Archiv des Autors: Sonem Nangpal

Abschiedsworte.

So viel Zeit ist bereits vergangen, seit ich am 03. August mit glücklicher und erwartungsvoller aber auch sehr trauriger, schwermütiger Stimmung und einem schmerzenden Fuß das Flugzeug Richtung Hamburg bestiegen habe. Trotzdem möchte ich mich noch von meinem bulgarischen Zuhause angemessen verabschieden.

Während ich diese Worte tippe, kommen Bilder in meinem Kopf hoch, die sich dort eingebrannt haben und ein ganz bestimmtes, positives Gefühl auslösen. Ungeachtet der Erinnerungen und der überschäumenden Freude die aufkommt, wenn ich an mein „kulturweit“-Jahr in Bulgarien denke, ist für mich persönlich der größte Gewinn, dass ich nun einen unerschöpflichen Drang habe, ins kalte Wasser zu spingen. Denn die letzten 12 Monate haben gezeigt, dass es sich gelohnt hat und immer lohnen wird, offen zu sein. Mut zu haben, sich seinen Vorurteilen zu stellen und sich einzulassen – auf ganz unterschiedliche Menschen und ihren Abenteuern.

Also liebes Veliko Tarnovo,

vielen Dank für alles. Du hast mir gezeigt, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, zu denen es sich lohnt eine Beziehung aufzubauen. Einige dieser Beziehungen haben mich bereichert, sind mir wichtig und ich möchte sie noch lange erhalten. Und vor allem hast du mir bewiesen, dass ich mich an vielen Orten zuhause fühlen kann. Vor meiner Zeit in Bulgarien hätte ich mir nur sehr schwer vorstellen können, innerhalb Deutschlands umzuziehen. Du hast mich verändert und mich ein­schnei­dend geprägt. Es ist, als hättest du mich eine Fremdsprache gelehrt, die niemand um mich herum versteht.

Auf ein baldiges Wiedersehen!

Sonem

– Yes, I did it my way.

While Creating Happiness in Veliko Tarnovo

„Ich glaube an den kulturellen Austausch. Und ich glaube, dass es nicht nur eine Gemeinschaft der Kartoffeln und Tomaten geben darf, sondern es muss auch den Austausch für die Arbeiter der Kunst geben.“ – Melina Mercouri

„Kulturhauptstadt Europas“ ist eine Initiative der EU. Die Benennung als sogenannte Kulturhauptstadt soll dazu beitragen, den Reichtum, die Vielfalt, aber auch die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa zu akzentuieren und ein besseres Verständnis der Bürger Europas füreinander zu ermöglichen.

Initiiert wurde das Ganze 1985 von der damaligen, griechischen Kulturministerin Melina Mercouri – aus der hauptsächlich mit Agrarsubventionen beschäftigten Gemeinschaft sollte eine Kulturgemeinschaft werden.

Dieses Jahr wurde eine bulgarische und eine italienische Stadt ausgewählt. Auch Veliko Tarnovo bewarb sich. Natürlich wurde eigenes hierfür ein Komittee und ein sogenanntes „Project Office“ eingerichtet, wo ich ca. vier Monate neben der Schule mitarbeiten durfte.

Mittlerweile ist die Ernennung ein großer Wirtschaftsfaktor, mit viel medialer Aufmerksamkeit. Sie mobilisiert ganze Regionen und hat Ausmaße angenommen, die damals undenkbar gewesen wären.

Am 9. Mai beispielsweise, passend zum sogenannten Tag der EU gab es in Veliko Tarnovo ein großes, interkulturelles Picknick. Es war sehr schön zu sehen, wie eine ganze Nachbarschaft mobilisiert wurde. Viele Menschen haben etwas beigetragen, sich in völlig unterschiedlichen Formen engagiert. Es geht voran und vieles ist noch immer in Bewegung. Bleibt nur die Hoffnung, dass die Bewerbung zur Kulturhauptsatdt Europas in den jeweiligen Städten die Entwicklung eines zivilgesellschaftlichen Bewusstseins anstößt und fördert.

