Hallo.
Ich habe diesen Moment so lange wie möglich vor mir hergeschoben, aber früher oder später, dachte ich mir jetzt, muss ich diesen letzten Eintrag sowieso schreiben, alles andere wäre seltsam und falsch. Ich kann nicht einfach einen Blog führen und mich dann nicht mehr melden, wenn es drauf ankommt. So sitze ich jetzt also hier und schreibe den wahrscheinlich letzten Post, den ich auf diesem Blog veröffentlichen werde.
Er wird lang, das kann ich euch jetzt schon sagen, weil ich eine ganze Menge reinpacken muss, also nehmt euch am besten ein kleines bisschen Zeit, wenn ihr ihn komplett lesen wollt. Wäre auch schade, wenn ihr ihn nur überfliegt oder Teile auslasst.
Das Rätsel vom letzten Mal löse ich jetzt direkt auf, dann muss ich das am Schluss nicht mehr machen: Wasser.
Ich beginne mal damit, euch ereignistechnisch auf den aktuellen Stand zu bringen.
Um an den letzten Post anzuknüpfen: Ich meisterte meine letzten Schultage, war unterwegs mit Freunden und natürlich sehr wehmütig, dass die Arbeit jetzt schon vorbei sein sollte. Zwischendurch kam mich noch Ruth aus Sarajevo für zwei Tage besuchen, die gerade eine kleine Tour durch Osteuropa machte, was natürlich sehr schön, aber leider auch ziemlich kurz war.
Zwei Tage nach dem letzten Schultag (also an einem Donnerstag) setzte ich mich in einen Bus nach Wien, dort wiederum in einen Bus nach Brno in Tschechien, wo die liebe Mathilde ihren Freiwilligendienst abgeleistet hat. Ich kam relativ früh morgens an, wir gingen frühstücken und beschlossen etwa zehn Minuten später, abends spontan nach Prag zu fahren, wo Richard „Rich and Funky“ Funke in seiner WG seine Abschiedsparty feierte. Obwohl wir uns aus Überraschungsgründen natürlich nicht angekündigt hatten, hatte er noch Platz für uns zum Schlafen, und der Abend war äußerst gelungen. Am nächsten Tag ging es für uns zurück nach Brünn, wo wir abends mit Mathildes Freunden und Freundinnen unterwegs waren. Brünn ist eine lebendige und interessante Stadt mit sehr vielen Möglichkeiten und einem abwechslungsreichen Stadtbild, die mir sehr gefallen hat und zum Wiederkommen einlädt. Samstags schließlich gingen wir ins Kino, „Jurassic World“. Beziehungsweise „Jurský Svět„. Entgegen unserer Erwartung wurde der Film nämlich nicht wie üblich mit Originalton und Untertiteln, sondern mit tschechischer Synchronisation gezeigt, wodurch ich natürlich so gut wie nichts verstanden habe; zum Glück zählt der Film nicht gerade zu der Sorte, wo es auf die Konversationen ankommt.
Abends waren wir noch einmal feiern, schliefen am Sonntag aus und ich machte mich auf den Rückweg.
Die darauffolgende Woche verbrachte ich in Varazdin, da ich sieben Tage lang Besuch von meinem Bruder im Geiste Lukas Böhlken, seines Zeichens Freiwilliger in Ulcinj/Montenegro und AG-Cheftrainer (andere Geschichte), bekam. Wir verbrachten die Zeit mit Nichtstun, Noch-Weniger-Tun, Essen, Einkaufen, Trinken, Kartenspielen und Nichtstun, was auch nicht anders zu erwarten war. Ursprünglich wollte er nur bis Donnerstag bleiben; da ich aber samstags meine Abschiedsparty gefeiert habe, konnte ich ihn überreden, noch für das Wochenende zu bleiben. Zu besagter Abschiedsparty, die eine grandiose Veranstaltung war, ließ sich auch Alina, Freiwillige in Zagreb, erneut in Varazdin blicken.
