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Mein Heimatland

Zwischenbilanz: Wie ein Stück Knete!

In weniger als einem Monat lebe ich seit einem halben Jahr in Bulgarien. Höchste Zeit für eine Zwischenbilanz, insbesondere was meine Arbeit am Fremdsprachengymnasium betrifft. Seit dem letzten Eintrag ist eine etwas andere Vorweihnachtszeit vergangen, ein kurzer, aber schöner Besuch zu Hause, ein ganz besonderes Silvester in Sofia, aber auch eine Zeit in der man in von Wahlkampf und parteitaktischen Erwägungen geprägten Debatten Europas Grenzen zu erkennen bekam.

Auch für unsere Schule ist es ein ereignisreiches Jahr. Heute wurde im Theater der Gemeinde auf eine beeindruckende Art und Weise 55-jähriges Jubiläum gefeiert. Nun kann ich das allgemein bekannte „Die Bulgaren feiern gern das Leben!“ mit eigenen Erlebnissen absolut bejahen!

Was als kleines, russisches Gymnasium anfing, ist heute ein unentbehrlicher Teil des Schulnetzes in Veliko Tarnovo. Unter anderem, weil nicht wenige Schüler in der dritten Generation an unserem Fremdsprachengymnasium unterrichtet werden.

Nach wie vor gefällt es mir sehr, dass ich meinen Alltag fast komplett selbst gestalten kann. In der Zwischenzeit hat mich dieser jedoch etwas eingeholt. Ich plane nicht mehr jede Unterrichtsstunde bis ins kleinste Detail und versuche auch nicht krampfhaft, jeden Aspekt meines Unterrichtskonzepts so spannend wie möglich auszubauen. Pure Ernüchterung. Was auf mangelnde Motivation schließen lässt, ist eher das Ankommen im realen Schulalltag. Surprise, surprise, der „Lehrplan“ ist lang und die Zeit knapp, da bleibt nicht besonders viel Spielraum für abwechslungsreiche Methoden. So kommt es vor, dass ich mit meinen Nachhilfeschülern Phonetik übe und mit Ihnen beispielsweise Tabellen zu flektierbaren und nicht flektierbaren Wortarten erstelle. Oder Klassensätze Erörterungen korrigiere und Fehleranalysen schreibe. Tja, da müssen die gesellschaftspolitischen Projektideen und Einheiten halt warten!

Trotzdem habe ich Möglichkeiten, eigene Ideen umzusetzen. Nur sind eben die Vorstellungen der jeweiligen Klassenlehrer klarer als am Anfang formuliert. Was ich schätze, denn das erleichtert so Einiges. Auch nutze ich meine Theater AG als „Ventil“, um Dinge auszuprobieren, für die im Unterricht die Zeit fehlt.

Insgesamt wird meine Arbeit an der Schule in den letzten Wochen zum Teil nicht meinen eigenen Ansprüchen gerecht. Wobei ich doch noch nie kritisiert wurde und ständig mit positivem Lob überhäuft werde. Was auch an der unglaublich hohen Fehlertoleranz vieler Bulgaren in meinem Umfeld liegt. Und wofür ich Ihnen dankbar bin.

Und da wären wir, wie ich finde, am zweiten negativen Aspekt (meiner Arbeit). Ein Punkt, an dem ich – unter Umständen aus Naivität – vehementes Unverständnis empfinde.

Denn schaut man sich den Notenspiegel der meisten Klassen an, springt einem „sehr gut“ als inflationär gebrauchter Ausdruck förmlich ins Auge. Ich verstehe nicht, warum man so wenig auf Leistung setzt. In Bulgarien haben Kultur und Bildung eine hohe gesellschaftliche Priorität. Und es ist keineswegs so, dass die Schüler wenig leisten. Im Allgemeinen haben Viele nachmittags noch Privatunterricht und die meisten Schüler erreichen bis zum Ende ihrer Schullaufbahn ein hervorragendes sprachliches Niveau in Ihrer Fremdsprache. Und vor allem bleiben diese Schüler über die Jahre hinweg motiviert. Chapeau!

Viele aber auch nicht, was eventuell auch an der ungerechten Notenvergabe liegt. Hier wird Leistungsdenken und Ehrgeiz, was meiner Meinung nach bis zu einem bestimmten Grad positiv ist, im Keim erstickt. Wobei dies keineswegs „nur“ als Kritik an die Lehrkräfte verstanden werden soll. Geschweige denn überhaupt als Kritik. Denn wie ich hier schon oft betont habe, steht es mir nicht zu, Schlussfolgerungen zu ziehen oder gar zu kritisieren. Schließlich ist es ein vielschichtiges Problem, was nicht pauschal begründet werden kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass ungerechte Noten auch in Deutschland ein allgegenwärtiges Problem sind.

Was dies betrifft lerne ich, mit einem deutlich anderen, als den mir vertrautem Bewertungsmaßstab umzugehen und mich anzupassen. Und wer weiß, vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht …

Auch verstehe ich nicht, weshalb man sich mit gewissen Dingen einfach abfindet. Sich zu fügen  gehört im Leben dazu und verkompliziert Dinge nicht unnötig. Doch wenn (negative) Dinge und vor allem Verhaltensweisen als normal und somit unveränderbar abgetan werden, wie z.B. die Tatsache, dass Schüler des Abschlussjahrgangs es nicht mehr für nötig halten, zu bestimmten Unterrichtsstunden zu kommen, kann ich das bei bestem Willen nicht nachvollziehen.

