Die Zeit

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Bok prijatelji!

Es ist ein strahlender Wintertag, der sich eher schon anfühlt wie ein Vorbote des Frühlings, die Sonne lässt die vom Schnee frisch polierten Ziegel der Burg vor meinem Küchenfenster ihr rötliches Licht auf meine Tastatur werfen. Der Himmel ist klar, es ist angenehm warm, und ich beginne, einen besonderen Post zu schreiben.

So hätte ich diesen Text begonnen, wenn ich ihn vor einer Woche veröffentlicht hätte. Jetzt habe ich ihn genau genommen zwar trotzdem so begonnen, aber ich habe gelogen. Es ist ein grauer, bewölkter, relativ trüber Wintertag, es ist ganz schön kalt und ich bin hundemüde. Dennoch ist es ein besonderer Post: Mein Aufenthalt in Varazdin erreicht heute auf den Tag genau seinen zeitlichen Zenit. Halbzeit.
168 Tage in Varazdin liegen hinter mir, 168 Tage liegen vor mir. Zeit, zurückzublicken, und Zeit, vorauszublicken. Zeit, Schlüsse zu ziehen, und Zeit, Pläne zu machen. Zeit zum Nachdenken.

Das vergangene halbe Jahr war selbstverständlich ein sehr ereignisreiches, voller Menschen, die mir Freunde geworden sind, voller Orte, die mir vertraut geworden sind. Ich habe speziell bei der Arbeit bereits jetzt viel gelernt und viele sowohl schöne als auch fürs spätere Leben nützliche Erfahrungen gemacht. Ich habe gelernt, was es bedeutet, allein zu leben, selbstständig zu sein, für mich selbst sorgen zu müssen; ich habe auch gelernt, was es bedeutet, ein Fremder zu sein – und wie schön das Gefühl ist, wenn man es hier und dort nicht mehr ist. Ich habe manche Vorurteile meinerseits revidiert und andere dazu gebracht, ihre Vorurteile gegenüber mir zu revidieren. Unter all den Dingen, die ich bis jetzt schon erfahren und gelernt habe, habe ich aber vor allem die Zeit kennengelernt, ihre Paradoxität, ihr unveränderliches Fortschreiten, und die Tatsache, dass sie niemals objektiv ist.
In einem halben Jahr, denke ich mir, habe ich in der Schule die ersten Schritte gemacht, wenn ich angefangen habe, eine Fremdsprache zu lernen. In diesem halben Jahr habe ich eine Fremdsprache schon so weit kennengelernt, dass ich viel verstehen und einiges sagen kann und sie mir vor allem vertraut klingt, wenn ich sie höre.
In einem halben Jahr, denke ich mir, habe ich früher ein paar Klassenarbeiten geschrieben, ein bisschen was in der Schule gelernt, mich ansonsten mit Freunden getroffen und das Leben vorbeiziehen lassen. In diesem halben Jahr jedoch habe ich eine Kultur kennengelernt, ein Land, neue Arbeitsmethoden; ich habe Unterrichtspraxis und Lebenserfahrung gesammelt und ein besseres Verständnis für Menschen, die Unterschiede zwischen ihnen und ihre Gemeinsamkeiten entwickelt.
In einem halben Jahr, denke ich mir, habe ich zuhause ein paar neue Straßennamen kennengelernt und kannte nichts anderes als mein eigenes trautes Heim. In diesem halben Jahr habe ich ein zweites Zuhause gefunden und weiß nun, was es bedeutet, ein Mensch zwischen Hier und Dort zu sein, jemand, der sich nicht nur zu Hause zuhause fühlt, sondern auch in der Welt.

A place is only as good as the people in it. – Pittacus Lore, „I Am Number Four“

Ich habe erfahren, dass „zuhause“ nicht in erster Linie dadurch zum Zuhause wird, dass man den Ort mag oder das Land oder die Sprache; „Zuhause“ ist ein Ort, wo man Menschen kennt, die einem das Gefühl geben können, zuhause zu sein. Dass das bei mir in Varazdin jetzt schon der Fall ist – nach einem halben Jahr -, hätte ich am Anfang nicht gedacht, aber umso besser passt der Titel meines Blogs: strange becomes familiar, Fremdes wird zu Vertrautem.