Nachdem Lucky Luke wieder abgereist war, räumte ich mein Zimmer und zog aus meiner Wohnung aus. Die folgende Zeit verbrachte ich bei meinem besten kroatischen Freund Gerhard (ja, so heißt er wirklich, und nein, er ist nicht deutsch. Die Gründe seiner Eltern für die Namenswahl kenne ich nicht). Sein großer Bruder ist ein sehr talentierter DJ (der seine Sets in dem Zimmer übt, in dem Gero und ich geschlafen haben) und seine Mutter eine vorzügliche Köchin, weshalb ich die Zeit bei seiner Familie natürlich sehr genossen habe. Noch in der selben Woche nahm ich samstags einen Bus nach Ulcinj, um den obligatorischen Rückbesuch bei Lukas zu erledigen.
Das Einzige, was sich änderte, war die Location, das Programm unserer gemeinsamen Zeit blieb gleich. Ach ja, und dann war da noch das Meer.
Viel mehr gibt es über die vier Tage nicht zu berichten.
Nach meiner Rückkehr brachen für mich die letzten paar Tage in Varazdin an, das letzte Wochenende, der letzte Burek von Mlinar, der letzte Gin Tonic im Mea Culpa, das letzte Käse-Frischkäse-Ketchup-Brot mitten in der Nacht nach dem Feiern, der letzte Kaffee mit den Jungs im Mabis am Morgen danach. Und es kam der Zeitpunkt, wo ich mich wahrhaftig von meinen Freundinnen und Freunden, von Varazdin und von meinem kroatischen Leben verabschiedete, für eine gewisse Zeit zumindest.
Danach folgten großartige Wochen in Deutschland, ein überragendes Nachbereitungsseminar und ein paar wunderschöne Tage in Berlin mit meinen Lieblingskulturweitlern, auf die ich jetzt aber nicht eingehen möchte, weil sie für mich irgendwie zu einem völlig anderen Kapitel gehören.
Soweit zu den Ereignissen. Nun noch etwas, was ich mir bei Florentina, die ein halbes Jahr auf Jamaika verbracht hat, abgeschaut habe: ein Alphabet. Um es nicht komplett billig zu kopieren, habe ich meins im Vergleich zu ihrem aber ein bisschen verändert. Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt ein
Kleines Alphabet des Vermissens und Nicht-Vermissens
Was habe ich in Varazdin an Ravensburg vermisst oder nicht vermisst, und was vermisse ich jetzt, wo ich zurückbin, an Varazdin?
Allein wohnen
Natürlich hat es seine Vorzüge, wieder im Elternhaus zu leben (zumindest für ein Jahr), allerdings gibt es einige Aspekte, die ich am Alleinwohnen zu schätzen gelernt habe und jetzt vermisse, was von kompletter Selbstständigkeit über quasi unbegrenzte Privatsphäre bis hin zu alleinigem Bestimmungsrecht, was in der Wohnung passiert und was nicht passiert, reicht.
Bett
Ich habe mein deutsches Bett vermisst. Wenn man mein Varazdiner Klappsofa und mein Ravensburger 1,40-Boxspring-Bett vergleicht, verwundert diese Tatsache nicht wirklich.
Chlorwasser
Ich habe es in Varazdin vermisst, aus dem Wasserhahn trinken zu können (auch wenn mich das nicht umgebracht hätte).
Donnerstags Trinken gehen
So blöd das auch klingt, aber ich habe es streckenweise sehr vermisst, an einem Wochentag normal feiern gehen zu können, was in Ravensburg relativ einfach ist (in Anbetracht der Größe), in Varazdin aber im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit.
Eltern & Bruder
Ja, natürlich hab ich meine Familie vermisst.
Freunde
Dürfte auch nicht weiter überraschen. Ich habe meine deutschen Freunde vermisst, als ich in Varazdin war, und meine kroatischen, seit ich zurück bin.
Gerhard
Um den Buchstaben F nochmal zu spezifizieren, vermisse ich besonders meinen besten Kumpel Gerhard. Wir hatten tatsächlich über das ganze Jahr, das wir uns kannten, nicht mehr und nicht weniger als eine Meinungsverschiedenheit.
