Abgesehen von dem Alltäglichen hatte ich aber auch einige Erlebnisse, die mir schon währenddessen als „typisch uruguayische“ Erfahrungen vorkamen.
An einem Samstag nahmen mich Carlos und Nahuel mit nach Juan Lacaze, einer nahegelegenen Stadt, die bei den Neu-Helvetiern einen eher schlechten Ruf als Arbeiterstadt mit höherer Kriminalitätsrate genießt. Dort fand ein Treffen und ein „Desfile“ (also Umzug) ihrer Candombe-Gruppe (Comparsa) statt.
Ich war schon vom Stadtbild beeindruckt, das zwar schäbiger, aber viel authentischer als das von Nueva Helvecia wirkte. Die Comparsa besteht aus Trommlern, Bailarinas (Tänzerinnen) und Fahnenschwenkern. Obwohl ich hier wegen meiner hellen Hautfarbe viel mehr auffiel als ich es aus Nueva Helvecia gewohnt bin, fühlte ich mich trotzdem gleich gut aufgehoben. Nachdem sich alle, also ca. 50 Menschen, im Haus eines Gruppenmitglieds versammelt hatten, ging´s los auf die Straße. Die Trommler gaben den Rhythmus an und die Tänzerinnen tanzten vornedraus.
Zum ersten Mal hatte ich wirklich das Gefühl, in Lateinamerika zu sein. Menschen säumten den Straßenrand oder tanzten mit. Ich natürlich nicht, denn so weit ging mein Mut dann doch nicht, bis… mich eine der älteren Frauen fragte, warum ich nicht tanze. Meine Ausrede, dass ich das noch nie gemacht habe, ließ sie nicht gelten, sondern rief stattdessen gleich den Choreografen, der mich vor die gesamte Menge zog, damit ich´s eben lerne. Was in Deutschland noch wie eine Horrorvision geklungen hätte (vor den Augen von mindestens 50 Menschen, die das alle ganz lustig finden, auf der Straße ungeschickt zu tanzen), war in der Realität aber irgendwie toll. Es hat Spaß gemacht. Die Tänzerinnen integrierten mich in ihre Gruppe und die Kinder fanden es interessant, dass es ein Land geben soll, in dem es kein Candombe gibt. Zwei Stunden lang liefen wir trommelnd und tanzend durch die Straßen und ich fühlte mich kräftig lateinamerikanisch, erst recht, als auf dem Heimweg mit Carlos´ doch schon in die Jahre gekommenem Auto mitten auf der Landstraße dessen Tür neben mir aufging (also sperrangelweit offen nach außen hing) und ich von den beiden Vornesitzenden, die das nicht so spektakulär fanden, gebeten wurde, sie den Rest der Rückreise zuzuhalten.
Am Tag danach folgte ein ganz anderes, aber irgendwie auch typisch uruguayisches Erlebnis. Wir fuhren aufs Land. Bisher war ich davon ausgegangen, dass Nueva Helvecia schon recht ländlich ist, aber der Besuch bei Silvanas Vater, der auf einem großen Bauernhof angestellt ist, belehrte mich eines Besseren. Gemeinsam mit Silvanas Bruder und dessen Freundin auf einem Motorrad fuhr ich erst einmal ca. eine halbe Stunde durch ziemlich unbewohnte und daher umso schönere Landschaft (ziemlich unbewohnt heißt nicht, dass es nicht einen Haufen Kühe gab).