Der Workshop - Kasten

 

 

 

 

Gewonnen hat allerdings die zweitgrößte Stadt Bulgariens, – Plovdiv. Glückwunsch!

PS: „Maina“ ist im plovdiver Dialekt eine positive Bezeichnung für Freunde.

“Open Heart” – Festival

Dieses Wochenende fand hier das 11.  Roma – Children – Festival „Open Heart“ statt. Organisiert wurde das Ganze von der NGO „Center Amalipe„, wo ich seit einiger Zeit nebenbei als Freiwillige arbeite. Eines der Hauptziele von Amalipe ist, den interkulturellen Dialog zwischen der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung und den Roma zu fördern, indem Kinder und Jugendliche über Antiziganismus aufgeklärt werden. Durch Bildungsarbeit versucht Amalipe, junge Menschen für wichtige Themen wie Diskriminierung, Vorurteile und Stereotypisierung, Toleranz, Völkerverständigung und Zivilcourage zu sensibilisieren.

Zahlreiche Schulen aus ganz Bulgarien waren eingeladen, vom 6. – 8. Juni ihre Arbeitsergebnisse aus diesem Schuljahr zu präsentieren, wobei der Schwerpunkt auf mul­ti­eth­nischer Folklore lag. Es wurde viel gesungen, getanzt und noch mehr gefeiert! Das Festival bot und bietet diesen Schülern einen Rahmen, ihre kreativen Talente zu präsentieren und strebt nicht zuletzt auch an, insbesondere Roma – Kinder langfristig zum Schulbesuch zu motivieren.

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Sehr schön fand ich die symbolhafte Aufführung einer Mädchengruppe. Jeweils vier Mädchen waren in bulgarischer Volkstracht, der Narodna Nosija gekleidet und die vier anderen in traditioneller Roma – Tracht. Zunächst tanzten die Bulgarinnen ganz traditionell, dann die Romnija, bis sie in einen gemeinsamen Kreistanz wechselten.

Auch kooperierende „Youth is Tolerance“ – Partnerorganisationen aus Griechenland, Mazedonien, Serbien, Rumänien und Ungarn waren dabei. Neben dem Bühnenprogramm gab es auch zahlreiche Stände, Workshops, Ausstellungen von Schülern.

 

Meine Aufgabe bestand unter anderem darin, Kinder anzumalen! 😀 Was ich natürlich mit viel Vergnügen gemacht habe – letztendlich waren alle sehr zufrieden, obwohl ich Sie größtenteils nicht verstanden habe und teils nicht wusste, wie man bestimmte Buchstaben malt. Nichtsdestotrotz war es ein Riesenspaß!

 

     

     

 

Es war ein unglaublich tolles, im Wahrsten Sinne des Wortes kunterbuntes und prägendes Wochenende, was meine Erwartungen in vielerlei Hinsicht übertroffen hat, – besonders, weil ich während der letzten Wochen selten an einen erfolgreichen Ablauf geglaubt habe! Vor allem aber habe zivilgesellschaftliches Engagement in einem Ausmaß erlebt, wie ich es in Bulgarien nicht erwartet hätte. Schön, dass ich eines Besseren belehrt wurde.

Und mein Motivationstief, was sich für gewöhnlich bei Wochenendarbeit einstellt, kam diesmal selbstverständlich nicht. Ich bin euphorisch durch das Wochenende gedüst. Schließlich wurde und wird in Veliko Tarnovo jedes Jahr eine bewusste und aktive Auseinandersetzung gefördert. Abschließend, ein Zitat unserer Gruppenleiterin: „Only this festival makes you feel like dead and be happy about that.“ Wie wahr.