Hrvatski
Ich vermisse es über die Maßen, Kroatisch zu sprechen. Zwar bin ich noch in Kontakt mit vielen meiner Freunde und schreibe auf Kroatisch, lese kroatische Texte und versuche, dranzubleiben, aber nichts davon kommt an das Gefühl heran, aus dem Haus zu gehen und ein „Eh di si Svabo, pemo pit v gradu danas?“ zu Ohren zu bekommen und mit einem „Pa da jebote, bumo se nasel negdje oko devet“ zu antworten.
Inbox?
Ein weitverbreitetes Mittel gegen Langeweile ist unter kroatischen Jugendlichen die Methode, auf Facebook „inbox?:)“ zu posten, damit man angeschrieben wird. Da ich nach kurzer Zeit eine ganze Menge kroatischer Facebookfreunde hatte, wurden meine Neuigkeiten ein bisschen überflutet von Inbox-Posts. Das ist etwas, was ich jetzt nicht direkt vermisse bzw. nicht vermissen werde, sobald ich den Großteil entweder gelöscht oder entabonniert habe. (Damit meine ich die SchülerInnen, die ich nur vom Namen her oder aus wenigen Unterrichtsstunden kenne.)
Joj
Über das Wort Joj hatte ich vergangenen Winter schon berichtet. Hier kann ich es natürlich auch benutzen, aber es macht keinen Spaß, wenn man nicht mal aus dem Nichts heraus „Joj“ sagen kann und ein vielstimmiges „JOJ“ zurückkommt.
Kava s mlijekom
Kaffee mit Milch, was stellvertretend für die vielen Morgende steht, die ich mit meinen Freunden beim Kaffeetrinken vor der Schule verbracht habe. Vermisse ich sehr.
Leibinger
Eine Ravensburger Brauerei, mein Stammgetränk in den meisten Kneipen und alles, was mir kroatisches Bier nicht geben kann. Hab ich vermisst.
MyWay
MyWay ist mein Lieblingsclub in Varazdin, in dem ich schon viele Nächte verbracht habe und sehr viele Menschen kennenlernen durfte.
Narca
Narca ist ein Varazdiner Club und gleichzeitig der Ort mit der meisten nicht meinen Geschmack treffenden Musik, den ich kenne. Vermisse ich überhaupt nicht.
Ozujsko
Eine kroatische Brauerei und mein Stammgetränk in den meisten Varazdiner Bars. Vermisse ich jetzt.
Pünktlichkeit
Habe ich in Varazdin absolut nicht vermisst, nicht, weil sie da war, sondern weil sie nicht da war und ich sie nicht brauche. Das gesamte Lebensgefühl des Balkans sagt mir enorm zu, und ich glaube, dass ich Teile davon auch in mich aufgenommen habe. (Ich kann trotzdem noch pünktlich sein, aber es ist mir komplett egal, wenn es jemand nicht ist und ich warten muss. Dann warte ich halt.)
Quecksilber
Ich habe Quecksilber nie vermisst und werde es nie vermissen. Ich wollte nur irgendwas bei Q schreiben und hatte keine Ideen.
Ratse
Die Ratsstube, im Volksmund „Ratse“ genannt, ist meine Stammkneipe in Ravensburg, die ich natürlich vermisst habe.
Schwäbisch
Ja, ich habe Schwäbisch vermisst! Wenn man aus Oberschwaben kommt und ein Jahr lang als Fremdsprachenlehrer Hochdeutsch redet, mit den Kollegen Hochdeutsch redet, mit den Mitfreiwilligen Hochdeutsch redet… dann tut es einfach mal wieder gut, ein bisschen in seinen Dialekt verfallen zu können, ohne ausgelacht oder nicht verstanden zu werden.
Tanzen
Ich habe es in Varazdin vermisst, mal wieder richtig eine Nacht in einem guten Club mit guter Musik durchtanzen zu können (das kam dort vielleicht vier oder fünf Mal vor). Diese Art von Feiern ist in Varazdin einfach weniger etabliert als bei mir in Ravensburg.
U-Bahn
Etwas, was ich sowohl in Varazdin als auch in Ravensburg vermisse, allerdings eher stellvertretend für „Große Stadt“. Mich zieht es zum Studieren fort in die Städte jenseits der 500.000-Einwohner-Grenze.