Der Bauernhof liegt völlig abseits von allem in der „Pampa“ und ist total idyllisch , aber ich bemerkte recht bald, dass es nicht ganz so romantisch zugeht, wie es aussieht, sondern dass es eben doch ein Ort ist, an dem hart gearbeitet wird und vor allem Viehzucht mit all ihren auch unschönen Auswirkungen betrieben wird. Als wir in die Küche eintraten, wurde gerade ein riesiges Stück Fleisch mit einer Säge zerkleinert (unser Mittagessen?). Draußen hingen Schafsfelle zum Trocknen (Köpfe noch dran) und nachmittags durfte ich eine Kalbsgeburt miterleben, was eine sehr brutale Sache war, da das Kalb auf natürliche Weise nicht herauskam. Andererseits gab es natürlich einen Haufen Tierbabies, ein süßes Menschenbaby auch und einen kleinen Jungen, der den ganzen Tag vor Freude auf und ab- sprang, weil endlich jemand mit ihm Fußball spielte. Der Gipfel der Urtümlichkeit war wahrscheinlich erreicht, als ich dabei ausrutschte und in einen Kuhfladen fiel. Auch an diesem Tag hatte ich das Gefühl, etwas erlebt zu haben, was typisch für Uruguay ist und was ich in Deutschland so nie gesehen hätte- die Lebensverhältnisse der Menschen, ihre Lebenseinstellung und Landleben wie es es bei uns wahrscheinlich nicht mehr gibt.
Als Bäckertochter empfinde ich eine besondere Affinität zu Bäckereien. Als Ida, Carola und ich ein Wochenende in Colonia verbrachten und dort auf der Suche nach Bizcochos waren, kamen wir an einem geschlossenen Bäckerladen vorbei. Ich sah aber, dass die Tür zur Backstube offen stand und schaute kurz hinein, was der Bäckermeister drinnen bemerkte. Sofort kam er raus und meinte, er würde schnell vorne den Laden öffnen. Dieser war total süß, mit einem Riesenangebot an sehr günstigen, leckeren Bizcochos und süßen Teilchen. Das Tollste war aber, dass, als ich von meinem Bäckerei-Hintergrund erzählte, alle anwesenden Angestellten mir ganz stolz eine Backstubenführung gaben und ich alle Maschinen und die Bäcker im Einsatz fotografieren durfte. Mit Cecilia, der Verkäuferin habe ich immer noch Email-Kontakt und wir schicken uns Fotos von deutschen und uruguayischen Bäckereien und Backwaren. Als ich am Freitagabend wieder durch Colonia kam, schaute ich nochmal vorbei und wurde von der Bäckersfrau ins Wohnzimmer eingeladen. Als ich dort zwischen Brotsäcken sitzend mit Oma, Mutter und Baby der Bäckersfamilie das Fußballspiel Uruguay-Chile anschaute, kam ich mir wieder ein bisschen so vor, als würde ich gerade einen besonders uruguayischen Moment erleben


























Hey Sophie,
toller Blog bin schwer beeindruckt! Super detailierte Berichte. Ich habe das Gefühl ich brauche Südamerika ja gar nicht mehr besuchen, da ich durch deinen Blog ja ausgezeichnet informiert bin. Mir gehts hier blendend in Nord-Amerika ich nutze die schönen Tage hier zum surfen etc. bin schon ein paar mal von Delfinen und anderen „Meeresungeheuern“ erschreckt worden (Gott sei Dank noch kein Hai gesehen ;)). Studium passt auch alles und langsam fällt es mir schwerer in deutsch zu schreiben als in englisch (unschwer zu erkennen an diversen Ausdruck, Grammatik, Rechtschreib und Zeichenfehler in diesem Kommentar).
Sobald das Semester hier vorbei ist werde ich noch mit ein paar Freunden einen Roadtrip durch Süd-West USA machen und San Francisco, Los Angeles, San Diego, Las Vegas und Natzionalparks anschauen. Ich wünsche dir weiterhin viel Spaß und viele gute Erfahrungen!!!
Grüße aus Isla Vista
Alex
Hey Alex,
danke, aber ich glaube, Südamerika ist trotzdem noch eine Reise wert:)
Klingt ja gut, bei dir. Bei der Reiseroute werde ich ja fast neidisch, aber ich habe zum Glück zwischen Mitte Dezember und Januar auch einen Monat frei zum Reisen. Wir haben vor über Argentinien nach Chile zu reisen.
Dir auch weiterhin viel Spaß in Kalifornien,
Sophie