Anything is possible on a train …

“Anything is possible on a train: a great meal, a binge, a visit from card players, an intrigue, a good night’s sleep, and strangers‘ monologues framed like Russian short stories.” – Paul Theroux

– 6. April 2014: Ich springe gut gelaunt, aber körperlich total erschöpft aus dem Nachtzug. In diesem Moment bin ich richtig froh, wieder in Veliko Tarnovo zu sein. Das Licht, der Bahnhof, das Gebirge hinter mir – ich fühle mich wohl in dieser vertrauten Umgebung. Und das, obwohl es eine schöne Fahrt von Bukarest aus war – durch Rapsfelder, mit Zwischenstopps an abgelegenen Bahnhöfen, inmitten von Güterzügen. Das Schönste an der Fahrt aber war, dass wir schlafen konnten. Ich kann mich nicht daran erinnern, je über die Möglichkeit liegen zu können, glücklicher gewesen zu sein. Denn bevor wir in diesen Zug gestiegen waren, hatten wir mehr als sechs Stunden in einer rumänischen Bahnhofshalle verbracht. Wartend.

Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen all der (anfänglichen) Schwierigkeiten hatten wir viele tolle gemeinsame Momente, über die wir sicherlich noch lange lachen werden.

– Zum Beispiel über unsere erste gemeinsame Zugfahrt durch die malerischen Landschaften Bulgariens. Meine Freunde, die Anfang April zu Besuch waren, nahmen an, dass man mit dem Zug schneller von Sofia nach Veliko Tarnovo käme … später waren sie ziemlich verwundert, als ich ihnen erzählte, dass wir nun sieben Stunden und somit vier Stunden länger fahren würden. Ich hingegen war erstaunt, als ich erfuhr, dass für unseren Zug eine Sitzplatzreservierung notwendig gewesen wäre. Die folgenden Stunden verbrachten wir teils stehend, teils vor der defekten Toilette auf den Koffern hockend. Nach einer Weile lud uns eine Familie in ihr Abteil ein, wo wir dann zusammen Karten spielten. Diese Zugfahrt wird uns allen noch lange in Erinnerung bleiben.

Mir wird in der letzten Zeit immer häufiger bewusst, dass ich viele nette und großzügige Menschen kennengelernt habe. (Fremde) Menschen, die mir mit vermeintlichen Kleinigkeiten, aber besonderen Gesten sehr geholfen haben. Ich hoffe, irgendwann die Chance zu erhalten, anderen das gleiche zurückzugeben. Einfach, weil ich in diesen Momenten unglaublich glücklich über jegliche Hilfe war.

Wie beispielsweise der Fahrkartenkontrolleur in Rumänien, der uns unsere Erschöpfung mit Sicherheit ansah, uns eine Schlafkabine zur Verfügung stellte und noch dazu Kissen brachte.

 

Am meisten begeistert waren Someia und Jörg vom alten Martenitza – Brauch, der am 1. März gefeiert wird. Man schenkt sich gegenseitig rote – weiße (rot für rote Wangen und weiß für weißes Haar und somit ein hohes Alter) Martenitzi (Armbänder), wünscht sich „Честита Баба Марта“ und trägt diese Bändchen so lange, bis man ein „Frühlingszeichen“ sieht – einen blühenden Baum, einen Storch oder eine Schwalbe. Sobald man eins dieser drei Dinge gesehen hat, spätestens aber zum 1. April, hängt man seine Armbänder an einen Ast.

 

Ein typischer Verkaufsstand mit Martenitzi

Grenzenlos Glücklich

Nein, diesmal geht es nicht um mich und mein Wohlergehen! – Sondern um meine Arbeit im Rahmen eines Projekts mit der 9. Klasse, welches 2012 in Ungarn entstanden ist. Dabei setzen sich junge Menschen auf der ganzen Welt mit dem Begriff „Glück“ auseinander und tragen zur Entstehung eines bunten Gesamtwerkes bei.

Hier ein paar ausgewählte Ergebnisse:

Danimir Dimov Silvena AngelovaIMG_20140218_114933~2 Vladena Stoimenova

 Glückliche Grüße,

Sonem

 

* Danke an Danimir Dimov (Bild 1), Silvena Angelova (Bild 2), Silvia Hristanova (Bild 3) und Vladena Stoimenova (Bild 4).

Eindrücke aus Istanbul.

7 Tage, 1001 Nacht … manchmal reichen auch unzählige Fotos nicht, um das Erlebte und das damit verbundene, ganz bestimmte Gefühl zum Ausdruck zu bringen. Trotzdem:

Teşekkür, für die wunderbaren Momente.

