Wenn das letzte Stündlein schlägt…

Monatelang stand der Zeitpunkt fest, rückte immer näher und blieb dennoch immer weit entfernt. Und plötzlich ist es so weit: Die letzte Woche beginnt. Das alles ist völlig irreal für mich- anfangen zu packen, Pläne machen für die letzten Tage und dann zu wissen, dass ich mit jedem Morgen, an dem ich aufstehe, wieder einen großen Schritt näher am „großen Tag“ bin. Morgen werde ich China verlassen, dieses Land, in dem ich so viel erlebt habe, in dem ich unzählige gute und genau so viele schlechte Erfahrungen gemacht habe. Ein Jahr, in dem jeder einzelne Tag etwas Besonderes war mit all seinen Eindrücken.

An manchen schossen mir unterwegs die Tränen in die Augen, wenn ich nur daran dachte, das alles hinter mir zu lassen. Es konnte überall sein, in einem Bus, in einer Bar, auf dem Weg zur Chinesischstunde oder zum Treffen mit Freunden. Das hier war jetzt für ein Jahr „meine Welt“, eine Welt, in die ich mich allein einfinden musste und die ich selbst für mich gestaltet habe, in der ich mir ein Netzwerk an Kontakten aufgebaut habe, neue Hobbys, Interessen und Leidenschaften entdeckt habe und in der ich mich- ganz nebenbei- ein Stück weit selbst finden konnte.

Ein paar Minuten vor der Abfahrt

Ein paar Minuten vor der Abfahrt

An anderen Tagen hätte ich am liebsten meine Koffer gepackt und wäre zum Flughafen gefahren. Das Leben hier ist anstrengend, immer wieder gerät man in Situationen, die einen in die Knie zwingen können, wenn man verloren ist in einer Millionenstadt, in einem fremden Land mit fremder Sprache und vor allem Schrift, in der man sich nicht auskennt und in der man die Menschen und vor allem ihre Hintergründe und Absichten nicht versteht. Fast ständig fühlte ich mich von Reizen nur so überflutet: Die Lichter, die Autos, die schreienden und drängelnden Menschen, die Hupen, die klingelnden Handys und immer und überall ein Feuerwerk.
Manchmal kam ich an meine Grenzen und musste mir eingestehen, dass es „so nicht klappt“. Andere Male habe ich gemerkt, wie viel mehr in mir steckt als mir bewusst war und wie weit ich über mich hinauswachsen kann.

Abschied nehmen von "meinen" Schülern

Abschied nehmen von „meinen“ Schülern

Ich verlasse China mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und meine Freunde zu sehen. Ich freue mich auch auf die trivialsten Dinge: Wasser mit Kohlensäure zum Essen. Zum Bäcker zu gehen und „eine Semmel“ zu bestellen. Jemanden nach dem Weg zu fragen, ohne vorher minutenlang den passenden Wortschatz im kleinen Langenscheidt- Wörterbuch nachzuschlagen.
Ja, das Leben ist anders hier, aber es ist vor allem „anders anders“ als ich es vorher dachte. Es ist aufreibender, es raubt einem die Kräfte. Gleichzeitig ist die Herausforderung, der man sich fast täglich stellt, genau das, was ich wohl am meisten vermissen werde. All die Situationen, die man meistert, ohne es zu merken, und die einen doch mit einem Gefühl der Zufriedenheit zurücklassen. All diese Missverständnisse, die von sprachlichen und kulturellen Barrieren herrühren, über die man lacht, sobald man sie aus dem Weg geräumt hat.

Die Gespräche mit anderen Ausländern, die man trifft, laufen meistens nach dem selben Schema ab: „Was machst du, seit wann bist du schon hier und wie lang bleibst du?“ In letzter Zeit kam aber eine neue Frage hinzu: „Und, wie hat dir dein Jahr so gefallen?“ Als ich das das erste mal gehört habe, musste ich kurz nachdenken und antwortete dann ziemlich durcheinander: „Naja, es war ein Jahr, es war mal gut und es war mal schlecht und insgesamt… Insgesamt… Es war eine Erfahrung, denke ich.“ Den verwirrten Blick meines Gesprächspartners mal außen vor gelassen fand ich die Antwort dennoch mehr oder weniger passend: Denn wie beschreibt man ein ganzes Jahr voller Erlebnisse?

Das wird bestimmt auch die Frage sein, die ich zu Hause sehr oft hören werde und hoffentlich fällt mir bis dahin noch eine bessere, weniger janusköpfige Antwort ein, die dennoch genauso wahr ist. Genug Zeit zum Nachdenken werde ich mit Sicherheit haben: Mir graut es jetzt schon vor dem Kulturschock, der mich erwarten wird. Für’s erste denke ich wird es sehr viel zu verarbeiten und zum darüber nachdenken geben. Und trotzdem bin ich mir fast sicher, dass das hier das beste und spannendste Jahr meines bisherigen Lebens war. Und wenn das Flugzeug morgen früh abhebt, werde ich wissen, dass dieser Ort für immer einen Platz in meinem Herzen hat, und glücklicherweise wird eine neue, sehr gute Freundin neben mir sitzen und mir das Gefühl geben, dass es nicht vorbei ist, sondern mir für immer bleiben wird.