Ein Reiseblog – so muss man diese zugegebenermaßen wenig umfangreiche Ansammlung von Berichten wohl ehrlicherweise nennen. Um wenigstens diesem Anspruch zu genügen, möchte ich auch von der letzten und längsten Reise nach Xinjiang, die westlichste Provinz Chinas, erzählen.
Auf unsere Ankunft in einer kaum auszuhaltenden Hitze folgte zunächst die Ernüchterung für Jingyi, Philipp, Jan Luis und mich: Statt exotischer Basare in Oasenstädten entlang der Seidenstraße hieß uns Ürümqi, die Provinzhauptstadt, mit dem uniformen und von Beton dominierten Stadtbild so vieler chinesischer Städte willkommen. Aufgrund großer Erdölvorkommen durchlebt die Stadt einen rasanten wirtschaftlichen Bedeutungszuwachs und lockt, dank Prämien von der chinesischen Regierung, viele Han-Chinesen an. Deren Zahl ist mittlerweile so groß, dass einige aus der hier traditionell ansässigen Volksgruppe der Uiguren gegen die drohende kulturelle Marginalisierung gewaltsam protestiert haben. Noch während unserer Reise sollten nach Angaben der chinesischen Nachrichtenagentur drei Aufständische den Tod finden.
Kehrt man Ürümqi den Rücken und durchquert das karge Land, so wird vor allem dessen Aridität deutlich. Tatsächlich ist dies der Ort der Erde, der am weitesten von einem Meer oder Ozean entfernt ist und so versinkt Turpan, unsere nächste Station, schon mal in einer dichten Staubwolke. Dass dennoch ein Großteil des chinesischen Obsts und Gemüses in dieser Region produziert wird, ist einem ausgeklügelten Bewässerungssystem zu verdanken, das Schmelzwasser aus den nördlichen Gebirgen durch von Menschenhand angelegte Tunnel transportiert und Verdunstungsverluste auf diese Weise minimiert. Und so bersten die Straßenstände schier vor diversen Melonenarten und ergänzen damit den Speiseplan, auf dem vorwiegend Hammelfleisch zu stehen scheint. Schon vor tausenden von Jahren siedelten Menschen in diesem fruchtbaren Landstrich, wie eine zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörende Ruinenstadt nahelegt. Genauso wie die Höhlenmalereien in den Feuerbergen war sie buddhistisch geprägt, ehe der Islam Einzug in das Land hielt.
Wirklich einprägsam ist eine Reise erst, wenn auch die Fortbewegung zum Erlebnis wird. Zusammen mit einer großen Gruppe Einheimischer und Wanderarbeiter bestiegen wir also einen doppelstöckigen Schlafbus, der uns in 25 Stunden nach Kashgar im Südwesten bringen sollte. Kaum hatten wir es uns in den eineinhalb Meter langen Betten und den Eierschalen unserer Vorgänger bequem gemacht, da verbreitete sich ein unangenehm penetranter Geruchscocktail aus Knoblauch und Käsefüßen – zusammen mit der unzuverlässigen Klimaanlage und den direkt über uns schallenden arabischen Rhythmen geradezu ein Schrei nach Vergeltung. Die rohen Knoblauchzehen, mit denen wir nach dem Frühstück unseren Mitfahrern Paroli bieten wollten, ließen diese jedoch gänzlich unbeeindruckt.
Kashgar immerhin entschädigte für vieles. Wenig erinnert hier noch an die Volksrepublik: Auf den Straßenschildern dominiert arabische Schrift und statt Reis zählen Nudeln und Brot zu den Grundnahrungsmitteln; auf den unübersichtlichen Basaren bieten verschleierte Frauen ihre Waren feil. Immer wieder kehrten wir zwischen unseren Ausflügen an diesen Ort zurück, wo der Kaffee und der Joghurt im Restaurant „Mammut“ sowie stundenlanges Kartenspielen in einem verfallenen Teehaus unvergesslich sind. Ebenfalls in Erinnerung bleiben wird uns der durchdringende Gestank nach Urin in der Eingangshalle des Krankenhauses, in dem wir den Arzt Kahar trafen. Als entfernter Bekannter von Philipps amerikanischem Lehrerkollegen half uns dieser, einen Kameltrip in die Taklamakan-Wüste zu planen, sodass wir zwei Tage später mit einem Kameltreiber unsere schaukelnden Reittiere auf meterhohen Dünen navigierten. Von der windgeschützten Warte unseres Nachtlagers aus genossen wir – zum ersten Mal in China – den Sternenhimmel und absolute Stille.