Volleyball
Ich vermisse das Volleyballspielen mit dem Kollegium und natürlich auch die mitspielenden Kollegen. Volleyball kann ich hier zwar auch spielen, aber nicht in der Form, wie es in Varazdin möglich war.
Volleyball steht in gewisser Weise auch für die Seminare am Werbellinsee, wo ich diesen Sport immer sehr exzessiv betrieben habe.
Wintersport
Klar, in Zagreb kann man einen Berg runterfahren (leicht untertrieben, dort wurde vergangenen Winter eine WM ausgerichtet), aber nichts davon kommt an die nordalpinen Skigebiete heran, die ich letzte Saison eben leider nicht so wirklich auskosten konnte. Deshalb hat Skifahren/Snowboarden wieder oberste Priorität im kommenden Winter.
Xylophon
Dieses Instrument verwende ich jetzt mal als pars pro toto für Schlagzeug und Perkussion, meine größte und langjährigste Leidenschaft, der ich in Varazdin nur in sehr begrenztem Maße nachgehen konnte (mangels Instrumenten und Überäumen). Diese Sache zählt zu den Dingen, die mir am meisten gefehlt haben und die ich am meisten wieder genieße, seit ich zurück bin.
Yes
„Yes“ verwende ich wiederum als pars pro toto für die englische Sprache, die mich sowieso begeistert und natürlich über das vergangene Jahr im Dauereinsatz war; auch das vermisse ich jetzt in Ravensburg.
Zusammen essen
Ich habe es in Varazdin sehr vermisst, mit anderen Menschen zusammen zu essen. Natürlich ist es schön, wenn man unabhängig ist, kochen und essen kann, was man will, wann man will und wo man will, aber ich habe es zu schätzen gelernt, wenn man nicht einsam am Esstisch sitzen muss und alles einfach still ist. Etwas, worum ich froh bin, dass es jetzt wieder anders ist.
Das war’s soweit mit Buchstaben.
Nun ist also Zeit für die letzten Worte auf diesem Blog.
Ich bin dankbar. Dankbar für jede Sekunde meines Freiwilligendienstes, für jede Erfahrung, die ich machen durfte, und für jede, die ich machen musste, für jeden Menschen, den ich getroffen habe, für jede grammatische Regel, die ich erklären konnte. Dankbar für jedes Wort Kroatisch, das ich gelernt habe, auch wenn für jedes kroatische ein italienisches Wort verschwunden ist. Ich bin unendlich dankbar für jede/n Freiwillige/n, die/den ich kennenlernen durfte und mit denen der Kontakt hoffentlich ein Leben lang nicht abreißt.
Ich bin dankbar dafür, ein zweites Zuhause zu haben, zu dem ich jederzeit zurückkehren kann. Was ich auch jedes Mal tun werde, wenn es die Situation und der Kontostand erlaubt.
Ich bin dankbar dafür, wie ich mich verändert habe. Auch, wenn das für mich viel schwerer zu beurteilen ist, ob und wie ich mich verändert habe, merke ich doch sehr eindeutig, dass es gut ist, wie es jetzt ist.
Und ich bin jedem dankbar, der mitverantwortlich dafür war, dass mir das alles ermöglicht wurde.
Zum Schluss noch ein (leicht verändertes) Zitat von meiner Mitfreiwilligen Clara, das zu meiner derzeitigen Situation und meinem Gefühl passt wie die Faust aufs Auge, und quasi unsichtbar an meiner Tür stand; an der Tür, die ich in Varazdin geschlossen habe, und an der, die ich in Ravensburg nach langer Zeit wieder öffnen konnte.
Willkommen in Zwischenwelt, dem Reich der ewig heimwehhabenden Fernwehkranken.
Ich wünsch euch was, danke fürs Lesen, und ich melde mich hier vielleicht in einem Jahr oder so nochmal, falls mir danach ist, einen nachhaltigen reflektierten fair berichteten ökologisch einwandfreien philosophischen Text zu veröffentlichen. (Zählt also mal nicht darauf.)
Liebe Grüße
Florin.












