Inzwischen sind die vier Wochen im Barrio Unidad vorbei. Ich bin mir sicher, dass die Arbeit dort eine der prägendsten Erfahrungen meines Lebens bleiben wird.
Nachdem ich in der ersten Woche auf Wolke 7 schwebte und das Gefühl hatte, die Welt retten zu können, kam ab der zweiten die Ernüchterung.
Wir hatten vor, mit den Kindern als Mini-Theaterstück „Die kleine Raupe Nimmersatt“ einzustudieren und aufzuführen. Das „Drehbuch“ war geschrieben, die Rollen verteilt, schon einige Kostüme gebastelt und es gab eine Body-Percussion-Gruppe, die für den Sound zuständig sein sollte und bereits probte. Doch da kaum eines der Kinder regelmäsig kam und wir jeden Tag mit anderen Kindern zu tun hatten, die oft viel lieber einfach nur malen wollten, entschieden wir uns, das Projekt aufzugeben und den Kindern das anzubieten, was sie sich wünschten.
Das sind Dinge, die uns so unspektakulär vorkamen, dass wir sie gar nicht als „Programm“ bezeichnet hätten. Eine Gruppe Jungs wartete jeden Tag auf uns, weil wir einen Fussball mitbrachten. Zwei Mädchen spielten die ganzen vier Wochen jeden Tag dasselbe Memory-Spiel. „Feuer, Wasser, Sturm“, der Mal- und Basteltisch und einfache Bilderbücher kamen am besten an.
Die Verhaltensweisen der Kinder waren für uns oft fremd und machten uns zu schaffen. Über einige ärgerte ich mich auch, solange bis wir die Ursachen verstanden. Dann macht es uns eher traurig.
Die Kinder gehen teilweise extrem brutal miteinander um. Für mich war es schockierend zu sehen, wie sie keine Hemmungen davor haben, kleineren Geschwistern mit der Faust auf den Kopf zu schlagen oder ein auf dem Fahrrad sitzendes Kind die Treppe hinunter zu schubsen. Doch natürlich ist dieser Umgang miteinander verständlich, wenn zu Hause Konflikte nur so gelöst werden und auch Gewalt durch die Eltern an der Tagesordnung ist. Die Kinder sind auch schon so abgehärtet, dass sie mit offenen Wunden an den Beinen herumlaufen, ohne sich zu beklagen.
Man kommt sich ziemlich machtlos und lächerlich vor, wenn man sich in so einer Umgebung hinstellt und den Kindern erzählt „Das macht man aber nicht“, nachdem ein Kind einem anderen eine Ohrfeige gegeben hat.
Alle Kinder versuchen auf irgendeine Art Aufmerksamkeit, Zuneigung und Lob zu bekommen, denn das ist es, was ihnen am meisten fehlt.
So zum Besipiel Daiana, ein extrem liebes Mädchen, das mir jeden Tag Briefe schrieb, wie toll sie meine Haare, meine Augen und mein Lächeln fand- ein Verhalten, mit dem es mir genauso schwer fiel, umzugehen, wie mit Mariano, der immer Bilder anderer Kinder als seine ausgab. Ich schimpfte ihn zweimal, weil er mich anlog, bis ich eine Situation mitbekam, die so ein Verhalten erklärt:
Ein Dreijähriger bat mich um Stifte und Papier zum Malen. Zufällig war seine Mutter anwesend, die zu mir meinte: „Du musst für ihn malen, er kann´s nicht.“ Ich war erschrocken, dass sie das vor ihrem Sohn so sagte und antwortete, dass ich ihn schon malen gesehen habe und es sehr schön fand. Doch sie wiederholte: “ Nein, nein! Er kann nicht malen. Er malt hässlich!“ Das sagte sie so lange, bis ihr Sohn sich nicht mehr traute zu malen und lieber spielen ging.