Zwischen Patriotismus und Nationalismus

„Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“ (Johannes Rau)

Demnach ist an Patriotismus nichts auszusetzen. Trotzdem sind wir Deutschen diesem gegenüber sehr skeptisch gesinnt. Die Frage, die sich unter anderem stellt, ist, ob Vaterlandsliebe wirklich – wie so oft behauptet wird – die weitere Entfaltung der europäischen Idee erschwert?

Laut Daniela Mikhaylowa, Vorsitzende der Initiative für Chancengleichheit in Sofia, nimmt der Nationalismus in Bulgarien zu. Dabei war Bulgarien lange ein Paradebeispiel für ethnische Toleranz. Im Mai 2011 lobte UN – Generalsekretär Ban Ki-moon Bulgarien als Beispiel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen auf dem Balkan. Seine Rede beendete er mit „I think that all of you have a great reason to be proud of being Bulgarian […].“ Abgesehen vom allgegenwärtigem Antiziganismus kann ich dem zustimmen.

Viele Bulgaren sind zurecht stolz, während des 2. Weltkriegs die ca. 50.000 bulgarischen Juden nicht an das NS-Deutschland ausgeliefert zu haben. Andere, in diesem Kontext dunklere Kapitel der bulgarischen Staatsgeschichte werden jedoch geleugnet, – was auf eine verzerrte Darstellung und Rhetorik schließen lässt.

Andrerseits: Nach dem Ende des Sozialismus 1989 wurde ein gewaltsamer Konflikt zwischen der slawischen Mehrheit und der türkischen Minderheit vermieden. Die türkische Minderheit erhielt die ihr zustehenden Bürgerrechte und gründete ihre eigene Partei „Движение за права и свободи“ (Bewegung für Rechte und Freiheiten).

Heute ist es ethnisch angespannter, denn der Wunsch nach einer monoethischen Bevölkerungsstruktur nimmt immer weiter zu. Was vor allem an der tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise des Landes liegt. Kann es sein, dass eine unmittelbare Konsequenz von gelebtem Patriotismus vielleicht sogar Fremdenfeindlichkeit ist? Birgt Patriotismus potenziell deshalb stets eine gewisse Gefahr mit sich, weil es in schwierigen Zeiten oft überschwappen kann? Wie stark ist das Akzeptieren der vermeintlich fremden (?) Mitmenschen an Wohlstand und Stabilität gekoppelt?

Wie ist es mit unreflektierter, öffentlich zur Schau getragener Vaterlandsliebe? Wobei es mir selbstverständlich nicht zusteht, darüber zu urteilen, inwieweit Reflexion greift. Außerdem gehört jene Form von Patriotismus, wörtlich gesehen einfach mal Flagge zu zeigen, in vielen Ländern einfach zum guten Ton. Einige Schüler beispielsweise begründen die an ihre Federtasche gepinte Flagge mit: „Weil ich Bulgare bin!“

Wenn ich in Veliko Tarnovo die Hauptstraße entlanglaufe, kommt kurz vor der bekannten Ulitsa Vasil Lewski ein Abschnitt, in dem man quasi in ein Flaggenmeer taucht. Anscheinend nur auf Wunsch des Gemeinderates hin.

Andrerseits ist es so, dass ich im Gespräch mit Bulgaren über einen eventuellen Patriotismus oft ein verwundertes „Gibt es einen solchen?!“ zu hören bekomme. Der in Österreich lebende Journalist Todor Ovtcharov behauptet, Patriotismus sei ein für ihn fremdes Gefühl. Außerdem glaube er nicht, dass man auf den Ort, wo man geboren wurde, stolz sein könne, da man diese Entscheidung nicht selber getroffen habe. Natürlich ist der Begriff „Heimat“ auch pragmatisch behaftet. Aber ich bezweifle, dass man Emotionen, die man mit seiner Heimat verbindet, mit einer solchen Nüchternheit betrachten kann. Ovtcharov zufolge dürfe man sich aus dem gleichen Grund auch nicht für seine Herkunft schämen.

