zurück nach Riga fährt, dann ist das kein Grund, den Tag noch genauer zu planen, sondern wenn ich den Tag frei habe, dann spielt die einzelne Stunde nicht mehr diese Rolle. Ich denke nicht viel über Zeit bzw einen Zeitplan nach. Vielleicht ist das aber auch durch die wenig feste Struktur in meinem Alltag beeinflusst. Aber spätestens als mir Besucher aus Deutschland sagten, dass die Uhren hier irgendwie langsamer tickten, da wusste ich, dass ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Wobei, dass sie langsamer ticken, das stimmt nicht, sie ticken einfach unbemerkter.