Den Kindern fehlt oft jegliches Selbstvertauen und sie baten uns für sie zu zeichnen, damit sie nur noch ausmalen müssen. Das ist eine Verhaltensweise, die mir bei Kindern bisher unbekannt war. Sie entsteht durch ungebildete Eltern und große Geschwister, die sich über die Zeichnungen der Kleinen lustig machen.
Ein anderer Fall war Fabricia. Sie war eines der anstrengendsten Kinder, weil sie versuchte, den größstmöglichen Schaden anzurichten und uns zu ärgern. Sie zerriss Bilder der anderen, kippte Spiele aus und verteilte den Inhalt der Mülltüte im ganzen Raum. Bis Katharina auf einen Trick kam: Wenn man Fabricia persönlich ansprach und sie bat, uns bei etwas zu helfen, ging sie in dieser Aufgabe völlig auf und sammelte zum Beispiel ganz gewissenhaft alle Kreiden ein. Ihr Verhalten war wieder nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit.
Um Aufmerksamkeit zu bekommen, hat praktisch jedes Kind seine eigene Taktik entwickelt: besonders lieb sein oder besonders frech, lügen oder weinen, ihre Talente präsentieren oder sich hilfloser stellen als sie sind.
Es gibt so viele einzelne Situationen und Bilder, die ich nicht mehr vergessen kann, dass ich hier nicht alle aufzählen kann:
Der kleine Adrian, der immer mit seinem nackten Hintern im Dreck sass, weil er unter der voellig kaputten Hose keine Unterhose trug. Araceli, die, nachdem ich ihr sagte, dass der Ball nicht nur ihr gehöre, ihre Apfelreste nach mir warf und das Schloss verschwinden ließ, bis wir drohten, dass wir nicht mehr kommen können würden und sie uns plötzlich umarmte und küsste. Einige Kinder, die immer störten und plötzlich hingerissen waren von einfachen Kinderbüchern und immer wieder die Geschichten nacherzählen wollten.
Was mich traurig macht, ist, dass wir die Situation der Kinder nicht ändern konnten. Einige der Kinder sind begabt und ehrgeizig und motiviert in der Schule. Trotzdem werden die Mädels, die uns jeden Tag um Hausaufgaben baten, vielleicht mit 15 Mütter werden und die Jungs, die so gut zeichnen koennen, dass ihr Talent gefördert werden sollte, bleiben wahrscheinlich auch im Barrio und werden im schlimmsten Fall Crack-süchtig. Als ich letzte Woche überfallen wurde, musste ich daran denken, dass das auch einer der Jungs aus dem Barrio in zehn Jahren hätte sein können, und die Tatsache, dass so eine Zukunft für einige nicht einmal unwahrscheinlich ist, macht mich wirklich traurig.
Ein Resumé für unser Projekt habe ich selbst noch nicht ganz gezogen. Ich weiss, dass es nicht nachhaltig war. Vielleicht hat es aber einigen Kindern einen etwas schöneren Sommer gebracht und einen Ort, um sich zu entfalten.
In meinem eigenen Leben wird das Projekt tiefere Spuren hinterlassen. Ich habe zum ersten Mal richtige Armut gesehen. Noch schlimmer als die fand ich aber die Vernachlässigung und das, was mangelnde Zuneigung mit Kindern macht.
Als Lolo, unser begeistertster Zeichner, uns am letzten Tag bat, ob er vielleicht ein paar Blätter Papier mit nach Hause nehmen könne, um auch dort malen zu können, wurde mir klar, dass wir immer noch nicht durchschaut hatten, wie die Kinder leben und was es bedeuten kann „arm“ zu sein.
Titelerklaerung:
„Jugamos y aprendemos“ (Wir spielen und lernen) war der Name unseres Projektes im Barrio. „No más“ ist ein Ausdruck, der in Misiones und im Barrio extrem oft gebraucht wird. Er bedeutet so viel wie „einfach“, „halt“, „nur“ oder „nichts mehr“. (Z.B. Servíte no más= Bedien dich einfach, Jugamos y aprendemos no más= Wir spielen und lernen einfach nur)