„Es ist mir unerklärlich, wieso es Leute gibt, die ihr Land auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen, um sich dann im Ausland gegen die Brust zu prahlen und zu behaupten, dass ihr Heimat das Paradies auf Erden. […]“

 

Den meisten Bulgaren ist das Gefühl von Patriotismus nicht fremd, denn sie leben ihn gern. Was auch völlig in Ordnung ist, solange es nur dabei bleibt. Und so lange der sogenannte „Square of Tolerance“ in Sofia, bestehend aus einer katholischen Kathedrale, einer Moschee, einer Synagoge und einer orthodoxen Kirche bleibt, was es ist … und zwar ein Zeichen dafür, dass seit Jahrhunderten ethnische und religiöse Vielfalt in Bulgarien völlig normal ist.

Quellen:

– Konstantin Sachariew: Magisterarbeit: Nation und Minderheit in Bulgarien, Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock, 2006, S. 25 ff.

Ulrich Büchsenschütz: Nationalismus und Demokratie in Bulgarien seit 1989. In: Egbert Jahn (Hrsg.): Nationalismus im spät- und postkommunistischen Europa. 2: Nationalismus in den Nationalstaaten, Nomos, 2009, S. 614.

Zwischenbilanz: Wie ein Stück Knete!

In weniger als einem Monat lebe ich seit einem halben Jahr in Bulgarien. Höchste Zeit für eine Zwischenbilanz, insbesondere was meine Arbeit am Fremdsprachengymnasium betrifft. Seit dem letzten Eintrag ist eine etwas andere Vorweihnachtszeit vergangen, ein kurzer, aber schöner Besuch zu Hause, ein ganz besonderes Silvester in Sofia, aber auch eine Zeit in der man in von Wahlkampf und parteitaktischen Erwägungen geprägten Debatten Europas Grenzen zu erkennen bekam.

Auch für unsere Schule ist es ein ereignisreiches Jahr. Heute wurde im Theater der Gemeinde auf eine beeindruckende Art und Weise 55-jähriges Jubiläum gefeiert. Nun kann ich das allgemein bekannte „Die Bulgaren feiern gern das Leben!“ mit eigenen Erlebnissen absolut bejahen!

Was als kleines, russisches Gymnasium anfing, ist heute ein unentbehrlicher Teil des Schulnetzes in Veliko Tarnovo. Unter anderem, weil nicht wenige Schüler in der dritten Generation an unserem Fremdsprachengymnasium unterrichtet werden.

Nach wie vor gefällt es mir sehr, dass ich meinen Alltag fast komplett selbst gestalten kann. In der Zwischenzeit hat mich dieser jedoch etwas eingeholt. Ich plane nicht mehr jede Unterrichtsstunde bis ins kleinste Detail und versuche auch nicht krampfhaft, jeden Aspekt meines Unterrichtskonzepts so spannend wie möglich auszubauen. Pure Ernüchterung. Was auf mangelnde Motivation schließen lässt, ist eher das Ankommen im realen Schulalltag. Surprise, surprise, der „Lehrplan“ ist lang und die Zeit knapp, da bleibt nicht besonders viel Spielraum für abwechslungsreiche Methoden. So kommt es vor, dass ich mit meinen Nachhilfeschülern Phonetik übe und mit Ihnen beispielsweise Tabellen zu flektierbaren und nicht flektierbaren Wortarten erstelle. Oder Klassensätze Erörterungen korrigiere und Fehleranalysen schreibe. Tja, da müssen die gesellschaftspolitischen Projektideen und Einheiten halt warten!

Trotzdem habe ich Möglichkeiten, eigene Ideen umzusetzen. Nur sind eben die Vorstellungen der jeweiligen Klassenlehrer klarer als am Anfang formuliert. Was ich schätze, denn das erleichtert so Einiges. Auch nutze ich meine Theater AG als „Ventil“, um Dinge auszuprobieren, für die im Unterricht die Zeit fehlt.