Eine gänzlich andere Szenerie bot sich uns auf dem zweiten Ausflug entlang des Highways Richtung Pakistan. In 3500 Metern Höhe liegt, umringt von schneebedeckten Gipfeln, der Karakul-See. Nachdem wir die Nacht unter je sieben schweren Decken in einer Jurte verbracht hatten und wider Erwarten kein Bus kam, ließen wir uns von einem Angehörigen der dortigen ethnischen Minderheit auf Motorrädern zu seiner Behausung verfrachten, wo wir uns an einer Schüssel mit frischem Milchtee aus Yak-Milch die Hände wärmten. Zum Essen gesellten sich weitere Familienmitglieder hinzu, mit denen wir ein Reisgericht und den ebenfalls aus Yak-Milch zubereiteten Joghurt teilten.
Als Anhalter ergatterten wir Plätze in einem vorbeifahrenden Bus, der uns in die letzte Stadt vor der Grenze zu Pakistan brachte. Hier aber wurden wir mit einer absurden Situation konfrontiert: Keines der zahlreichen Hotels besaß die Zulassung, um ausländische Gäste aufnehmen zu dürfen; abgewiesen wurden wir jedoch stets mit dem Hinweis, es sei kein Zimmer mehr zu vergeben. Da es nicht einmal Parkbänke gab, auf denen man die Nacht hätte verbringen können, traten wir mit einem inoffiziell als Taxifahrer operierenden Privatmann und zwei Chinesen die Rückkehr an. Froh, den chaotischen Tag mit einer ruhigen Fahrt beenden zu können, entspannten wir uns in den Sitzen. Doch wie sich herausstellte, war die Fahrt so ruhig nicht.
Trotz seines sportlichen Fahrstils kramte der Fahrer ein größeres Paket hervor und wählte die darauf notierte Handynummer. Offenbar kam es zu einer Vereinbarung, denn kurz darauf wendete er abrupt und hielt am ausgemachten Straßenschild. Während wir Insassen mutmaßten, es handele sich möglicherweise um Plutonium aus dem Nachbarland, näherte sich ein unbeleuchtetes Fahrzeug aus dem unwegsamen Gelände abseits der verlassenen Straße. Ungeduldig stieg unser Fahrer aus, um mit dem Neuankömmling zu verhandeln, jedoch ohne Erfolg. Über den Preis war man sich uneins, sodass es nicht zu einer Paketübergabe kam und der inzwischen ärgerlich gewordene Fahrer wieder aufs Gaspedal drückte. Unser Schmunzeln ob dieser Situationskomik entgleiste nur wenig später, als ein massiger Schemen (ein Kamel!) im Lichtkegel der Scheinwerfer erschien und wir einer Kollision nur um Haaresbreite entgingen. Mangelte es unserem Fahrer an Sehkraft? Offenbar nicht, zumindest erspähte er zwei einsame Wanderarbeiter in der stockfinsteren Nacht und stoppte neben ihnen. Zum Glück für uns gab es auch dieses Mal Uneinigkeit in der Preisfrage und so musste der ohnehin voll beladene Geländewagen nicht noch zwei weitere Passagiere aufnehmen. Fast hätten wir alle Hoffnung aufgegeben, doch um drei Uhr morgens erreichten wir unser Ziel. Hier allerdings wiederholte sich unerklärlicherweise die Serie von Absagen an den Hotels, sodass wir erst zwei Stunden später in einem überteuerten Zimmer zur Ruhe kamen.
Da wir für unseren Rückflug nach Ürümqi zurückkehren mussten, kontaktierten wir über Philipps weites Beziehungsnetzwerk einen weiteren Arzt in der Stadt, der uns allerdings „nur“ seinen Assistenten Jason schicken konnte. Obwohl es uns an jeglicher persönlicher Verbindung zu ihm mangelte, bot er sich an, uns den uigurischen Stadtteil zu zeigen und fachsimpelte mit uns bei einem köstlichen Essen (das er bezahlte) über die deutsche und die italienische Fußball-Liga. Bei einer Schale „Crazy Iced Joghurt“ gelang es ihm, uns auch mit dieser Stadt zu versöhnen – wenngleich unser schlechtes Gewissen angesichts einer solchen Gastfreundschaft ins Unermessliche wuchs.