Ich habe gelernt, dass Zeit relativ ist. Dass in einem halben Jahr so viel passieren kann und es sich trotzdem noch anfühlt wie eine Woche. Dass man oft das Gefühl hat, man könne die Zeit, die einem an einem Ort, bei einer Tätigkeit oder im Leben gegeben ist, nie so sehr genießen und ausnutzen, wie man sich das vorgestellt hat, weil gerade die schönen Momente so schnell vorübergehen, dass man es oft nicht glauben kann, wenn sie vorbei sind. Ich merke gerade jetzt, dass ich Zeit oft nicht einordnen kann – die Zeitspanne, die jetzt vorüber ist, erwartet mich ein weiteres Mal, und ich weiß nicht, ob ich mich auf ein scheinbar ewiges oder ein scheinbar viel zu kurzes halbes Jahr freuen soll. Zur gleichen Zeit ist mir aber bewusst, dass mir die zweite Hälfte meines Aufenthalts in meiner Erinnerung niemals so kurz oder lang vorkommen wird wie die erste, weil Zeit immer subjektiv ist, und je nachdem, was die nächste Zeit bringt, wird es mir vorkommen wie ein halbes Leben oder wie ein Wimpernschlag. (Oder tatsächlich wie ein halbes Jahr.)

Ich habe gelernt, viel dankbarer für das zu sein, was mir ermöglicht und gegeben wird, dankbarer für Dinge, die ich vorher als selbstverständlich hingenommen habe. Auch, wenn es keine riesigen Unterschiede gibt, ist mir doch im Gespräch mit Menschen hier mehr und mehr klar geworden, wie gut ich es hatte und weiterhin habe, und wie viel Wertschätzung ich dieser Tatsache eigentlich entgegenbringen muss.

Ich habe auch gelernt, was es bedeutet, einmal nicht irgendwie selbstverständlich zu einer Gruppe zu gehören, sondern auf Menschen angewiesen zu sein, die einen in diese Gruppe aufnehmen, wobei mir gleichzeitig meine Selbstständigkeit und meine Abhängigkeit von anderen bewusst geworden ist – ein durchaus merkwürdiges, aber sehr lehrreiches Gefühl.

Ihr seht, mein Auslandsjahr ist bestimmt vom Lernen und Erfahren. Das mag nichts Neues sein, dass man während eines Auslandsjahres Dinge lernt, aber wie unbewusst und dauerhaft und vor allem in welchem Ausmaß das geschieht, wird mir ehrlich gesagt erst jetzt während des Schreibens klar, wo ich mir einmal wirklich Zeit nehme und zurückblicke auf das, was war. Gleichzeitig blicke ich natürlich vor allem nach vorn auf das, was kommt: Möglicherweise ein großes Projekt, definitiv viele weitere Erfahrungen im Unterrichtsbereich, weitere Sprachkenntnisse, noch mehr fremde Länder und Städte, und vieles, was ich jetzt noch nicht kommen sehe.
Bei all den Gedanken über die Zeit und den Freiwilligendienst schwingt natürlich im Hinterkopf immer ein bisschen Melancholie mit. So schön das alles jetzt gerade ist und so viel es mir auch gibt, es wird in einem halben Jahr vorbei sein, und zwar für immer – dieses Jahr, wie ich es jetzt erleben darf, kommt nie wieder. Daraus entsteht manchmal der zwanghafte Gedanke, die Zeit so sehr auszunutzen, wie es nur geht, und jetzt alles zu tun, „solange man noch kann“; mir ist aber klar geworden, dass eines der besten Dinge ist, das Jahr gerade eben ohne selbstgesetzte Zwänge zu genießen, weil vor allem das der Teil ist, der in dieser Form im Leben wahrscheinlich nicht wiederkehrt.

Ich könnte ewig erzählen und doch fehlen mir gerade die Worte, um alles auszudrücken, was mir durch den Kopf geht. Aber ja, bla bla, „musst du erlebt haben, damit du weißt, wie’s ist“ – viele Dinge kann ich natürlich nicht beschreiben.
Für die kommende Zeit erhoffe ich mir, dass vieles so bleibt, wie es ist, dass viele neue Dinge passieren, selbstverständlich auch, dass manche Dinge nicht mehr passieren; fest steht aber, dass – egal, was passiert – ich „mein Bestes geben werde“, die zweite Hälfte meines Freiwilligendienstes so zu nehmen, wie sie kommt, und in vollen Zügen zu genießen. Das ist mir rückblickend bis jetzt auf jeden Fall schonmal gut gelungen.

In ein paar Tagen kommt der nächste Post, dann wieder mit weniger exzessiv philosophischen Gedankenspaziergängen und mehr Erlebnisberichten und Einblicken in mein Leben statt in meinen Kopf.

Hier noch die Auflösung des letzten Rätsels: The dark.

Grüße

Florin.

Alt, aber passend:
Immer essend, allverzehrend
Nie zufrieden, allzerstörend
Niemals jemals wirklich satt
Bis sie die Welt verschlungen hat.

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