Insgesamt wird meine Arbeit an der Schule in den letzten Wochen zum Teil nicht meinen eigenen Ansprüchen gerecht. Wobei ich doch noch nie kritisiert wurde und ständig mit positivem Lob überhäuft werde. Was auch an der unglaublich hohen Fehlertoleranz vieler Bulgaren in meinem Umfeld liegt. Und wofür ich Ihnen dankbar bin.

Und da wären wir, wie ich finde, am zweiten negativen Aspekt (meiner Arbeit). Ein Punkt, an dem ich – unter Umständen aus Naivität – vehementes Unverständnis empfinde.

Denn schaut man sich den Notenspiegel der meisten Klassen an, springt einem „sehr gut“ als inflationär gebrauchter Ausdruck förmlich ins Auge. Ich verstehe nicht, warum man so wenig auf Leistung setzt. In Bulgarien haben Kultur und Bildung eine hohe gesellschaftliche Priorität. Und es ist keineswegs so, dass die Schüler wenig leisten. Im Allgemeinen haben Viele nachmittags noch Privatunterricht und die meisten Schüler erreichen bis zum Ende ihrer Schullaufbahn ein hervorragendes sprachliches Niveau in Ihrer Fremdsprache. Und vor allem bleiben diese Schüler über die Jahre hinweg motiviert. Chapeau!

Viele aber auch nicht, was eventuell auch an der ungerechten Notenvergabe liegt. Hier wird Leistungsdenken und Ehrgeiz, was meiner Meinung nach bis zu einem bestimmten Grad positiv ist, im Keim erstickt. Wobei dies keineswegs „nur“ als Kritik an die Lehrkräfte verstanden werden soll. Geschweige denn überhaupt als Kritik. Denn wie ich hier schon oft betont habe, steht es mir nicht zu, Schlussfolgerungen zu ziehen oder gar zu kritisieren. Schließlich ist es ein vielschichtiges Problem, was nicht pauschal begründet werden kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass ungerechte Noten auch in Deutschland ein allgegenwärtiges Problem sind.

Was dies betrifft lerne ich, mit einem deutlich anderen, als den mir vertrautem Bewertungsmaßstab umzugehen und mich anzupassen. Und wer weiß, vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht …

Auch verstehe ich nicht, weshalb man sich mit gewissen Dingen einfach abfindet. Sich zu fügen  gehört im Leben dazu und verkompliziert Dinge nicht unnötig. Doch wenn (negative) Dinge und vor allem Verhaltensweisen als normal und somit unveränderbar abgetan werden, wie z.B. die Tatsache, dass Schüler des Abschlussjahrgangs es nicht mehr für nötig halten, zu bestimmten Unterrichtsstunden zu kommen, kann ich das bei bestem Willen nicht nachvollziehen.

Bei so viel Unverständnis komme ich mir interkulturell ziemlich inkompetent vor. Einfach weil ich gewisse Dinge – unabhängig davon, wie lange ich nachdenke – nicht nachvollziehen bzw. nachempfinden kann. Aber noch ist ja erst Halbzeit und ich werde mir größte Mühe geben, Kratzer in die Oberfläche meines Bulgarienbildes zu machen. Nach all den kritischen Worten …

… muss ich dann doch nochmal betonen, dass ich mit der Entscheidung, mit „kulturweit“ ein FSJ abzuleisten, mit Bulgarien als Einsatzland und vor allem meiner Einsatzstelle so glücklich bin, dass ich hin und wieder unbewusst meinen Alltag sogar ein bisschen romantisiere. може би. Überhaupt lerne ich sehr viel und genieße meine Zeit hier in vollen Zügen (oder Bussen 😉 ), sodass ich mich wie ein Stück Knete fühle.  Was mir vor kurzer Zeit noch total fremd ist, erscheint mir im nächsten Moment sympathisch. Meine Meinung über bestimmte Dinge ist von noch so kleinen Einflüssen veränderbar. Leicht verformbar und ständig im Wandel. Wie Knete eben.