Bei so viel Unverständnis komme ich mir interkulturell ziemlich inkompetent vor. Einfach weil ich gewisse Dinge – unabhängig davon, wie lange ich nachdenke – nicht nachvollziehen bzw. nachempfinden kann. Aber noch ist ja erst Halbzeit und ich werde mir größte Mühe geben, Kratzer in die Oberfläche meines Bulgarienbildes zu machen. Nach all den kritischen Worten …

… muss ich dann doch nochmal betonen, dass ich mit der Entscheidung, mit „kulturweit“ ein FSJ abzuleisten, mit Bulgarien als Einsatzland und vor allem meiner Einsatzstelle so glücklich bin, dass ich hin und wieder unbewusst meinen Alltag sogar ein bisschen romantisiere. може би. Überhaupt lerne ich sehr viel und genieße meine Zeit hier in vollen Zügen (oder Bussen 😉 ), sodass ich mich wie ein Stück Knete fühle.  Was mir vor kurzer Zeit noch total fremd ist, erscheint mir im nächsten Moment sympathisch. Meine Meinung über bestimmte Dinge ist von noch so kleinen Einflüssen veränderbar. Leicht verformbar und ständig im Wandel. Wie Knete eben.

In diesem Sinne und auf einen mindestens genauso guten zweiten Teil meines FSJ,

Sonem

„kulturweit und Ich“

Dass man mich im Ausland vielleicht nicht als Deutsche wahrnimmt, war mir nicht immer bewusst. Ich bin im toleranten und sehr bunten Hamburg aufgewachsen und es gab nie einen Anlass, der mich an mein Selbstbild zweifeln ließ. Erst als ich die Einladung zu einem Bewerbungsgespräch beim PAD erhielt, habe ich angefangen, mich konkreter mit meinem Hintergrund und der zukünftigen Rolle als „Kulturbotschafter“ auseinanderzusetzen. Ich weiß, dass mein Äußeres nicht dem Zerrbild einer blonden, im Stechschritt marschierenden Walküre entspricht. Nicht einschätzen zu können, inwiefern ich die Wurzeln meiner Eltern thematisieren muss und welches Wissen ich über Deutschland und seine gesellschaftliche Zusammensetzung als gegeben voraussetzen darf, löste in gewisser Hinsicht ein beklemmendes Gefühl aus.

Doch glücklicherweise habe ich feststellen dürfen, dass insbesondere in der Schule klar ist, dass Deutschland seit Jahrzehnten ein buntes Einwanderungsland ist. Viele Schüler setzen sich gezielt mit Deutschland und nahezu all den damit verbundenen gesellschaftlichen Fragesstellungen auseinander, da eine erhebliche Zahl in Deutschland studieren und leben möchte.

Vor einigen Tagen hatten wir im DSD-Raum Besuch. Die Tochter einer Mitarbeiterin der Schule kam mit ihrem Freund (A) aus München. Nachdem ich den beiden mit dem Satz „Das ist unsere Freiwillige aus Deutschland“ vorgestellt wurde, grinste mich A an und behauptete charmant „Ooh, da merkt man bereits an der Aussprache, dass du sehr gut deutsch sprichst.“ Irritation. Ich wiederholte bemüht freundlich „Ich bin Deutsche.“ Plötzlich sag A verwirrt aus. Da machte man jemandem schon ein Kompliment und bekam nicht mal ein Danke! Nach einer kurzen, wortkargen Pause sagte er hartnäckig: „Aber ‚Volksdeutsche‘ bist du ja nicht, oder?“

Fragend, ob er nicht zugehört hatte oder es nicht wahrhaben wollte, fragte ich ihn, was denn „Volksdeutsche“ seien. Da seine Definition Expressionen wie „gleiches Blut“ etc. einschloß, erspare ich euch die Taktlosigkeit. „Du hast auf dem Vorbereitungsseminar gelernt, wie du mit solch einer Situation umzugehen hast!“ – dachte ich mir.

Ich erwarte nicht, dass man mich zwangsläufig als Deutsche wahrnimmt. Insbesondere bei meinem Namen … aber einen historischen Ausdruck in einem völlig falschen Kontext zu missbrauchen, ist krötig. Besonders schade, wenn es junge Leute wie A (max. 30 Jahre alt) sind, die durch ein Mangel an Geschichtsbewusstsein auffallen. Es stellen sich mir einige Fragen. Ist ihm in München denn noch nie ein nichtblonder Deutscher über den Weg gelaufen?

Da A aber im Laufe des „Gesprächs“ auch Plattitüden wie „Mit Roma kann man ja auch einfach nicht friedlich zusammenleben!“ gebrauchte, verzichtete auf weitere Aufklärungsversuche mit dem Satz: „Ich seh schon, mit Ihnen könnte ich mich gut streiten.“ Aber besser, man einigt sich darauf, dass man sich uneinig ist. 😉

Auch möchte ich vor allem solche Erfahrungen nicht missen und bin im Nachhinein froh, denn sie machen einem klar, wie man von Fremden wahrgenommen wird. – Und das hilft enorm, sich seiner selbst bewusst zu werden.

Pozdravi,

Sonem

 

*Als „Volksdeutsche“ bezeichnete man außerhalb Deutschlands und Österreichs lebende „ethnische Deutsche“ (besonders in ost- und südosteuropäischen Ländern bis 1945). (Duden)