In diesem Sinne und auf einen mindestens genauso guten zweiten Teil meines FSJ,

Sonem

Aus 6 mach 12

Es ist entschieden! Ich darf meinen Freiwilligendienst verlängern. 😀

– Nach Glückssprüngen, Momenten der Ernüchterung, vermeintlich selbstbestimmtem, sorgfältigem Abwägen und langem Hin- und Her habe ich mich nun entschieden, dass ich die Chance annehme. Spätestens nach spontanem Gruppenkuscheln heute weiß ich, dass es die absolut richtige Entscheidung war. In diesem Kontext möchte ich Carina vom „Pink – Compass“ zitieren: „[…] aus dem Drang auszubrechen ist nun eine Art Zwang in Bewegung zu bleiben geworden.“

 

Noemvri.

Der Titel dieses Eintrags lässt einen Poetischen Text vermuten. Was euch wirklich erwartet, ist eine Zusammenfassung meines zweiten vollen Monats hier. Für alle, die nur an einem kurzen Update interessiert sind: ich erlebe hier nicht nur immer noch, sondern oft und öfter Dinge, die mich dazu bringen wie ein Honigkuchenpferd grinsend durch die Straßen zu laufen. Insofern gehts mir super!

Mein 19. Geburtstag

In der Schule wurde ich charmant mit „Kind, was ist nur los mit dir?“ oder „Du siehst ja sogar an deinem Geburtstag müde aus!“ begrüßt. Es stimmt, dass mein Schlafbedürfnis hier um ein Vielfaches zugenommen hat und als ich mit der versprochenen Torte in der Hand kurz vor Pausenende ins Lehrerzimmer gestolpert bin, sah ich mit Sicherheit nicht so aus … wie ein Geburtstagskind nunmal auszusehen hat! Kein Wunder, schließlich wurde an dem Morgen so geduscht:

Und dabei hatte ich nur wenige Tage zuvor mitbekommen, wie einem anderen Freiwilligen telefonisch mitgeteilt wurde, dass ihm für die nächsten drei Tage kein Wasser zur Verfügung stehe. Tja! Ein bisschen Mitleid hatte ich ja schon, aber wie gut, dass in meiner Stadt so etwas nicht vorkommt, dachte ich.

Anlässlich meines Geburtstags bekam ich von meinen lieben kulturweit – Bulgaren Besuch. Ich führte sie zwar ohne ausgetüftelten Plan, dafür aber hoffentlich inbrünstig genug durch meine bulgarische Heimat (?),- stets mit dem Ziel vor Augen, dass Veliko Tarnovo auf Marlenes Ranking über die schönsten Städte Bulgariens vor Plowdiw stehen muss.

Abends haben wir dann unter anderem einer einheimischen Rockband zugehört und kurz eine Chalga – Party mit unserer Anwesenheit vergnügt. Da dies meine erste Chalga- Party war, war ich zunächst ein bisschen überfordert von der Einlasskontrolle, der Atmosphäre, vom umherirrendem Laserlicht, welches in den Haaren der Frauen glitzerte, die ziemlich leicht bekleidet auf einem Podest tanzten. Eine charakteristische Eigenschaft des Chalga ist, dass angeblich mit den Werten jener kleinen Gruppe gespielt wird, die in bestimmter Hinsicht von den Folgen des Postsozialismus profitiert. In diesem Kontext möchte ich den in Österreich lebenden, bulgarischen Journalisten Todor Ovtcharov zitieren:

„Tschalga“ […] ist ein Begriff, der gleichzeitig Musik sowie Weltanschauung der dominierenden Subkultur auf der Balkanhalbinsel bezeichnet. Tschalga verbindet bulgarische, serbische, rumänische, griechische, türkische, arabische und Roma-Melodien mit den Standards der MTV-Popmusik aus den USA. […]

Nur wer blind ist, kann sagen, dass die „Tschalga“, egal ob in der Musik, im Lifestyle oder in der Politik in Bulgarien nicht allgegenwärtig ist. Manchmal kommt es mir vor, dass das Leben der meisten Bulgaren der letzten zwanzig Jahren einem „Tschalga“-Song ähnelt. Das heißt natürlich gar nicht, dass es nicht Leute gibt, die außerhalb dieser dominierenden Popkultur leben und kreativ sind. […]“

Wieder zuhause entdeckten wir ein überraschendes Talent. Wer hätte gedacht, dass wir einen  DJ unter uns haben! Am Sonntag wurde dann bei frühlingshaften Temperaturen und ohne Frühstück (das tut mir wirklich Leid!) der malerische Nordosten der Stadt mit seinen zahlreichen Kirchen erkundigt. Danke, für das tolle Wochenende!

Meine Arbeit …

… macht mir nach wie vor Freude! Und obwohl ich diesen Aspekt nicht häufig betone, lerne ich viel. Gestern habe ich beispielsweise gelernt, was eine „Reuse“ ist, dass man statt ruhelos auch „ahasverisch“ benutzen kann und dass auch „die“ Jogurt grammatikalisch richtig ist! Insofern hält auch das Korrigieren von Klassenarbeiten immer einen Grund zum Schmunzeln bereit.

Mittlerweile haben wir auch schon ein Ritual zu Stundenbeginn. Die Schüler drehen den Spieß einfach um und fragen, welches neue Wort ich auf Bulgarisch gelernt habe. Die ersten fünf Minuten werden dann erstmal mit der Korrektur meeiner Aussprache verbracht.

Was mein Freiwilligenprojekt betrifft, werde ich hoffentlich in Kooperation mit dem Verein „Amaro Drom e.V.“ den Umgang mit Minderheiten sowohl in Bulgarien, als auch in Deutschland thematisieren. Dieses Vorhaben besteht schon seit einiger Zeit, weiterentwickeln konnte ich die Idee während des Zwischenseminars in Rumänien, das in Sibiu (Hermannstadt) stattfand. Erster Stopp auf der Hinreise war das kleine Wien Osteuropas – Ruse an der Donau. Die Nacht wurde äußerst gemütlich bei zwei Engländern verbracht: Dank an Mandy und Marc! Gleich am nächsten Morgen ging es nach Bukarest – das Paris des Ostens. Mindestens, wie ich finde!

Zwischen dem Analysieren und dem Lösen von Problemen war genügend Raum für bereichernde Denkanstöße, Vorfreude auf das Konzert von dem Hamburger Künstler Nils Frevert, mehr oder weniger witzigen Wortspielen mit meinem Namen, Energizern …

Das inhaltliche Highlight war für mich ohne Zweifel das Hintergrundgespräch mit einem politischen Berater des ehemaligen Roma-Königs.

Besuch von Someia und Jörg

Ende des Monats bekam ich Besuch von zwei Freunden. Da die beiden mir nicht sagen konnten, an welchem der vier Busbahnhöfe sie angekommen waren, dauerte es etwas länger als ein bisschen, bis ich sie endlich in die Arme schließen konnte! Durch sie wurde ich an meine ersten Tage hier erinnert. Inzwischen ist eine gewisse Improvisation im Alltag für mich völlig selbstverständlich und stört mich keineswegs. Ganz im Gegenteil! Zu sehen, wie die beiden am Anfang damit haderten, löste ein merkwürdiges, aber vertrautes Gefühl aus.

Danke, an euch beiden! – Für die gefühlte Jahresration an Süßigkeiten, für den langersehnten neuen Roman von Ferdinand von Schirach und vor allem dafür, dass ihr nun Teil einer wunderbaren Zeit hier seid.

Erschöpft von den teils außer Kontrolle geratenen Schneeballschlachten und straffem Touri-Programm tagsüber ließen wir die Abende bei live gespielter Musik ausklingen.

Bei unserem Spaziergang durch den „Heiligen Wald“ Sveta Gora entdeckten wir einen Schneemann mit einem Hakenkreuz und anderen Merkwürdigkeiten. Dieser wurde natürlich kurzerhand verschönert. Aus dem Hakenkreuz wurde ein Herz und zu guter Letzt wurden ihm noch zwei Arme … ähh Äste angesteckt. Der heißt nun alle Menschen willkommen und umarmt sie!

In diesem Sinne,

Sonem.